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Taumel und Euphorie in Nicaragua

Henning Kober hat Ende 2016 Nicaragua bereist, ein Land, das zurzeit von Aufständen erschüttert wird. Er hat einen weiteren Schauplatz für seinen neuen Roman gesucht, Kuchen in den Nationalfarben gegessen und die politischen Spannungen beobachtet.

114 Henning Kober
© © Isabelle Graeff

»Ortega y Somoza – son la misma cosa«, rufen die Demonstranten, »Ortega und Somoza, sie sind die Gleichen«, im April 2018 auf den Straßen der Hauptstadt Managua und in vielen weiteren Städten Nicaraguas. Ihr Ruf ist laut und zahlreich, und er könnte verletzter und verletzender nicht sein. Denn es gab einst einen besonders grausamen und besonders unglaublichen Diktator in diesem kleinen Land in Mittelamerika, sein Name war Anastasio Somoza Debayle. Eine linke Revolution der Sandinisten, die zugleich eine Revolution der Schriftsteller war, hatte Somoza schließlich 1979 vertrieben und war binnen kurzem zwischen die Fronten des Kalten Krieges geraten. Lange her, alles Geschichte. Der amtierende Präsident Daniel Ortega aber ist einer dieser Revolutionäre; derjenige, der sich letztlich durchgesetzt hat – und dem nun die Macht zu entgleiten droht. Mehrere dutzend Demonstranten wurden erschossen, andere gefoltert, die Nachrichten gingen um die Welt.
Vor einem guten Jahr, im November und Dezember 2016, war ich beinahe einen Monat lang kreuz und quer durch Nicaragua gefahren. Für meinen neuen Roman hatte ich Ideen zu einer Rahmenhandlung, die im Land spielen könnte, das war der Anlass dieser Reise. Ich lernte ein liebenswertes Land mit großartigen Menschen kennen, das reich an Geschichte und Poesie ist, wie an Möglichkeiten, jedoch unter Stress zu stehen schien. Taumel und Euphorie, schrieb ich. Im Lichte der jüngsten Ereignisse zeichnete sich manche Entwicklung bereits ab. Kurz vor meiner Ankunft hatte sich Daniel Ortega, der seine Macht 1990 abgeben musste und sie aber 2006 zurückerlangen konnte, erneut zum Staatsoberhaupt wählen lassen, mit über siebzig Prozent angeblicher Zustimmung. Die Berichte über Wahlmanipulationen gingen in der internationalen Aufregung über Donald Trump unter. Gemeinsam mit seiner Frau und neu gewählten Vizepräsidentin, der Schriftstellerin Rosario Murillo, hatte Ortega eine Familiendiktatur errichtet. Etliche Jahre lang konnten die beiden ihre Macht mit Ölzuwendungen aus dem Bruderstaat Venezuela absichern. Nach dem Tod von Hugo Chavez und seitdem das Land selbst in der finanziellen Klemme steckte, sollte ein gigantisches Infrastrukturprojekt die Zukunft Nicaraguas sichern, eine zweite interozeanische Schiffsverbindung neben dem Panamakanal: der Nicaragua-Kanal. Dieser bleibt jedoch bis heute eine Phantasie, derweil das Land zu viel ausgibt. So begannen die aktuellen Proteste mit einer Rentenkürzung, die Ortega per Dekret verhängt hatte. Den überraschend zahlreichen Protestierenden wurde mit scharfer Munition begegnet. Inzwischen hat der Präsident sein Dekret per Dekret zurückgenommen und ein seltsames Angebot zum Dialog formuliert. Ob er sich und die seinen noch einmal retten kann? »Ortega y Somoza – son la misma cosa«. Die Gleichen. Dieser Vorwurf trifft und ist tragisch, denn Ortega wurde als junger Mann von Somozas Schergen gefoltert und inhaftiert. Er steht jetzt vor der Wahl, das zu tun, was er nie wieder tun wollte: freiwillig seine Macht abzugeben – oder aber als einstiger Revolutionär endgültig in die Geschichte einzugehen, der als besonders grausamer und besonders unglaublicher Diktator endete, in einem kleinen Land in Mittelamerika, das Frieden und Freiheit so dringend verdient.
Der folgende Text ist ein Auszug aus einer längeren Erzählung über meine Reise durch Nicaragua.

»Granada, Granada, Granada«, schrie der Junge mit dem grünen T-Shirt im Busbahnhof von Rivas. Er rollte das r und steigerte sich durch Wiederholung so lange, bis das Wort loskullerte und Fahrt aufnahm. Zusammen mit meinem Begleiter stieg ich bereits in den Bus, obwohl es bis zur Abfahrt noch dauern würde. Es war ein alter US-amerikanischer Schulbus in der Farbe National School Bus Glossy Yellow. Dieses Gelb war seit 1939 für Schulbusse in den USA festgelegt, das Auge konnte es 1,24 Mal schneller erkennen als Rot. Wir richteten uns auf einer der grau gepolsterten Bänke ein, und es begann ein Zug von Händlern und Verkäufern, die nacheinander in den Bus einstiegen und eine Art Dauerwerbesendung aufführten. Feilgeboten wurde Wasser, abgepackt in kleine Plastiktüten, Limonade, Kuchen, Pitasandwiches mit Hühnchen, Zuckerwatte, Taschentücher, Spielsachen, Sonnenbrillen, Kleidung. Nach einer Weile wiederholte sich der Zug, und es begann von vorne. Wasser, Limonade, Kuchen ... Nach einer Stunde fuhren wir endlich los und aus der Stadt Rivas hinaus. Es war ein Bus, hergestellt von der Blue Bird Body Company, der zuvor in Alabama im Einsatz gewesen war. Ich träumte ein bisschen davon, wer in diesem Bus schon gefahren sein mochte, Rosa Parks oder Truman Capote? 
»Granada, Granada, Granada«, rief der Junge im grünen T-Shirt, in der offenen Tür stehend, aus dem Bus heraus nach weiteren Fahrgästen, während wir langsam über eine Kreuzung rollten. Seine vollen dunklen Haare waren an der Seite abrasiert, hin und her rutschte seine Tolle. Er lachte, und seine Zähne waren strahlend weiß. Sie waren zu zweit, der andere, der sein Basecap nach hinten trug, half den Passagieren mit dem Gepäck, und sammelte das Fahrgeld ein. Dann gab es noch den Fahrer. Der Rufer im grünen T-Shirt lachte viel, und er ging mit dem, der das Basecap trug, zärtlich um, das sah nach einer romantischen Freundschaft aus, einer Bromance, wie man inzwischen sagt.
Die Fahrt ging jetzt flott voran, bald würden wir in Granada eintreffen, der nach Managua und Léon drittgrößten Stadt des Landes. Dann aber hielt der Bus plötzlich an, die Polizei sperrte die Straße. Drei Uniformierte, zwei Männer, eine Frau standen auf einmal im Bus und kamen durch den Gang. Hatte das mit den Protesten gegen den Kanal zu tun? An den Gesichtern der beiden Jungs, die unseren Bus bewirtschafteten, war nichts abzulesen. Niemand wurde weiter befragt oder kontrolliert. Allerdings war ein Drittel der Passagiere Touristen und die anderen meist Frauen mit Kindern oder Ältere. Nicht die, die sie suchten.


Granada

In der Kolonialstadt angekommen, führte der Weg, um den Busbahnhof zu verlassen, über den Markt. Es war ein atemberaubendes Gewusel der Menschen. Die Casa del Poeta, wo wir übernachten sollten, lag am anderen Ende der Stadt, an der Straße zum Nicaraguasee. Es war ein schönes Haus mit einem ummauerten Garten, das Zimmer war groß und im Obergeschoß. Das Bett stand in der Mitte des Raumes, und ich freute mich über den Schreibtisch an der Wand. Alles war aus dunklem Holz, massiv, von der Decke hing ein Ventilator.
Es war erst Vormittag, und so spazierten wir bald in Richtung See. Auf einem Platz stand eine Statue für Francesco Hernandez de Cordoba, jener spanische Konquistador, der begonnen hatte, Mexico und Mittelamerika zu entdecken und zu erobern und der bis ins heutige Nicaragua vorgedrungen war, wo er 1524 die Städte Léon und Granada gründete. Das hier war also seine Stadt. Stolz, mit einem langen Degen neben sich, stand er da, ein schlanker Mann mit einem schönen Kopf. Nicaragua war ein zweigeteiltes Land, die Seite am Pazifik war von den Spaniern kolonialisiert worden, mit allen Vor- und vor allem Nachteilen, die die indigene Bevölkerung erleiden musste. Die Seite am Atlantik war nicht kolonialisiert worden. Dort dominieren bis heute große Wälder das Leben, angeblich ist dort sogar der Einfluss von Daniel Ortega und Rosario Murillo geringer.
Der Anleger war verwaist, der Nicaraguasee hatte sich deutlich zurückgezogen. Wegen Niedrigwassers konnte die Fähre nach Altagracia im Norden der Insel Ometepe seit letztem Jahr nicht mehr fahren. Ein einsames Pferd graste dort unten am weit gewordenen Ufer. Es war menschenleer. Auf einer Tafel stand das Gedicht La Fe (Der Glaube) von Rubén Darío eingraviert. 
En medio del abismo de la duda, war die erste Zeile, Mitten im Abgrund des Zweifels.
Nicht ohne Grund gilt Darío als Nationaldichter.
In der anderen Richtung, in die Stadt hinein, waren viele Häuser frisch gestrichen, fast jedes hatte eine bunte, satte Farbe. Wir aßen erneut in einer Kantine zu Mittag, was dieses Mal nicht ganz so gut schmeckte. Zum Ausgleich in einer Bäckerei ein Stück Kuchen. Es war ein offener, großer Raum, und in der Ecke stand ein bunt geschmückter Weihnachtsbaum. Mein erstes Stück Kuchen in Nicaragua war passenderweise in den Landesfarben weiß und hellblau mit Zuckerguss glasiert, ein grün-gelber Klecks in der Mitte.
Wie Léon hatte auch Granada eine prächtige Kathedrale. Sie war vor kurzem neu gestrichen worden, gelb mit weißen Einfassungen. Auf dem großen Platz davor stand ein Mercedes-Feuerwehr-Lastwagen, an dessen Türen Aufkleber von der Freundschaft der Städte Granada und Frankfurt am Main erzählten. Der Platz verlängerte sich in eine beinahe schon konventionelle Fußgängerzone. Es gab offensichtlich mehr Touristen in dieser Stadt, in der 80 000 Menschen lebten, mehr US-Amerikaner und ein Immobilienbüro mit gar nicht mehr so günstigen Häusern im Angebot. Im Internet hatte ich Berechnungen gelesen, wie viel mehr sich mit einer US-Rente in Nicaragua kaufen ließ, Miete, Lebensmittel, Pflegeleistungen. Wir spazierten von Kirche zu Kirche, jede war adventlich geschmückt. In der Inglesia La Merced stiegen wir auf den Turm, das war eine Empfehlung unseres Vermieters Miguel, und offenbar auch die Empfehlung aller anderen Vermieter in der Stadt. Zum ersten Mal sah ich an Laternenmasten geklebte Werbung für eine andere Partei als für die FSLN (Frente Sandinista de Liberatión Nacional; die Sandinistische Nationale Befreiungsfront), der Daniel Ortega vorstand. Allerdings war die Werbung, hier für die Partido Liberal Independiente, bereits sehr ausgebleicht, sie war noch von der vorherigen Wahl 2011 übriggeblieben.


»Das Regime unterdrückt im ganzen Land«

Wie kann man ruhig schlafen, wenn es die ganze Nacht lang explodiert? Fehlzündungen, Böller, doch Schüsse, viel zu viele, auch in Granada wurde in der Nacht geschossen und gefeuert, wild, dann wieder in regelmäßigen Salven, waren das nur anstrengende Böller oder doch schlimm? So ging es, bis endlich der erste Hahn schrie und bald einer dagegen, ein Hahnenkampf. An diesem Morgen lief ich weit, um die Zeitung zu kaufen, aber es lohnte sich. La Prensa (Die Presse) schrieb groß auf Seite 1: »Régimen reprime en todo el país.« Zu sehen war eine Karte von Nicaragua, auf der alle Provinzen rot eingefärbt waren, in denen die Polizei versuchte, Proteste zu verhindern. Fast der ganze östliche Landesteil (mit Ausnahme von León) war rot gefärbt. »Die Polizei hat in 13 Provinzen Checkpoints eingerichtet, um Demonstrationen gegen den Kanal und gegen die Wahl-Farce zu verhindern«, schrieb die Zeitung, die stolz die blau-weiß-blaue Nationalflagge im Titel trug und daneben auf das neunzigste Jahr ihrer Existenz verwies. Während dieser Zeit war sie nicht nur einmal verboten gewesen, zuletzt mehrfach in den 1980er Jahren von den Sandinisten, die ihre Wahrheit lieber dem Hausblatt Barricada entnehmen wollten (eingestellt 1998). Doch La Prensa war zuerst als eine Zeitung bekannt geworden, die mit gutem Journalismus aufwartete und Somoza kritisierte. Sie war so kritisch und so gut, dass im Januar 1978 ihr Besitzer und Herausgeber, der Verleger Pedro Chamorro, auf dem Weg zur Arbeit hingerichtet wurde. Sein Tod machte ihn zum Märtyrer und überzeugte viele aus der Mittelschicht für die Revolution gegen Somoza. Auch aktuell bewies sich La Prensa mit gutem Journalismus und als scharfer Kritiker der Herrschaft von Ortega und Murillo. Auf Seite 7 heute das Foto des Bauern Pedro Josè Guzmán López, der auf der Rückbank eines Autos lag und an einem Tropf hing, offensichtlich schwer verletzt. Es waren Verletzungen, die ihm die Bereitschaftspolizei, die Policía antimotines, zugefügt hatte, schrieb La Prensa.
Zusammen mit der Zeitung hatte ich Postkarten gekauft, an meine Großmutter, an meine Eltern und an Oskar, meinen Patensohn. In der Filiale der Post hingen die Briefmarken hinter Glas, in einem Rahmen. Da gab es Schmetterlinge, Pilze, Vincent van Gogh-Bilder und natürlich Rubén Darío. Nicaragua war ein typisches Land für schöne Briefmarken. Je schlimmer die Regierung, um so hübscher waren die Marken. Obwohl sie noch mit einer vielsprechenden Kundin beschäftigt war, nahm mir die Frau hinter dem Schalter die Karten ab und rief einen Preis dafür auf, der einer europäischen Post nicht nachstand. War das nun mein Beitrag ans Regime, ein Regime, das im ganzen Land unterdrückte und seine Bauern und Bürger verprügeln ließ? Beim Verlassen entdeckte ich in der Ecke ein kleines Plakat im typischen rosa Farbton. EN FE FAMILIA Y COMUNIDAD! CRISTIANIA, SOCIALISTA, SOLIDARIA! stand in Großbuchstaben unter dem Bild von Rosario Murillo (Im Glauben an Familien und Gemeinschaft! Christlich, sozialistisch, solidarisch!).


Las Isletas

Mit einem Taxi fuhren wir zu einem kleinen Hafen außerhalb der Stadt, von wo aus man ein Boot mieten und zu den Las Isletas fahren konnte. Unsere Freunde Saskia und Denis hatten von diesen Inseln erzählt, es waren kleine, mehrere hundert, im Nicaraguasee. »Genau 356 Inseln«, sagte Oswaldo, unser Kapitän. Sie waren um die größere Halbinsel Asese angeordnet und vor etwa zweitausend Jahren bei einem Ausbruch des Vulkans Mombacho entstanden. Schüchtern fragte Oswaldo, ob er die Hälfte der vereinbarten vierzig Dollar gleich haben könnte. Er war ein schmaler Mann, der ein weißes Hemd mit kurzen Ärmeln trug. Mit dem Geld fuhr er auf die andere Seite des Hafens und tankte zunächst. Das Boot war länglich, überdacht und groß genug für ein gutes Dutzend Passagiere, aber wir waren allein, bis auf die zwei Jungen von Oswaldo. Sie hatten ihre Schulzeugnisse in den Händen und trugen ihre feinen Sachen. Oswaldo und seine Familie wohnten ebenfalls auf einer der Inseln, von denen viele bewohnt waren. Schon tuckerten wir los, an einem Feld Seerosen vorbei, auf das offene Wasser hinaus, der Außenbordmotor surrte. Vor der Revolution hatten auf den Inseln viele Anhänger Somozas gelebt, erzählte Oswaldo. Mit der Revolution waren sie enteignet worden, und das Land wurde verteilt, an Fischerfamilien, an einfache Leute wie Oswaldo, aber auch an verdiente Mitglieder der FSLN. Inzwischen gab es zudem Superreiche, Hotels und eine Eco-Lodge, in der die Nacht mehrere hundert Dollar kostete. Wir fuhren zwischen den ersten Inseln, und ich merkte sofort, was das war: Das, was ich gesucht hatte. Las Isletas war der Ort für die erweiterte Rahmenhandlung meines Romans. Hier würde Bobby wieder auf den Grafen und auf James Hawkins treffen. Hier könnte ich das ganze Drama ausbreiten. Oswaldo sagte, das Wasser sei nur etwa ein Meter zwanzig tief, man könne nur mit kleinen, flachen Booten fahren, der sinkende Wasserspiegel sei ein ernstes Problem. Nein, der geplante Kanal fand nicht seine Zustimmung, im Gegenteil. Den Nicaraguasee auszubaggern, damit hier einmal große Containerschiffe durchfahren könnten, wäre ein massiver Eingriff in die Natur. Den Süßwasserhaien, die es hier gab, würde das nicht gefallen, und den Bauern und den Anwohnern, die zum Teil bereits enteignet wurden, gefiel es auch nicht. Sie protestierten, im ganzen Land. Die Vereinbarung, die Präsident Ortega 2013 getroffen hatte, klang unglaublich. »Bruder«, hatte Ortega seinen jüngeren Geschäftspartner Wang Jing genannt. Der war Gründer und Besitzer eines Telekommunikationsunternehmens in Hongkong. Jing und seine HKND Group sollten das 40 Milliarden-Dollar-Projekt El Gran Canal realisieren und dann für 50 Jahre exklusiv betreiben dürfen, mit der Option auf weitere 50 Jahre. Zusätzlich würden zwei Häfen, ein internationaler Flughafen, Tourismusressorts und Freihandelszonen entstehen. Als Koordinator hatte der Präsident seinen Sohn benannt, Laureano Ortega Murillo, geboren 1987, von Beruf Opernsänger. Der erste Spatenstich war bereits erfolgt, dann gab es plötzliche Finanzprobleme von Herrn Jing, und seitdem verzögerte und verzögerte sich das Projekt.
Wir setzten die Söhne zu Hause an ihrem Eiland ab und Oswaldo erzählte, es gäbe hier im Bereich der Las Isletas zwei Schulen für die Kinder, die weiterführende Schule sei dann in Granada. Seine kleine Tochter kam den Steg heruntergelaufen, und Oswaldo umarmte sie. Das Mädchen wollte ihren Vater gar nicht mehr loslassen, aber er musste arbeiten und fuhr wieder mit uns hinaus. Er habe Sympathie für die Revolution gehabt, aber nicht für den darauf folgenden Bürgerkrieg, sagte er und erzählte von sozialen Problemen zwischen den unterschiedlichen Bewohnern, die es auf den Inseln gab, vor allem zwischen Arm und Reich. Ich war fasziniert, und ich machte so viele Fotos wie möglich. Die Bilder schlossen sich bereits mit Phantasie kurz. Es lief alles vor meinem inneren Auge ab. Ich sah den Suchscheinwerfer sich hin und her wenden und den Hubschrauber knattern. Hier flüchtete Bobby in der Nacht, und er musste es schaffen, irgendwie von hier wegzukommen, ohne von einem der bis zu sieben Meter langen Krokodile gefressen zu werden.
Nach unserer Fahrt saßen wir in einem großen, sozialistisch wirkenden Restaurant im Hafen. Wir waren die einzigen Gäste. Aber der ganze Fisch, den ich zur Feier des Tages bestellt hatte, schmeckte hervorragend. Meine Stimmung war heiter und erregt, Las Isletas war der Ort, nach dem ich gesucht hatte.
Am Nachmittag kam mir auf der Calle Atravesada ein Trauerzug entgegen, der von einem Rappen mit Scheuklappen angeführt wurde. Er zog einen offenen, schwarzen Wagen mit einem Sarg. Dahinter lief die Trauergemeinde. Alle sahen so jung aus, man musste davon ausgehen, der Tote war es ebenfalls gewesen. In ihren Gesichtern stand Gram und zurückgehaltene Wut.
Im Parc de la Poetas, der nun offiziell Parc Sandino hieß, fand ich die Silhouette des Schriftstellers Ernesto Cardenal, seinen Kopf mit Bart und Mütze nachdenklich geneigt. Er war bis 1987 unter Präsident Ortega Kulturminister gewesen, inzwischen war er aus der FSLN ausgetreten und kritisierte Ortega und Murillo aufs schärfste.
Joaquin Pasos hieß der Schriftsteller, der einst in der Casa del Poeta gelebt hatte, lange bevor Miguel ein Hostel daraus gemacht hatte. Tom aus Nordkalifornien war gerade angekommen. Er lebte seit kurzem im Ruhestand und war nun mit dem Rad unterwegs, von Ecuador nach Mexico. Zu Hause halte er es noch nicht aus, sagte er. Er war ein Guter, seine ganze Erscheinung erzählte das, klein, drahtig und auf dem Weg, ein ausgeglichener Mensch zu werden. Er hatte einen Betrieb gehabt, den er nun seinen einstigen Angestellten überlassen hatte. Bis April wollte er unterwegs sein. Nächstes Jahr dann vielleicht von Venedig nach Athen. Mehrfach erwähnte er seine Frau. Es klang, als könne er nicht die ganze Zeit mit ihr verbringen, zu lange getrennt von ihr schien er aber auch nicht sein zu wollen. Beziehungen mussten ständig neu austariert werden. Dann konnte man ruhig schlafen?
Wie wohl Daniel Ortega schlief? Und Rosario Murillo? 
Am nächsten Tag fand sich in La Prensa weitere Berichterstattung zu den Protesten gegen die Regierung. Auch ein Foto war abgedruckt, das ich lange, sehr lange betrachtete. Zu sehen waren darauf zwei Motorradfahrer mit Helmen, der eine war mit einem Baseballschläger bewaffnet. Das Foto war aus einer Distanz aufgenommen, und doch war es klar und eindeutig. Das war also die zivile Garde des Präsidenten, sie knüppelten ihre Landsleute nieder. Wie im Iran. Skrupel? Keine.

Henning Kober, geboren 1981, begann die Arbeit an seinem Romandebüt im Sommer vor vier Jahren in Bangkok. Er schrieb auch in Kathmandu, Kalifornien, New York und Berlin, wo er zurzeit lebt.

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