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LASTESIS – Die These als Performance

Zum diesjährigen Weltfrauentag veröffentlicht das feministische Performance-Kollektiv LASTESIS das Manifest »Verbrennt eure Angst«. Die Übersetzerin und Südamerika-Expertin Karen Genschow hat sich ihre Symbol gewordene Intervention »Un violador en tu camino«, die 2019 um die ganze Welt ging, genauer angesehen.

Karen Genschow
© Karen Genschow

Ende 2019 ging eine Performance um die Welt, die man sich vor dem Weiterlesen noch einmal vor Augen führen sollte: https://www.youtube.com/watch?v=aB7r6hdo3W4.

Massenansammlungen von Frauen, von Brasilien über die Türkei bis nach Indien (eine vollständige Liste der Länder findet sich im spanischen Wikipedia-Eintrag: »Un violador en tu camino«), führten mit verbundenen Augen eine Choreographie auf, begleitet von einem Kampfruf, der – übersetzt – diese Zeile enthält: »Und es war nicht meine Schuld, nicht wo ich war, nicht was ich trug. Der Vergewaltiger warst du.« Das Original dieser Performance stammt aus Chile, genauer aus der Hafenstadt Valparaíso, wo die Performance am 20. November zum ersten Mal aufgeführt worden war. Innerhalb weniger Tage wurde »Un violador en tu camino« im ganzen Land an unterschiedlichen neuralgischen Punkten (vor Kommissariaten, dem Präsidentenpalast, dem Tribunal, im Estadio Nacional) vielfach präsentiert.

Kurz zuvor, im Oktober 2019, hatte in Chile eine gigantische und langanhaltende Protestbewegung ihren Anfang genommen (die erst durch die Pandemie an Kraft verlor). Man muss sie als Spätfolge der 17 Jahre andauernden Militärdiktatur (1973-1990) verstehen, vor allem der damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen, die bis heute nie grundlegend behoben wurden. Auslöser für die Ereignisse im Oktober war zunächst die Erhöhung des U-Bahntickets um 30 Pesos und in der Folge der Zynismus der rechtsgerichteten Regierung des Unternehmers Sebastián Piñeras. Dessen Verkehrsminister empfahl der Bevölkerung, früher aufzustehen, um in den Genuss des günstigeren Ticketpreises zu kommen. Dieses unmissverständliche Zeichen für die – auch anderswo auf der Welt zu beobachtende – Entfremdung zwischen Politik und Volk brachte das Fass zum Überlaufen. Der kollektive Wutausbruch über jahrzehntelange Ungerechtigkeit in der Heimat und Hochburg des Neoliberalismus Chile (mit Privatisierungsorgien, um hier einen derzeit beliebten Begriff einmal in angemessenerer Weise zu verwenden) war begleitet von einer nie da gewesenen Aufbruchstimmung, in der soziale und politische Veränderungen hin zu größerer Gerechtigkeit plötzlich erreichbar und greifbar erschienen.

In diesem gesellschaftlichen Klima fiel die Performance des Kollektivs LASTESIS, das aus vier jungen Frauen aus Valparaíso besteht, auf fruchtbaren Boden. Zudem war die Gewalt gegen Frauen auch bei Verhaftungen im Zuge der Proteste in Chile plötzlich wieder überaus virulent und sichtbar geworden, vor allem in Form von exzessiver und auch sexualisierter Polizeigewalt. Die Performance von LASTESIS bezieht sich jedoch nicht allein auf die polizeilichen Gewaltexzesse im Rahmen der Proteste und nicht einmal nur auf die Gewalt gegen Frauen in Chile und Lateinamerika – wo der Protest dagegen viel präsenter ist als in Mitteleuropa beispielsweise. Sie bezieht sich auf die Gewalt gegen Frauen als strukturelle, mit dem Patriarchat einhergehende Erscheinung, die praktisch omnipräsent ist. Wesensmäßig ist die Gewalt gegen Frauen zudem mit der Gewalt sozialer Ungerechtigkeit verwandt; beide gehen häufig Hand in Hand, auch wenn sie jeweils unterschiedliche Namen tragen – Neoliberalismus und Patriarchat –, wie u. a. die argentinische Anthropologin Rita Laura Segato herausgearbeitet hat, auf deren Texten die Performance des Kollektivs mitunter gründet.

Als politische und künstlerische Intervention, die sie ist, bedient sich »Un violador en tu camino« mehrerer Zeichensysteme gleichzeitig. Die sprachliche Ebene ist dabei wohl am einfachsten zu deuten, da der Text unmissverständlich und klar ist:

Das Patriarchat ist ein Gericht, / wir sind verurteilt durch Geburt, / und unsre Strafe / ist die Gewalt, die du nicht siehst. / (…) / Es ist Femizid. / Mein Mörder kommt straffrei davon. / Dass man uns verschwinden lässt. / Die Vergewaltigung. / Und es war nicht meine Schuld, nicht wo ich war, nicht was ich trug. / (…) / Der Vergewaltiger warst du. / Der Vergewaltiger bist du. / Es sind die Bullen. / Die Richter. / Es ist der Staat. / Der Präsident. / Der repressive Machostaat vergewaltigt uns mit jeder Tat.

Lediglich die letzten Zeilen erschließen sich nicht unmittelbar: »Unschuldig‘ Mädchen, schlaf ruhig ein, / hab keine Angst vor dem Verbrecher, / deinen Schlaf, so hold und rein, / beschützt dein lieber Freund und Helfer.« Es handelt sich hier um Zeilen aus der Hymne der militärischen Polizei von Chile (Carabineros), die im Kontext des Liedes eine vollkommen andere Bedeutung gewinnt und als ironische Referenz auf die weit verbreitete Polizeigewalt – auch gegen Frauen – zu verstehen ist.

Die Choreographie enthält wiederum einige erklärungsbedürftige Elemente. Zunächst sind die verbundenen Augen ein deutliches Zitat einer während der Diktatur gängigen Praxis der Entführung politischer Gegner. Häufig tragen die Frauen auch das grüne Halstuch, das über den gesamten lateinamerikanischen Kontinent zu einem Symbol für die Forderung nach sexueller Selbstbestimmung, d. h. vor allem nach dem Recht auf Abtreibung, geworden ist. Die Kniebeugen zitieren jene Akte polizeilicher Willkür, bei denen Verhaftete auch im Kontext der Proteste gezwungen worden waren, Kniebeugen zu machen, schlicht als Form psychischer Gewalt mit dem einzigen Ziel der Demütigung.

Die Resonanz in den sozialen Medien war immens und leider – so zumindest ein sehr subjektiver Eindruck – auch hin und wieder von Missverständnissen geprägt. Die z. B. auf Facebook geposteten Videos der Performance wurden immer wieder von männlichen Usern empört kommentiert, die sich qua ihres Geschlechts zu Unrecht beschuldigt sahen. Das grundlegende Missverständnis besteht dabei darin, dass die Zeile »El violador eres tú« (»der Vergewaltiger bist du«) zusammen mit dem ausgestreckten Zeigefinger nicht als konkrete Beschuldigung gegen einen bestimmten individuellen Mann aufzufassen ist, sondern dass hier ein »du« als generischer Mann, d. h. als strukturelle Position, gemeint ist – die natürlich in der Realität von individuellen Männern verkörpert wird, aber eben nicht von allen. In jedem Fall ist das »du« im Gegensatz zu dem sprechenden »ich« zu verstehen, welches hier – ebenso strukturell – als wehrhaftes Opfer auftritt, so dass es insgesamt um die klare Zurückweisung der Schuld seitens der Opfer geht.

Zum Abschluss zwei Beobachtungen, über die es lohnen könnte, noch weiter nachzudenken: Dass die Performance von Chile aus im wörtlichen Sinne um die Welt gereist ist, deutet darauf hin, dass die Problematik der Gewalt gegen Frauen eine nahezu universelle ist, eine so offensichtliche wie erschütternde Schlussfolgerung. Im Zusammenhang mit »Un violador en tu camino« wäre noch eine weitere musikalische Intervention zu nennen, die sich etwa zeitgleich wie ein Lauffeuer über die sozialen Netzwerke verbreitet hat: »Canción sin miedo«, das »Lied ohne Angst«, ein kämpferisches musikalisches Statement gegen Femizid – das Video dazu lässt bei vermutlich jeder/m Hörer/in augenblicklich Gänsehaut entstehen: https://www.youtube.com/watch?v=VLLyzqkH6cs

Beide Interventionen sind als politische Statements zugleich ein Hoffnungsschimmer, weil sie zeigen, dass auch der Widerstand gegen alle Formen von Gewalt gegen Frauen wächst.

Zugleich ist der Tatbestand unübersehbar, dass der Ort des Widerstands sich außerhalb der Universität befindet – auch das ist vielleicht nicht überraschend –, selbst wenn sich das Kollektiv LASTESIS nennt. Das führt in aller Deutlichkeit vor Augen, dass akademische Wissensproduktion wenig Mobilisierungspotenzial hat und selten (und immer weniger) aus den Hörsälen hinausdringt. Die Übersetzung in eine Performance erscheint damit geradezu als Bedingung für die Transzendenz akademischer Reflexion. Insofern sollten wir hoffen, dass die nächste Performance von LASTESIS (oder anderen Gruppen) nicht mehr allzu lange auf sich warten lässt.

 

Karen Genschow arbeitet als Dozentin für romanistische Literaturwissenschaft und Didaktik an der Goethe-Universität Frankfurt sowie als freie Autorin und Übersetzerin.

Karen Genschow arbeitet als Dozentin für romanistische Literaturwissenschaft und Didaktik an der Goethe-Universität Frankfurt sowie als freie Autorin und Übersetzerin.

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