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Punkte und Sterne

Behördengänge, Quizshows und »Boekenweekgeschenken«: Zur Buchmesse 2016 erzählt Thorsten Palzhoff von der Literaturszene in den Niederlanden und dem Leben dort als Schriftsteller.

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© © Katharina Schmidt kwittiseeds.de

Der deutsche Autor Thorsten Palzhoff lebt seit 2013 mit der niederländischen Autorin und Zeichnerin Nina Roos und ihrem gemeinsamen Sohn in den Niederlanden. 

Als mir auf meinen ersten Spaziergängen durch Leiden die Muurgedichten ins Auge fielen, schien mir das ein gutes Vorzeichen. Statt wuchernder Graffiti, die man in den Niederlanden ohnehin kaum zu sehen bekommt, gibt es auf mehr als hundert Leidener Hauswänden sorgfältig gepinselte Gedichte in zahlreichen Originalsprachen zu entdecken. Laufen, stehen bleiben und einige Zeilen Bachmann, Baudelaire oder Cummings lesen.
Und dann waren da noch die Wochenendausgaben großer Zeitungen wie der Volkskrant oder des NRC Handelsblad mit ihrer Flut an Buchrezensionen. Ich lernte, welchen vergleichsweise großen Einfluss eine Besprechung auf den Leser und den Erfolg eines Autors haben. Als wäre die Rezension nur die Fußnote zum Buch, wird es mit Sternchen prämiert: Fünf bedeuten den werbetauglichen Olymp, vier waren für meine bessere Hälfte ein Grund zum Jubel, zwei würden als Verriss jeden Autor in die Verzweiflung treiben. Ein ungemein praktisches System (und der Niederländer ehrt alles, was handig ist), denn mit einem einzigen Blick in die Sternchen kann sich der Leser das Lesen sparen.
Als wäre das noch nicht genug, hörte ich mit Erstaunen von klangvollen Dichtertiteln wie dem Dichter des Vaderlands, der alle zwei Jahre ins Amt gesetzt wird. Jede Stadt, die etwas auf sich hält, bestallt einen Stadsdichter. Sogar die Nordregion Vriesland mit ihrer anerkannt außerniederländischen Sprache kürt einen eigenen, auf Friesisch dichtenden Trotzpoeten. Literaturpreise gibt es wie Sand an der niederländischen Küste. Mit Ausnahme der zwei oder drei Preise, die es in die Fernsehnachrichten schaffen, sind sie allerdings mit kaum mehr als einem Taschengeld oder einem kleinem Kunstwerk dotiert. Einladungen zu öffentlichen Lesungen sind eine ähnlich bereichernde Erfahrung, denn in aller Regel muss der Schriftsteller, dem die Aufmerksamkeit Lohn genug sein soll, sogar die Fahrtkosten selbst übernehmen.
Da ist es kein Wunder, dass ein Schriftsteller hierzulande nicht nur Sterne für seine Bücher, sondern auch Punkte für sein Sozialwohnungskonto sammeln muss. Vom privaten Wohnungsmarkt ist er im Grunde ausgeschlossen. Unterkünfte werden nur an feste, die Miete dreifach übersteigende Monatsgehälter vergeben. Keine Kleinigkeit im bevölkerungsdichtesten Land Europas, in dem die Mieten so hoch wie die Buden eng sind. Hier greift die soziale Seite des niederländisch-liberalen Gedankens, dass jedem eine Chance zustehe. Dank des Sozialwohnungsmarkts und Notunterkünften als letzten Hafen muss niemand auf der Straße leben. In den Niederlanden herrscht de facto keine Obdachlosigkeit.
Das Sozialwohnungssystem ist allerdings nicht ohne Tücken, wie wir nicht lange nach meinem Zuzug feststellen mussten. Unser von der Schwangerschaft forcierter Wohnungswechsel von Katwijk nach Leiden setzte das Punktekonto bei der Sozialwohnungsgesellschaft auf Null zurück. Eine reelle Chance auf einen Wohnungswechsel hat man dann erst wieder nach einem halben, eher einem ganzen Jahrzehnt monatlichen Punktesparens. Als nach ein paar Wochen direkt unter uns ein krimineller Junkie seine dritte oder vierte Chance auf Resozialisierung erhielt, hatten wir ein Problem.
Statt uns mit ihm herumzuplagen, hätten wir uns lieber in aller Ruhe an unserem Sohn erfreut, dem schon kurz nach der Geburt ein Bibliotheksköfferchen mit Babylesefutter und Formularen zur Gratisanmeldung zugesandt wurde. Überhaupt wird man in den Niederlanden durch zahlreiche Initiativen und Festivals zum Lesen angestiftet, sei es durch die Kinderbuchwoche (Kinderboekenweek), die Woche der Kurzgeschichte (Week van het Korte Verhaal), die mit dem Gedichtendag eingeleitete Poëzieweek oder natürlich die zehntägige Boekenweek im März, während die Leser in allen partizipierenden Buchhandlungen mit einem Gratisbuch, dem Boekenweekgeschenk, zum Bücherkauf animiert werden. Bei dem Buch handelt es sich um ein literarisches Auftragswerk zum vorgegebenen Buchwochenthema. Jedes Jahr blickt man gespannt auf die Bekanntgabe des Boekenweekgeschenk-Autors sowie eines zweiten Schriftstellers, der mit dem Boekenweekessay beauftragt wird. Neuerdings wird zur Buchwoche auch das Nationale Boekenquiz im Fernsehen ausgestrahlt, in dem es eigentlich kaum um Bücher geht und dessen Rateteams sich aus bekannten Autoren zusammensetzen. Dieses Jahr trat im Finale ein Autorenpaar gegeneinander an. Bevor es losging, vereinbarte die Schriftstellerin mit dem Schriftsteller einen wenig zimperlichen Deal: Wenn sie das Quiz gewinne, müsse er sie oral befriedigen, andernfalls sie ihm einen blasen.
Die Niederländer scheinen nun mal ein geradezu exzessiv offenes Völkchen zu sein, und darin sind die Künstler keine Ausnahme. Als neulich vier bedeutende Schriftsteller in einer Interviewsendung nach ihren finanziellen Verhältnissen befragt wurden, überzeugte mich ihre Auskunftsbereitschaft von der abgründigen Bodenständigkeit des niederländischen Autors. Von Starkult, Bescheidwisserei oder verstiegenen Kunsttrieben will er nichts wissen. Anders als wir vergrübelten Deutschen feiert er lieber sich und das Leben auf dem Boekenbal. Auf diesem Fest besaufen sich nicht nur die Verleger und ihre aktuell publizierten Halb- und Ganzberühmtheiten, sondern hierher kommt jeder, der das Scheinwerferlicht sucht. Der Bücherball ist ein Gesellschaftsereignis und dem Fernsehen eine ausführliche Berichterstattung wert. Legendär ist das Ritual, das jedem heimkehrenden Gast die Mitnahme eines Einrichtungsgegenstands aus dem Saal erlaubt: Von der Lampe bis zum Stuhl dürfen sich die berauschten Autoren ein Möbel für ihre karge Sozialwohnung unter den Nagel reißen.
Das Boekenbal-Mobiliar hätte uns in unserer Leidener Wohnung allerdings nichts mehr genützt, denn nach etlichen Hausdiskotheken, offenen Drohungen und Messerfuchteleien eskalierte die Situation mit unserem sadistisch entfesselten Nachbarjunkie derart, dass wir buchstäblich über Nacht aus unserer eigenen Wohnung fliehen mussten. Dass in den Niederlanden niemand auf die Straße gesetzt wird, brachte uns in eine Notlage. Trotz unseres Notfallantrags und diverser Behördengänge behielt der schon mehrfach inhaftierte Junkie die ihm zugewiesene Wohnung, und wir mussten das Weite suchen.
Uns blieb die Wahl zwischen einer Notunterkunft und dem Unterkriechen bei Familienangehörigen. Nach Monaten brachte uns ein Glücksfall in die Nähe von Groningen, wo wir zur Zwischennutzung in einem Abrisshaus wohnen, zwar ohne Punkte auf dem Sozialwohnungskonto, dafür mit Sternchen. Und trotz aller Widerstände hat unser deutsch-niederländisches Lebensprojekt ein zweites Mal Konsequenzen gezeugt.