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Vom Badeanzug zum Ballkleid

Vor sechs Jahren, am 7. Februar 2016, starb Roger Willemsen. Unsere Autorin Marie Pohl erinnert sich an eine Begegnung bei der Buchmesse und erzählt, wie Willemsens Geist sie auch in New York begleitet.

Die Autorin Marie Pohl sitzt in einem schwarzen Kleid, den Kopf auf die Hände gestützt, die Ellbogen auf die Knie.
© Jeanne Degraa

»Das Leben sollte mit dem Tod beginnen…« Mark Twain

 

2012. Buchmesse. Frankfurt. Ich war mit meinem Reiseroman Geisterreise eingeladen. Manch einer denkt vielleicht, eine Reiseschriftstellerin hat es satt, im Hotel zu wohnen. Ich schlief aber auf meinen Reisen meistens auf Pritschen oder in fremden Wohnungen bei fremden Leuten. Hotels waren ein Luxus, den ich mir selten leisten konnte. Ich freute mich ungeheuer auf eine Nacht in einem Frankfurter Hotel. Bei meiner Ankunft erfuhr ich, dass es dort auch ein Schwimmbad gab und ich freute mich umso mehr. Leider hatte ich keinen Badeanzug dabei. Die Läden waren bereits geschlossen. Nur ein Kaufhaus noch geöffnet… Zu dem Verlags-Dinner erschien ich leicht verspätet mit einer Einkaufstüte.

Am Tisch saß Roger Willemsen. Sein Buch Momentum war gerade erschienen. Der große Reiseschriftsteller, der überall schon gewesen war, den ich verehrte wie Mark Twain und Heinrich Heine. Wir waren uns Jahre zuvor begegnet auf einer Lesung im Literaturhaus in Lüneburg. Man hatte uns beide eingeladen, Willemsen mit seiner Deutschlandreise und mich mit meinem Debütroman Maries Reise. Wir lasen zusammen. Abwechselnd. Erst ich, dann er, dann ich, dann er… Willemsen, der mit seinen Lesungen ganze Konzert-Stadien füllte, spielte mit Pointen und Rhythmen wie ein Weltfußballer. Ich war Anfängerin. Aber ein Paar Tore schoss ich auch und brachte den Saal zum Lachen und zum Staunen. Das gefiel ihm. Er gab mir seine Nummer. Ich solle unbedingt weiterreisen, ihn anrufen, jederzeit anrufen, wenn ich Fragen hätte, oder Hilfe brauchte, er kannte Leute auf der ganzen Welt.

Nun sah ich ihn wieder in Frankfurt. Inzwischen war ich wie er beim S. Fischer Verlag und arbeitete mit dem gleichen Lektor, dem Reiseliteratur-Connaisseur Jürgen Hosemann. Roger Willemsen zog einen Stuhl herbei.

»Was hast du in der Tüte?« Fragte er neugierig.

»Ach, nichts weiter.«

»Da steckt doch eine Geschichte drin!«

Ich musste den Einkauf bis ins Detail beschreiben. Willemsen wollte wissen, wie die Verkäuferin ausgesehen, wie sie geheißen, was sie gesagt, welche Badeanzug-Modelle ich anprobiert hatte. Wir schossen uns die Bälle hin und her. Er konnte Flanken schießen wie Beckham und mit Wörtern dribbeln wie ein Brasilianer. Das Auge aufs Tor gerichtet, auf die Lacher, auf die Schlusspointen. Dabei war er stets ein Teamplayer. Ihm ging es um das Erzählen einer Geschichte, nicht um Selbstverherrlichung.

Er wollte den Badeanzug sehen. Der war kariert – wie ein Tischtuch.

»Nein, den kann ich Ihnen nicht zeigen. Der ist zu hässlich.« Ich siezte ihn. Das Du brachte ich nicht über die Lippen aus Respekt vor seinem Werk und seiner Person.

»Hässlich! Wie wunderbar! Den hässlichen Badeanzug feiern wir heute Abend wie ein Ballkleid!« Er schenkte Wein nach, lachte und freute sich. Roger Willemsen zauberte mit Alltagsmomenten literarische Magie. Das war eines seiner vielen großen Talente. Wir wollten zusammen reisen. Aber am 7. Februar 2016 starb dieser mir unvergessliche Schriftsteller, Sprachkünstler, Intellektuelle, Philosoph, Humorist und Abenteurer...

Todestag. Das Wort Todestag passt nicht zu Roger Willemsen. Zu ihm passen Wörter wie Vitalität, Schaffensdrang, Scharfsinn, Mut, Reiselust, Neugier und Humor. Lauter Lebhaftigkeiten! Dabei konnte er auch leise beobachten. Und so poetisch. So sensibel beschreiben. Sein Werk ist alles andere als tot.

An jenem Abend in Frankfurt sprachen wir auch über Geister. Wenn man die Existenz von Geistern beweisen könnte, würde man auf interessante Gedankenexperimente verzichten müssen. Was uns die Geister über das Diesseits erzählen, interessierte ihn mehr als die Frage, wie es im Jenseits aussieht.

Und gestern besuchte mich Roger Willemsens Reisegeist hier in New York. Kurz nachdem ich die Einladung erhalten hatte, diesen Text zu scheiben, kam ein überraschendes Reise-Angebot. Es war mir, als nähme mich sein Geist an die Hand, um mit mir in meinem Diesseits spazieren zu gehen. Durch die Lower East Side, wo ich gerade herumstreune.

Adrienne Torres formuliert ihre Nachrichten immer sehr höflich. Sie beginnt mit »Liebe Marie« und endet mit »warme, herzliche Grüße, deine Adrienne«. Ihre Textnachrichten sind wie Briefe aus einer vergangenen Zeit. Ich muss mich beherrschen, wenn ich ihr antworte, nicht dem verstümmelten Wort-Ton zu verfallen, der heute so gängig ist.

Sie wollte mir ein Paar Sachen schenken. Von ihrer Nachbarin Lolita. Oh nein, dachte ich. Hilfe! Die Tüten kommen! Aber ich konnte Adriennes Höflichkeit nicht widerstehen. Ich wollte sie nicht verärgern und sagte dankend zu. Um vier Uhr nachmittags würde ich sie und ihren Ehemann Ernesto, den sie mir unbedingt vorstellen wollte, in den Masaryk Towers, einer Plattenbausiedlung bei mir ums Eck besuchen. Ich war noch nie bei ihr zu Hause gewesen. Aber ich spürte Roger Willemsens Neugier wie eine treibende Kraft hinter mir. Geh da hin… rief er mir zu.

Adrienne hatte ich vor der Post auf der 3ten Straße kennengelernt. Bis dato hatte ich sie nur das eine Mal gesehen. Es war ein Tag im Dezember. Die Leute schickten Weihnachtspakete ab. Die Schlange reichte um den halben Block. Adrienne stand direkt vor mir. Sie lehnte an einem Rollator. Das lange schwarze Haar trug sie in einem geflochtenen Zopf. Puerto Ricanerin? Italienerin? Ich schätze sie um die sechzig. Über ihrer Maske flitzten dunkle Augen hin und her, wie die Augen einer Katze.

»Zu wenig Personal.« Ich schüttelte den Kopf.

»Dort steht es!« Sie zeigte auf das Schild im Fenster. ›Mitarbeiter gesucht!‹ Wir schreiben das Jahr der Great Resignation, des Großen Kündigungsstroms, der momentan durch das Land fließt... So kamen Adrienne und ich ins Gespräch, und weil es kalt war draußen und wir eine gute halbe Stunde anstanden, lernten wir uns ein wenig kennen. Sie wohnte in der gleichen Richtung wie ich, und nachdem wir beide unsere Briefe abgeschickt hatten, liefen wir noch ein Paar Blocks zusammen nach Hause.

Mütterlicherseits hatte Adrienne dominikanische und haitianische Wurzeln, ihr Vater war Sizilianer gewesen. Irgendwo gabʼs auch sephardisch-jüdische Vorfahren. Als sie hörte, dass meine Mutter aus Rumänien kam, erzählte sie, ihre Großmutter väterlicherseits war eine Roma. Sie schrieb mir – sehr ausführlich – ihre Adresse, Telefonnummer und E-Mail auf einen Zettel, der am Rand mit Blumen dekoriert war. Wir trennten uns mit dem Versprechen einander wiederzusehen. Weihnachten flirrte vorbei. Silvester. Ein Schneesturm tobte durch New York im Januar. Am 1. Februar erhielt ich Adriennes Nachricht über die Sachen von ihrer Nachbarin Lolita. Eine Stunde vorher hatte Jürgen Hosemann wegen Roger Willemsen geschrieben.

Ich kaufte bunte Mini-Cupcakes und machte mich auf den Weg in die Plattenbausiedlung, die unterhalb der Delancey Street bei der Brücke liegt, der Williamsburg Bridge, die nach Brooklyn führt.

Eigentlich musste ich dringend einen Artikel fertig schreiben. Aber nun reiste ich zu Adrienne in den zehnten Stock. Sie öffnete die Tür in Schlapfen und Schlafanzughose. Das schwarze Haar fiel über ein ausgeleiertes T-Shirt voller Katzenhaare. Zu Hause kam sie ohne den Rollator zurecht. Sie lief langsam. Die Zweizimmerwohnung war von oben bis unten mit Kisten und Tüten vollgestopft. Vier Katzen lebten hier. Ernesto, ihr Mann. Und zehn Fische in drei Aquarien. Die Nachmittagssonne schien durch das Fenster direkt auf den Küchentisch.

Adrienne nahm mich an die Hand und führte mich durch ihre Wohnung. Sie zeigte mir jedes Bild an der Wand, erzählte, wer es gemalt hatte, wo es her war. Jede Pflanze. Jeden Fisch stellte sie mir vor. Die Katzen musste ich streicheln. Ernesto tauchte ab und zu auf und verschwand wieder in seinem Zimmer. Er hatte bei dem öffentlichen Fernsehsender PBS als Steuerberater gearbeitet. Man hatte ihn entlassen. Adrienne konnte PBS nicht leiden. Auch sie war dort angestellt gewesen. Allerdings nur als freie Mitarbeiterin, ohne Krankenversicherung.

»Das einzig Gute an dem Saustall ist, dass ich dort Ernesto kennenlernte.«

Ihre Liebe zu Ernesto betonte sie oft. Ein Rettungsring. In späten Jahren. Vielleicht für beide. Mit der kleinen Rente, die sie erhielten, kamen sie auf knappe 2.000 Dollar im Monat. Der Traum war Portugal.

»Wir wollen nach Portugal ziehen.« Sagte sie auf unserer Wohnungstour. »Dort herrscht ein gutes Klima zum Altwerden.«

Neben der Eingangstür hing ein Bild von einem Apachen. Das Sprichwort darunter lautete: »Besser als Donner im Mund sind Blitze in den Händen.«

Adrienne lachte: »Ich donnere zu viel!«

Zwei Stunden redete sie ohne Pause. Ohne zu atmen! Ich dachte ständig an Roger Willemsen. Wie hätte er ihre Welt beschrieben? Was hätte er gefragt?

Adriennes Mutter und ihre zwei Schwestern hatten zusammen in einer Band gesungen. The Malagone Sisters. Sie waren sogar bei Ed Sullivan aufgetreten. Adrienne zeigte mir Schwarzweiß-Videos aus den fünfziger Jahren. Die Mutter starb an Krebs. Adrienne war vier, als ihre Tante Carmen sie zu sich nahm. Die bekam später Aids von einem Mistkerl. Adriennes Vater, der Sizilianer, missbrauchte seine Tochter. Das erwähnte sie im Nebensatz. Er hatte einen Bruder, ein berühmter Boxer, der mit zwanzig erstochen wurde.

Roger Willemsen widmete dem Geschichtenerzählen sein ganzes Leben, auf eine eigene Familie hat er dafür verzichtet. Zwanzig Bücher. Sieben Serienformate im Fernsehen. Radiosendungen. Dokumentarfilme. Essays. Geschichten sammeln. Geschichten vortragen. Geschichten aus Deutschland und aus der ganzen Welt. Formuliert. Gedichtet. Sich in andere Menschen hineinversetzt. Und einem Publikum ihre Geschichten erzählt.

Ich kenne die Einsamkeit, die man für diese Art von Arbeit braucht. Sie kann einen erdrücken – manchmal erstickt man fast daran. Aber Roger Willemsen trug seinen Beruf in der Öffentlichkeit wie er seine Anzüge trug, mit Stil und Humor und Leichtigkeit.

»Geh nicht fort«, flüsterte ich ihm in Adriennes Wohnung zu, »bleib bei mir.«

Nach zwei Stunden führte mich Adrienne endlich zu den Sachen wegen denen ich gekommen war. Wir gingen in den neunten Stock. Dort hatte Lolita gelebt, ihre Nachbarin, Lolita, die in ein Altersheim umgezogen war. »Nicht erschrecken«, warnte Adrienne. Die Wohnung war ein Drecksloch. Die Farbe an den Wänden abgeblättert, überall hingen tote Kakerlaken. Duster war es wie in einer Gruft.

»Ernesto und ich haben zwei Wochen lang hier geputzt. Wir haben den Dreck nicht bemerkt, wenn wir Lolita besuchten. Sie hatte einfach zu viel Zeug.«

Adrienne liebt ihre Nachbarin und wollte nicht, dass der Hausmeister die Wohnung in dem Zustand findet, in dem Lolita sie hinterlassen hatte. Außerdem glaubte sie, man solle Dinge, die noch nützlich seien, nicht wegschmeißen. »Die Welt produziert zu viel Müll!«

Auf einem kleinen Sofatisch hatte sie sorgfältig die Gegenstände aufgereiht. Eine nagelneue Taschenlampe. Ein Toaster. Ein Korb mit Haargummis. Stifte. Kerzen. Gläser. Teller. Zwei Kisten mit »religiösen Büchern«. Ein Radio. Eine Lampe. Sie wollte, dass ich den elektrischen Staubsauger mitnehme. Und die zwei Eisenstangen, die Lolita hinter der Tür aufbewahrte. »Falls ein Einbrecher kommt.«

Mich schauderte es, ich kratzte mich überall. »Danke, liebe Adrienne. Ich brauche nichts.«

»Die Tüte mit den Kleidern musst du durchgucken! Die fand ich in einem Stahlkoffer im Schrank. Keine Sorge, sie sind sauber. Die wurden seit achtzig Jahren nicht mehr angerührt. Lolitas Mutter Lacy hat sich die Kleider nähen lassen in den Vierzigern! Und nie getragen. Den Koffer musste ich leider wegschmeißen. Der war nicht mehr zu retten. Von außen total vollgekackt von Kakerlaken.«

Aus einem durchsichtigen Müllbeutel zog Adrienne nun Lacys Kleidungsstücke heraus. Ich traute meinen Augen nicht. Plötzlich hielt ich ein hellblaues Ballkleid in der Hand. Aus Tüll und Seide. Das nahm ich mit.

Wir schlossen die Wohnung ab, gingen noch mal hoch zu Ernesto, der mir seine Messersammlung zeigte und erklärte, wie lang eine Klinge sein darf in New York, damit sie nicht als Waffe gilt, vier inches lang, drei Fingerkuppen. Adrienne zeigte mir noch den Knoblauch, der in einem Säckchen über der Tür hing. »Gegen die bösen Geister.«

Ich solle mir auch einen Sack mit Knoblauchknollen über die Eingangstür nageln. Wenn der Knoblauch schwarz werde, solle ich ihn auf keinen Fall in den Mülleimer werfen. »Den musst du aus dem Haus tragen und draußen wegschmeißen. Die schwarzen Flecken, das ist die schlechte Energie, die der Knoblauch aufgesogen hat. Die muss raus.« Seit sie Knoblauch über der Tür hat, verläuft ihr Leben sehr viel ruhiger.

Adrienne. Die Meerjungfrau. Dieses Detail hätte Roger Willemsen nicht ausgelassen. Dass sie Bilder von Meerjungfrauen sammelte. Überall in der Wohnung thronten gerahmte Porträts von Meerjungfrauen. Sogar auf dem Duschvorhang war eine abgebildet. »Ich bin Adrienne, die Meerjungfrau.«

Um halb sieben verabschiedete ich mich. Zu Hause angekommen, duschte ich mich erst mal. Dann probierte ich das hellblaue Ballkleid an. Es passte mir perfekt, als hätte es ein Schneider nur für mich genäht. Lacy, die längst verstorbene Mutter von Lolita, die im Altersheim lebt, die Nachbarin von Adrienne, der Meerjungfrau aus dem Plattenbau, Lacy hatte genau meine Maße. Wie zum Leben erweckt tanzte das Kleid an meinen Hüften.

Wie zum Leben erweckt war auch Roger Willemsen. Denn... wenn wir ihn lesen, von ihm sprechen, ihm zuhören, mit ihm spazieren gehen, lebt er... hier im Diesseits... kennt Menschen auf der ganzen Welt... und reist... und erzählt Geschichten…

Marie Pohl ist Schriftstellerin, Journalistin, Sängerin und Schauspielerin. Sie wurde in Hamburg geboren, wuchs in New York auf, studierte in Madrid, lebte in Zürich und Köln und wohnt heute in Berlin und New York. Für eine große deutsche Tageszeitung schrieb sie Porträttexte und führte zahlreiche Interviews. Ihr Buch »Maries Reise«, ...

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Roger Willemsen, geboren 1955 in Bonn, gestorben 2016 in Wentorf bei Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Rinke- und den Julius-Campe-Preis, den ...

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