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Bilanz nach einem Jahr in der Pandemie

Marie Pohl zieht Bilanz nach einem Jahr in der Pandemie: Was hat sich geändert? Was blieb gleich? Wie leben wir zusammen?

Liebste Antje,  

 

Montag, 22.März… Noch immer März? Oder schon wieder März? Die neue Zeitwahrnehmung... Die neue Zeitrechnung? Man könnte 2020 umtaufen auf  das Jahr C – 0. In gewisser Weise wäre es an der Zeit, denkst du nicht, die Zeitrechnung zu revolutionieren?

Wir schreiben weltweit 2021. Seit Zweitausendeinundzwanzig Jahren zählt die Menschheit im Einklang eins, zwei, drei, vier Jahre. Warum? Zählen wir seit dem Tag, an dem der erste Mensch gesichtet wurde? Von einem anderen ersten Menschen etwa? Oder vielleicht seit der Entstehung unseres Universums?

Nein. Wir zählen, alle wissen es, alle tun es, Wissenschaftler, Historiker, Putzfrauen, Schuster, Bäcker, Künstler, Prostituierte, Drogenabhängige, du und ich die Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre seit der Geburt von Jesus Christi. Das macht Sinn, wenn man Christ ist. Aber was hat ein Buddhist aus Nepal mit Jesus am Hut?

Gab es vor Jesus keine Zeit? Oh doch. Die Christen haben dafür eine wunderbare Lösung erfunden. Die Trilliarden hoch Trillionen Jahre, die Unendlichkeit vorher wird rückwärts gezählt. Griechen. Maya. Inder. Chinesen. Der älteste Menschenschädel in Afrika. Steinzeit. Eiszeit. All das wird rückwärts gerechnet.

Die Christen haben nicht jeden ihrer brutalen Religionskriege gewonnen, aber immerhin die weltweite Zeitrechnung begründet. Selbst die Juden, die das Jahr 5781 zählen, müssen auch im Computer 2021 anklicken sonst geht ihr Internet nicht. Die Weltuhr tickt im Rhythmus des belehrenden Christentums. Könnte nicht die weltumspannende, weltbetreffende, weltvereinende Covid-Pandemie dazu inspirieren, der Welt endlich eine neue Zeit zu schenken?

 

Gedanken in den Abendstunden.

 

Hanna Schwarz, die Opernsängerin sagt: »Zeit gibt es nicht.«

Als ich das Zitat von Tom Waits auf Facebook stellte, »Zeit ist Erinnerung gemischt mit Sehnsucht... time is just memories mixed with desire« , wendete sie ein, »Zeit gibt’s nicht.«  Das sagt eine Opernsängerin, die, von Orchestern begleitet, nach strengen Takten singt.

 

Ich habe viel darüber nachgedacht. Die Frage der Zeit. Ich glaube, Hanna hat Recht. Zeit gibt’s nicht. Dennoch be-rechnen wir sie. Eifrig.

 

Ein Jahr ist vergangen seit dem Ausbruch der Pandemie, ein Jahr seitdem mein »Brief an Julia« veröffentlicht wurde, worin ich meine Eindrücke aus New York schilderte. Soll ich wieder einen Brief schreiben, erinnern, reflektieren, rückwärts blicken auf das Covid19-Jahr?

 

Mir wird schwindelig bei dem Gedanken. Einen Brief? Eher einen Roman. Selten habe ich so viel erlebt in New York wie in diesem einen Jahr. Erst heulten die Krankenwagen durch die Straßen, dann die Proteste begleitet von Polizeiautos und Hubschraubern, im Juli die Feuerwerke, den ganzen Juli lang, Feuerwerke jede Nacht, dann im November die Wahlen… Die Nachrichten jagten uns von einem Tag in den nächsten. Einen Brief? Um all das zu beschreiben, was meine unbewaffneten Augen gesehen haben? Unbewaffnet gegen die Ungewissheit, gegen diesen Grauton unserer Zeit. Man weiß nicht, was wird. Man weiß nicht, was ist. Man weiß nicht recht, was eigentlich war.

 

… Meine Schwester hat grad angerufen. Letzten März liefen wir zusammen durch das zugesperrte New York. Kurz hinter dem menschenleeren Times Square eilte uns eine Frau entgegen. Ihre Haare waren vom Wind zerzaust und ihr Gesicht von Panik verzerrt. Sie blieb vor uns stehen. Meine Schwester und sie waren Klassenkameraden in der High School gewesen. Sie hatten sich seit zig Jahren nicht gesehen. Hi. Hallo. Die Begegnung war kurz. Sie  flatterte davon wie eine zerfranste Tüte im Wind. Pünktlich ein Jahr später, ich sitze hier am Schreibtisch, ruft meine Schwester an und sagt, sie hat gerade wieder diese wie von Edvard Munch gemalte Panik-Frau auf der Straße getroffen. Das Covid-Gespenst.

 

Was heißt das? Geht jetzt alles nochmal von vorne los?

Oder schließt sich der Kreis?

 

Ach Antje, es gibt so viel zu berichten. Mal schauen, was ich in diesem Brief unterkriege und vor allem, ob ich dazu komme dir mein Lieblings Erlebnis zu erzählen, als mich zwei Eulen in den Bergen zu einer Schatzkammer führten...

 

Wo fange ich an?

 

Am besten heute. Am besten direkt vor der Haustür.

 

Montag, 22.03.2021. Ab heute dürfen in den Gyms wieder Gruppenstunden unterrichtet werden. Yoga und dergleichen. Mit gesonderten Covid-Maßnahmen, versteht sich. Sauberkeitsregeln, die sowieso jedes Sportzentrum einhalten sollte, wie Raum und Geräte abwischen nachdem da kräftig geschwitzt wurde. Im April werden kleine Theater und Musikclubs wieder geöffnet. Es fehlen noch Broadway, Oper und Aufhebung des Einreiseverbots für Europäer. In der High School bei mir gegenüber sollen ab Mai die Schüler wieder ein- und ausgehen, sollen...

 

Heute Morgen gab ich einem 15-jährigen Mädchen Nachhilfeunterricht in Spanisch. Auf Zoom. Das tue ich immer montags. Daher weiß ich, dass Montag ist. Ich fragte sie, was sie letzte Woche im Spanischunterricht in der Schule gelernt hat.

-  Nichts Neues.

-  Gar nichts Neues?

- Nein, der Lehrer war zu Hause beschäftigt. Er hat die Stunde früher abgebrochen.

- Hat er selber Kinder, um die er sich vielleicht kümmern muss?

-Ja. Ich hab die sogar paar mal gesehen, als sie während des Unterrichts in sein Zimmer kamen.

-Aha.

 

Wir übten Zahlen. Das mag sie. Eins bis Tausend. Ich gab ihr Matheaufgaben. Simple Fragen. Was ist 1000 minus 485? Auf Spanisch. Ich wollte, dass sie die Zahl 515 übt. Weil die 500 der 15 ähnelt. Damit sie es sich merken kann. Sie konnte nicht die Summe im Kopf ausrechnen. Ich war total baff. Sie ist in der zehnten Klasse und kann nicht 1000 minus 485 im Kopf ausrechnen. Sie wollte zum Handy greifen. »Nein«, rief ich. »Versuch es einfach.« Wir übten. Eine Stunde lang. Sie wurde immer besser.

»Kopfrechnen ist wie Gehirntraining«, erklärte ich ihr. »Das Gehirn ist ein Muskel und den kann man trainieren. So wie dein Vater mit mir die Muskeln in meinen Armen trainiert.«

Ihr Vater gibt mir Trainingsstunden via Zoom. Das ist unser Tauschgeschäft. Personal Training gegen Spanischunterricht.

Am Wochenende war sie mit ihm einkaufen, weil er gerade umgezogen ist. Viele Leute sind während der Pandemie umgezogen innerhalb von New York. Die Mieten wurden etwas billiger. Es gibt mehr Platz für die New Yorker, für die, die geblieben sind, weil diese Stadt ihr Zuhause ist.

New York ist leerer ohne Touristen. Vor allem nachts. Aber nicht ausgestorben. Die Zeitungen schreiben, New York ist tot. Ich lebe noch und mit mir noch einige Millionen mehr...

 

»Ich vermisse meine Freunde«, beichtete meine Schülerin. Sie geht kaum raus. Seit einem Jahr immer nur zu Hause. Sie beschäftigt sich mit ihren Haaren. Sie ist Afro-Amerikanerin und hat das dicke, wilde Haar. Etliche Haar-Stile hat sie sich angelernt. Immer zu Hause. Entweder bei der Mutter. Oder beim Vater. Wenn sie von einem zum anderen geht, muss sie sich testen lassen.

Ich freue mich, wenn bald die High School die Kinder vor meinem Haus nach 15 Uhr auf die Straße hinaus spült, nachdem der Schulstunden-Damm gebrochen ist. Frei und wild und fröhlich. Ich hoffe so sehr, dass die Schulen wirklich bald öffnen.

 

Momentan wird die High School als Impfzentrum genutzt. Letzten Sonntag traf ich dort einen älteren Herrn, einen Griechen, der in der Schlange stand und fror. Nach zwei warmen Tagen hatte er die Kälte unterschätzt, die sich im Frühling so gern einmischt und mitredet, obwohl man sie gar nicht gefragt hat! Ich kam mit Einkaufstüten des Weges. Der Grieche hielt mich an. Ob ich einen Laden wisse, wo er sich schnell einen Pullover kaufen könne. Ich brachte ihn zu David Owens Vintage Shop, einem ulkigen Second Hand Laden ums Eck.

 

David, der Besitzer, stand im Schaufenster und tauschte gerade einen Pelzmantel mit einer geblümten Samtjacke aus. Pelze sind Davids Haupteinkommen. Schöne Pelze. Einen mag ich ganz besonders. Ein Silberfuchsfell aus den 40ern. Er hat die Preise reduziert. 200 Dollar ist er im März runtergegangen. Von 500 auf 300. Für alle Pelze. Es gibt Leute, die auf Pelzmäntel aggressiv reagieren. David erklärt ihnen ruhig und gelassen, in seiner sonnig Art (er kommt aus Kalifornien), dass die Mode der Umwelt mehr schadet als jede andere Industrie. Gebrauchte Pelze sind tierfreundlicher als nagelneue Daunenjacken mit hochkarätigen Wetterschutz-Bezug. Auch viel wärmer.

Der Grieche will aber keinen Pelzmantel. Er will einen Pullover. David hat nicht so viel Auswahl. Einen knallroten Wollpullover mit einem Schneemann drauf. Ein Weihnachtsrest. Unten am Saum ist eine lange abstehende Stoffkarotte angenäht. Also da, wo die »Beine« vom Schneemann sind. Eine Anspielung auf... Nein, so will der Grieche nicht zum Impftermin mit Weihnachtspullover und abstehendem Stoffkarotten-Pimmel. Die zweite Möglichkeit ist eine grün braun karierte Strickjacke aus den 50ern. Die sieht dem Griechen zu bayrisch aus. Vielleicht den Disco Pullover aus den 80ern? Der Grieche ist verzweifelt. David dreht den Kopf Richtung Pelzmäntel. Nein, wiederholt der Grieche, »Ich kaufe doch im März keinen Pelzmantel. Außerdem trage ich sowas gar nicht.«

Wir stehen alle da. Ratlos.

Bei den Damen findet David einen grauen Kaschmirpullover. »Ich trage keine Frauen Pullover«, knurrt der Grieche.

»Er ist außergewöhnlich groß geschnitten. Probieren Sie ihn einfach mal.«

Zögerlich zieht der Grieche den Pullover über und der passt auch — mehr oder weniger. Ein bisschen zu weit, aber warm und grau und ohne Stoffkarotten-Pimmel. Davids Handschrift auf dem Preisschild ist undeutlich. 45 Dollar. Denkt der Grieche. Aber die 4 ist eine 9. Zähneknirschend bezahlt er 95 Dollar für einen getragenen, grauen Frauen Pullover und eilt zurück zur High School, um seinen Impftermin nicht zu verpassen.

»Du schuldest mir eine Kommission, ich hab dir den Kunden schließlich gebracht.« David schenkt mir zwei Cupcakes. »Zehn Prozent«.

Weihnachten kaufte ich für meine Schwester ein Geschenke bei ihm.

»Du kaufst immer nur für andere Leute«, sagte er, »Warum nichts für dich?«

»Es ist Weihnachten!«

Da schenkte mir David ein Paar Ohrringe. Es rührte mich zu Tränen. Meine Eltern in Europa. Meine Schwester mit ihrem Freund auf dem Land. Ich hier allein. Weihnachten in New York ohne meine Familie während der Pandemie. Am nächsten Tag schenkte ich David ein Buch von F. Scott Fitzgerald. Tales of the Jazz Age. Weil bei ihm immer der Jazz Sender im Radio läuft. Eine Woche später konterte David mit Hemingways Paris Memoiren. »Weil er hier von Fitzgerald erzählt.«

Seitdem werfen wir uns die Bälle hin und her. Ich bringe ihm ein Stück von dem guten Ricotta-Käsekuchen, den ich in Little Italy gefunden hab. Ein Paar Tage später winkt mich David von der Straße in den Laden rein. Er hat mir ein Tamal aufbewahrt, eine Art Roulade aus Zentralamerika: Maisteig mit Fleisch oder Gemüse gefüllt, in Bananenblätter eingewickelt und gekocht. Eine Frau verkauft handgemachte Tamale aus ihrem kleinen Einkaufswägelchen, das sie Samstagmorgens durch die Lower East Side fährt.

Ich weiß nicht, wie alt David ist. Er hat weiße Haare und geht langsam. Vielleicht ist er 70? Ich frage ihn nicht. Er schwimmt jeden Morgen. Und hat trotzdem Knieschmerzen.

»Wie steht’s, David?« Ich beiße in meinem Cupcake.

»Nicht gut. Nicht gut.«

»Wegen dem Knie?«

»Du siehst doch! Kein Mensch hier.«

»Aber der Grieche hat doch gerade einen Pullover gekauft.«

David holt einen Aktenordner raus und legt ihn auf die Glasvitrine, die ihm als Tresen dient. Er nimmt ein neues Blatt Papier und schreibt per Hand das heutige Datum auf die linke Seite. Dann notiert er: Kaschmir Pullover. 95 Dollar.

Mehr hat er heute nicht eingenommen.

Davids Laden ist seit Juni 2020 wieder offen. Er war nur in den drei schlimmen Monaten, April, März und Mai geschlossen. Früher hat er mindestens 7000 Dollar die Woche verdient. Jetzt ist er mit 2000 gut dabei. Dank seiner Pelzmäntel. Er zahlt keine Ladenmiete. So überlebt er.

 

In New York liegen die Mietschulden bei über einer Milliarde Dollar. Auch meine japanische Nachbarin, die Malerin, zahlt seit März 2020 keine Miete mehr. Bis Mai gilt der Covid-Kündigungsschutz. Er wurde gerade im Januar das dritte Mal verlängert. Meine Nachbarin glaubt, er wird noch bis September ausgedehnt. Bis dahin erhalten viele Amerikaner auch Arbeitslosengeld. Was dann wird, weiß niemand. Grauzone.

Meine Nachbarin lässt die Dinge auf sich zukommen. Sie nennt die Pandemie die Gute Depression, The Good Depression. New York hat’s gut getan, meint sie, die Bremse zu ziehen, anzuhalten, der rasende Wagen hätte sich sonst vielleicht noch überschlagen. Sie schuldet dem Finanzamt knapp Hunderttausend Dollar Steuergeld. Trotzdem ist sie gut gelaunt.

Als die Pandemie ausbrach, war sie ängstlich. Sie verließ die Wohnung nicht. Ich sah sie vier Monate nicht einziges Mal. Wir telefonierten nur, obwohl wir im selben Haus leben. Mit meinem anderen Nachbar, ein Spanier und Biologe, traf ich mich auf dem Dach. Er studierte jeden medizinischen Artikel und hinterfragte das Virus, und die Handhabung der Staaten mit ihren Lockdowns.

Und was passierte?

Seine Familie, seine Mutter, sein Vater, seine Neffen, erkrankten alle an Covid und mussten im Krankenhaus behandelt werden. Im Januar flog er zu ihnen nach Südspanien. Mittlerweile hat meine japanische Nachbarin ihre Haltung geändert. Sie denkt, es ist alles halb so wild, das Virus gar nicht so schlimm und sie will sich nicht impfen lassen.

 

Vielleicht liest du in meinen Zeilen eine lakonische Halbherzigkeit. Ich bin so müde von der Diskussion, wie schädlich das Virus und wie gefährlich die Impfung ist.

 

Meine Großmutter ist an Covid verstorben im Januar. In Deutschland. Sie war gerade 90 geworden. Kam ins Krankenhaus mit einem Lendenwirbelbruch. Man legte ihr eine Frau ins Zimmer, die Covid hatte. Sie steckte sich an. Ein paar Wochen später war sie tot.

 

Die Zeitung meldet auf derselben Seite, dass unser Bürgermeister ab Mai 80000 Beamte zurück in die Büros schickt, weiter unten schildert sie neurologische Schäden bei jungen Covid-Patienten, die erst nur leichte Symptome zeigten und später unter Konzentrationsstörungen litten, nicht mehr richtig sehen, hören, riechen konnten. Was die Regulierungen betrifft, die die Staaten sich ausdenken, um das alles zu handhaben, nun ja, wir müssen damit irgendwie leben. Zum Teil sind sie absurd. Zum Teil gerechtfertigt. Das Debattieren ermüdet mich.

 

Meine japanische Nachbarin lebt komplett digital. Sie bezieht all ihre Informationen von Youtube-Videos, kauft nur online ein, hält den Bildschirm für die einzig spannende Bühne unserer Zeit. Der Schauspieler Jonathan, der letzten März zurück nach Texas zog, spielt auf Zoom Theaterstücke, wenn nicht gerade in Houston der Strom ausfällt...

 

Ich brauche Bildschirmpausen und dann gehe ich David besuchen.

 

David mag keine Masken. Entweder rutschen sie ihm runter oder sie beschlagen seine Brille. Er trägt sie aber. Wenn die Inspektorin vorbeischaut, zeigt er das Thermometer vor, mit dem er bei seinen Mitarbeitern die Temperatur messen soll. David hat nur einen Mitarbeiter, der nur ein Mal die Woche kommt, wenn David in New Jersey neue Vintage-Bekleidung und Pelzmäntel sucht. David trifft alle staatlich vorgeschriebenen Covid-Vorsorgungen. Er ist ein Mensch, der gerne Jazz hört und Manschettenknöpfe sammelt. Politische Debatten interessieren ihn nur peripher. Als im Januar das Weiße Haus gestürmt wurde, blieb er gelassen. »Die amerikanische Demokratie ist stärker als ein Paar Youtube-Fanatiker. Und gegen den Rassismus kämpfen wir hier nicht erst seit Ausbruch der Pandemie.«

Kalifornier eben. Das Meer und die Sonne sitzen ihm tief in der Seele.

Er hatte das Virus letztes Jahr im April. Seine Frau auch. Er blieb symptomfrei. Seine Frau litt an hohem Fieber und Durchfall. Am schlimmsten waren die Nächte, weil sie da immer dachte, dass sie stirbt.

David schüttelt den Kopf.

»Der Gouverneur von New York hat gerade angekündigt, dass Einreisende ab dem 1. April nicht mehr in Quarantäne müssen. Ab dem 1. April! Ausgerechnet morgen fliege ich nach Idaho zu meinem Bruder. Wenn ich wiederkomme, muss ich 3 Tage in Quarantäne. 29., 30., 31. März! So ein Mist.«

 

Unsere Freundschaft begann mit einem Paar roter Schuhe.

 

Erinnerst du dich, liebste Antje, an die Geschichte mit den roten Schuhen? Aus Madrid? Meine allererste Reisegeschichte? Sie steht im Prolog von Maries Reise, die ich dir zu verdanken habe, liebe Antje. Deshalb will ich dir unbedingt diese neue Rote-Schuh-Geschichte erzählen.

Rote Absatzschuhe sind

auf mysteriöse Weise

oft mein Einstieg

in eine Reise.

Auch auf meiner Rumänienreise fand ich ein Paar, dunkelrot, weinrot, weniger glänzend, tiefsinniger, vielleicht das schönste Paar Schuhe, das ich je besessen habe... Aber dazu ein anderes Mal.

 

Als letzten Frühling alle Läden in New York geschlossen waren, entdeckte ich bei David im Schaufenster ein knallrotes Paar Prada-Absatzschuhe. Knallrot und sehr hoch. Sie standen da, hinter dem Rollgitter wie eingesperrt. Ich ging oft vorbei, blieb stehen und träumte. Von einem Tanz in diesen Schuhen. Und vom Reisen.

Im Juni zog David endlich das Gitter hoch und ich eilte sofort hin, um sie anzuprobieren. Und sie passten! 200 Dollar. Das konnte ich mir nicht leisten. David war entzückt davon, wie gut mir die Schuhe standen. Nach drei Monaten ohne Business konnte er sie natürlich nicht reduzieren. Immer wieder kam ich wegen dieser Schuhe zu ihm. Bis ich eines Abends im August mit einem Herren, einem Verehrer, spazieren ging. Wir liefen an dem Schaufenster vorbei. »Guck mal«, sagte ich, »diese Schuhe liebe ich so.« Am nächsten Tag hingen die Schuhe in einer Papiertüte an meiner Wohnungstür.

Kurz darauf traf ich David vor seinem Laden. Er seufzte.

»Marie«, sagte er schweren Herzens, »ein Mann hat heute Morgen die Schuhe gekauft. Ich hab alles versucht sie ihm auszureden, aber er bestand darauf. Jetzt sind sie weg. Jetzt kommst du mich nicht mehr besuchen.«

Ich hätte ganz einfach sagen können: David, ich hab die Schuhe zuhause. Aber ich sagte nichts. Ich weiß nicht warum! Ich weiß wirklich nicht warum. Je mehr Zeit verging desto schwerer fiel es mir, ihm die Wahrheit zu sagen. Nun suche ich seit einem halben Jahr den richtigen Moment.

 

Die Schuhe stehen auf meinem Schreibtisch und lachen mich an.

 

Vor ein paar Wochen lud mich ein Journalist ein, ihn in den Bergen zu besuchen. Er ist, wie ich, auch Reiseschriftsteller. Eine Reise, dachte ich. Die Schuhe blinzelten. Eine kleine Reise? Ja.

Und ich fuhr. Und ich traf dort zwei Eulen, die mich zu einer Schatzkammer führten...

 

Jetzt ist es weit nach Mitternacht. Ich schreibe dir Ostern. Im April. Die Geschichte wird mein Ostergeschenk für dich...

 

Ich umarme dich virtuell, wie man heute sagt.

 

Deine Marie



 

Marie Pohl ist Schriftstellerin, Journalistin, Sängerin und Schauspielerin. Sie wurde in Hamburg geboren, wuchs in New York auf, studierte in Madrid, lebte in Zürich und Köln und wohnt heute in Berlin und New York. Für eine große deutsche Tageszeitung schrieb sie Porträttexte und führte zahlreiche Interviews. Ihr Buch »Maries Reise«, ...

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