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Leibniz to go – Unterwegs mit einem Universalgelehrten (für die Dauer eines Buchmanuskripts)

Zweieinhalb Jahre lang hat Michael Kempe an seiner Biographie über den Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz gearbeitet. Dabei hat er den Mathematiker, Philosophen und Erfinder von einer ganz neuen Seite kennengelernt. Über ein geteiltes Faible für Koffein und ein Genie, das Mut macht.

Michael Kempe, Historiker und Autor, steht in grauem Anzug und weißem Hemd vor einem dunklen Hintergrund.
© Andreas Labes

Mit Milch oder Zucker? Leibniz wünschte sich am liebsten beides für seinen Kaffee, gerne auch noch Schokolade dazu. Mir reicht Milch, Schokolade nehme ich aber ebenfalls gerne mal. Wie Leibniz, wenn er schrieb, las oder rechnete, habe ich beim Schreiben meines Buches über Leibniz in rund zweieinhalb Jahren Unmengen an Kaffee getrunken, ungeachtet der bereits von Kurfürstin Sophie an Leibniz gerichteten Warnungen vor möglichen gesundheitsschädigenden Folgen übermäßigen Kaffeegenusses, was aktuell bekanntlich ohnehin relativiert wird. Ob gesund oder nicht gesund, dass reichlich Kaffee beim Schreiben geflossen ist, ist nun genauso unabänderlich wie das Buch, das dabei entstanden ist. Es ist tatsächlich ein bisschen so wie mit der Welt, die, wenn sie wirklich geworden ist, alle anderen möglichen Welten hinter sich zurücklässt und in das Reich der Nichtwirklichkeit verbannt.

Jeder Autor, jede Autorin kennt das: Zum Buch gehört nicht nur das, was in der endgültigen Fassung tatsächlich gedruckt ist, sondern ebenso jenes, was weggelassen oder beim Schreiben herausgekürzt wurde. Die unendlich vielen Anekdoten, die man hätte auch noch erzählen können, mannigfache Details, abermalige Perspektivwechsel, weitere Schwerpunkte oder zusätzliche Erzählstränge, die man hätte hineinweben können. Zum Beispiel, dass Leibniz in seiner Pariser Zeit sich noch ganz anderen mathematischen Themen widmete als der Infinitesimalrechnung; etwa der Frage, wie man bei einem Glücksspiel, das vorzeitig abgebrochen werden muss, den Gewinn gerecht (das heißt: gemäß der durch den Spielstand erreichten Gewinnchancen) aufteilen kann. So etwa bei einem höfisch-barocken Kartenspiel, dem durch das Auftischen des nächsten Ganges eines opulenten Festmahls ein Ende gesetzt wird. Man hätte auch erzählen können, wie erste größere Kaffeebohnenlieferungen aus Marseille nach Paris gelangten, just in jener Zeit, als Leibniz in Paris die Vorzüge des köstlichen schwarzen oder braunen Heißgetränks entdeckte. Oder wie sich mit Leibniz’ Rückkehr nach Deutschland (Ende 1676) auch dort allmählich das Kaffeetrinken in gehobenen Kreisen etablierte.

Nicht alles kann mit allem angereichert werden, nicht alles kann mit allem kombiniert werden. So wie in Leibniz’ Welt alles zueinander passen muss, muss auch jedes Buch darüber in sich »kompossibel« sein. Und zum Glück gibt es einen wichtigen Unterschied zur besten aller möglichen Leibniz-Welten. Gott hatte bei der Erschaffung der Welt kein Zeitproblem, weil es (Leibniz zufolge) Zeit ohne die Existenz einer Welt gar nicht geben kann. Ein Buch aber muss zu irgendeinem Zeitpunkt abgeschlossen sein; zum Glück gibt es Deadlines, Abgabetermine für Manuskriptfertigstellung und Korrekturläufe. Undenkbar, ein Buch ohne Zeitdruck zu schreiben, so undenkbar wie ein Gott, der sich unendlich viel Zeit ließe, um eine Welt zu erschaffen.

Wie hat das Schreiben über Leibniz meinen Blick auf ihn verändert? Nicht allein die großen Leistungen strahlen. Vor allem sind es die Rückschläge, die Hindernisse, die Vertröstungen und Niederlagen, denen Leibniz zumeist mit Gelassenheit, Langmut und Unverdrossenheit begegnet ist, die faszinieren. Als Stehaufmännchen kann Leibniz immer noch Mut machen, das Weltgeschehen nicht tatenlos den Pessimisten zu überlassen. Das wird an Leibniz wohl zeitlos bleiben, ihn immer wieder neu lebendig werden lassen. Dabei hilft (und half Leibniz) Bewegung allemal. Sich selbst gehend oder laufend fortzubewegen, mochte Leibniz zwar nicht, gerne aber ließ er sich in Kutsche oder Postwagen fortbewegen: von Hof zu Hof, von Fürst zu Fürst. Er war immer auf dem Sprung und konsumierte belebende Getränke auch auf seinen Reisen. Als ich kürzlich auf der Glasscheibe eines Bahnhofcafés einen Aufkleber sah, auf dem »Coffee to go« stand, halb überklebt mit einem handgeschriebenen Zettel des Caféinhabers, auf dem zu lesen war »jetzt auch zum Mitnehmen«, dachte ich schmunzelnd: Dies hätte Leibniz gefallen.

Professor Dr. Michael Kempe, geboren 1966, ist Historiker und lebt in Hannover. Er studierte in Konstanz, wo er sich auch habilitierte. 2010 erschien sein Buch »Fluch der Weltmeere. Piraterie, Völkerrecht und internationale Beziehungen 1500–1900«. Er ist seit 2011 Leiter der Leibniz-Forschungsstelle der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen beim Leibniz-Archiv der ...

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