Ein befreundetes Paar hält im kleinsten Raum seiner penthouseartigen Wohnung eine Ameisenkolonie. Die Insekten leben in einem Formikarium, einer Konstruktion aus Glasbehältern und Töpfen, gefüllt mit Sand und verbunden durch Röhren, die an der Wand gegenüber der Toilettenschüssel befestigt ist. Sie haben mit einer Königin, ein paar Männchen für die Befruchtung und etlichen Arbeiterinnen angefangen.
»Die haben wir vor drei Jahren im Internet bestellt. Jetzt umfasst unsere Kolonie schon ungefähr hundertfünfzig Ameisen«, erzählte mein Freund bei seiner Geburtstagsparty. Der Wohnraum bot einen Quasipanoramablick auf das dunkle Brüssel. Irgendwo in der Nähe explodierte ein Knallfrosch.
Eine halbe Stunde später pinkelte ich gegenüber dem Behälter mit den unterirdisch gegrabenen Gängen. Auf dem Fußboden, unter dem Terrarium, lag ein Stapel alter Zeitschriften, obenauf eine Weekend Knack mit der Schlagzeile: »Die Geschichten hinter 2016«. Untertitel: »Tage des Terrors«. Über dem Stapel, in dem mit Sand gefüllten Glasbehälter, liefen Ameisen hin und her.
Tags und nachts, feiertags oder wochentags: Sie sind stets pflichtgetreu zugange, immer auf Erkundung aus.
In einem Teil des Terrariums war erst vor kurzem ein Wattebausch mit Zuckerwasser ausgelegt worden. Dort hatten sich Dutzende von Ameisen versammelt, ungeduldig, als wäre es eine große Torte, die noch angeschnitten werden müsste. Eine Ameise nahm das erste kleine Wattestück auf den Rücken und schleppte es woanders hin.
So läuft das bei Ameisen: Die Arbeiterinnen verteilen die Aufgaben. Es gibt nicht nur Nahrungssammlerinnen, sondern auch Kundschafterinnen, Nestpflegerinnen, Ammen und Soldatinnen. Die Soldatinnen sind im Übrigen keine Kämpferinnen, sondern Gräberinnen.
Ich ging näher heran, das Gesicht dicht an der Scheibe. Auge in Auge mit dem fachmännisch watteschleppenden Tierchen spürte ich erst, wie betrunken ich war.
Ich ging wieder nach unten zurück. Die Schüssel Schokoladenmousse, die ich ein paar Stunden zuvor dilettantisch auf dem Fahrrad hierher geschafft hatte, war gerade auf den Tisch gekommen.
»Wollen die Ameisen nie ausbrechen?«, fragte ich das Paar.
»Wenn sie ausbrechen wollen, dann ist das ein Zeichen dafür, dass sie hungrig sind oder sich langweilen.«
»Aber haben sie denn genug Platz?«, fragte jemand anders.
»Ameisen können exakt abschätzen, wie groß ihr Lebensraum ist. Darauf stellen sie sich ein. Sie werden sich nicht ausbreiten, wenn sich herausstellt, dass der Raum zu klein ist.«
Draußen ertönte ein lauter Knall, das Gespräch verstummte. Die Wohnung wurde von einem flackernden Lichtschein erhellt. Wir stellten unsere Gläser ab und sprangen auf, um zu schauen, was los war.
Am Terrassengeländer versammelt sahen wir, dass unten auf der Straße ein Auto in Flammen stand, ungefähr sechs Meter vom Haus entfernt. Große schwarze Rauchwolken stiegen auf. Ein paar Jugendliche machten sich gerade davon. Das Feuer griff rasch auf einen zweiten Wagen über, die Flammen wurden größer – ein zweiter lauter Knall.
»Die haben wahrscheinlich einen Böller in den Auspuff gesteckt«, sagte jemand.
Ich dachte an die Ameise mit dem Wattestück. Ob sie auch gerade überrascht war vom Knall? Hatte sie irgendeine Ahnung davon, was hier vor sich ging? Erschütterungen, Geräusche, der Geruch von Angst?
Unten auf dem Platz hatte sich inzwischen eine ganze Gruppe Männer eingefunden. Aufgeregt umkreisten sie das Feuer, die Handys vorgestreckt.
Eine Freundin, die neben mir stand, legte den Arm um mich. Sie zitterte.
Ich hoffte, dass da oben, im All, jemand auf der Toilette saß und uns beobachtete. Dass der sich ebenfalls vorbeugen würde, um uns besser betrachten zu können, und zumindest ein wenig Pflichtbewusstsein erkannte.
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen