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›Transit‹. Walter Höllerers Lyrikbuch der Jahrhundertmitte – Herkunft und Darüberhinaus

Das Vorbild von »Hundertvierzehn Gedichte« ist eine Anthologie, die Walter Höllerer 1956 herausgab: ›Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte‹. Franz Mon berichtet in seinem Essay von der Arbeit an der Anthologie, in die er eng eingebunden war.

1.
Walter Höllerer kam 1954 als Assistent von Professor Kurt May, der den Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur innehatte, an die Universität in Frankfurt. Neben seiner Lehrtätigkeit arbeitete er an seiner Habilitationsschrift ›Zwischen Klassik und Moderne. Lachen und Weinen in der Dichtung einer Übergangszeit‹, die 1958 zum Ziel führte. Wir lernten uns bei den Doktorandenseminaren kennen, die Kurt May privatim in seiner Wohnung veranstaltete, und bemerkten alsbald, dass unsere literarischen Tentakel abseits und jenseits der wissenschaftlichen Rahmensetzung ins Ungeklärte, Unvermutete tasteten. Wir verabredeten uns zum gegenseitigen Austausch und trafen uns regelmäßig in seiner Arbeitsklause in der Arndtstraße 25.

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© Walter Höllerer. Foto: RAMA © Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg

Höllerer, Jahrgang 1922, gehörte zu der Generation, deren Jugend- und Reifejahre von den Kriegsjahren okkupiert und von den krassen Erlebnissen und Erfahrungen als Soldat korrodiert worden sind. Im Gegensatz zu den Gründermitgliedern der Gruppe 47, die in und vor den Zehnerjahren geboren, in den Zwanziger- und frühen Dreißigerjahren literarische Erfahrungen und teilweise auch Praxis hatten, war für ihn das Jahr 1945 der Nullpunkt. Alles, was davor lag, war einerseits abgetan, zugleich Entdeckungslandschaft des Vergessenen und Verfemten. Gedichte entstehen in seiner Studienzeit, die bifokal diese verlorene Erfahrungszeit innehaben und mit Naturbildern, Wörterblitzen, Zeilenbrüchen ins ganz Andere transformieren:

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(1)

Höllerer sammelt die seit 1942 entstandenen Gedichte 1952 in seinem ersten Band ›Der andere Gast‹. Kaum ist das gelungen, meldet sich der Lebenssinnimpuls, der mit seinem Einfalls- und Initiativenreichtum seine Zukunft bestimmen wird. Er macht, noch völlig unerfahren im Literaturgeschäft, seinem Verleger Carl Hanser den Vorschlag, eine neuartig konzipierte Literaturzeitschrift zu gründen. Er schreibt ihm im Februar 1953: »Es ist deprimierend, dass es in Deutschland kein einziges, zukunftsweisendes, sicher und unbestechlich profiliertes Literaturblatt gibt, das einer aufstrebenden, jungen deutschen Literatur, die sich endlich aus dem Trümmerjammer befreit, als Forum dienen kann.«[2] Hanser ist einverstanden. Er beruft Höllerer als Herausgeber und Hans Bender, der mit der kleinen Zeitschrift ›Konturen‹ Erfolg und Erfahrungen hat, zum Mitherausgeber. Man einigt sich auf den Namen ›Akzente‹. Im April 1954 erscheint das erste Heft. Die Zeitschrift wird – bis heute – eine Schneise durch den Literaturdschungel ziehen.

Es ist die Arbeit am öffentlichen Bewusstsein, die Höllerer als vordringlich begreift. Die ›Akzente‹ sind Publikationsinstrument für die aktuell entstehende Literatur, auch mit Blick über die Schulter zurück. Als notwendig und unabdingbar erscheint Höllerer nun die »Bestandsaufnahme und Dokumentation des modernen deutschen Gedichts nach dem Expressionismus, dem Dadaismus und dem Surrealismus, ohne dabei wichtige Versuchsreihen und Gruppen zu vernachlässigen oder auszuklammern.«[3] Im Frühjahr 1955 führt Höllerer mit Peter Suhrkamp in diesem Sinn »lange und eindringliche Gespräche über die Gedichte, die in unseren Jahren entstanden sind und entstehen, über ihre Gestalt und über das, was sie gleichsam zwischen den Zeilen durch ihre Gestalt aussagen« und »wie sich solche oft absonderlichen Gedichtgestalten in der Poesie vergangener Epochen verhalten, ob es nicht mehr Verbindungen gibt, als auf den ersten Blick zu erwarten sei«.[4] Es gelingt Höllerer, Peter Suhrkamp für das Konzept eines »Lyrikbuches der Jahrhundertmitte« zu gewinnen, und er macht sich an die Arbeit.

2.
Es ist die Zeit, in der wir miteinander in Kontakt kamen und unsere poetologischen Tastversuche begannen. Kontur und Zug meiner poetischen Basis hatte ich gewonnen durch die Bekanntschaft mit dem Maler und Dichter Karl Otto Götz, den ich 1950 in der Zimmergalerie Klaus Franck kennengelernt hatte. Götz hatte dort eine Ausstellung und war vernetzt mit der Künstlergruppe COBRA und der Pariser Kunstszene. Um die in Gang befindliche aktuelle junge Kunst und Poesie bekannt zu machen, gab er eine winzige Zeitschrift ›META‹ – ursprünglich ›Metamorphose‹ – heraus, die er im Einmannbetrieb zusammenstellte, redigierte, drucken ließ und vertrieb. Die Hefte waren in einem weiten internationalen Horizont an den neusurrealen und informellen Tendenzen orientiert. Er selbst schrieb in diesem Duktus Gedichte, zunächst unter dem Autorennamen André Tamm. Die entsprechende Literatur französischer Autoren war ebenso gegenwärtig im Hause Götz wie Schwitters, Arp oder Hausmann. In der ›META‹ hat er erstmals zwei meiner Gedichte publiziert. Erhellt, bereichert und trainiert durch die über Jahre hin regelmäßigen Besuche bei Götz mit den Einblicken in dessen Bilder- und Literaturkosmos kam ich zu den Gesprächen und Diskussionen mit Höllerer.
Unsere strikt verfolgten Überlegungen, Textanalysen, begrifflichen Skulpturierungen, probierten Perspektiven mit wechselnden Aspekten und riskanten Formulierungen waren ergiebig und unabschließbar, da jeder von uns divergente poetologische Vorstellungen mitbrachte. Höllerer bevorzugte einen formalen Parabelbegriff, den er textkonstruktiv als eine parabolische Wörter- und Satzbewegung verstand, deren Verlauf nicht vorhersehbare, unerwartete Einsichten ermöglichte, jenseits der belehrenden Parabelgattung. – Meine Textarbeit dagegen bezog sich vor dem Hintergrund surrealer Schreibverfahren auf Augenblicksformulierungen und einen sprachkomplexen Materialbegriff, der semantische, artikulatorische und skripturale Parameter umfasste. Was uns an Formulierungen gelang, wurde notiert. Höllerer, zugleich mit seiner Habilitationsschrift befasst, hatte eine Schreibkraft zur Verfügung, die unsere Notizen in die Schreibmaschine tippte. Am Horizont sahen wir die Publikation einer neuen Poetik.
 

3.
Dazwischen schob sich zunächst einmal die Lyrikanthologie, die Höllerer mit Suhrkamp vereinbart hatte. Das war im Frühjahr 1955. Ein gutes Jahr später wurde sie auf der Buchmesse 1956 präsentiert. Was in dieser Zeit entstanden ist, ist in seiner Substanz als eine Emanationsleistung der Bewusstseinsweite und Hervorbringungslust Walter Höllerers zu werten. Er entfaltet ein tiefgestaffeltes, mehrdimensionales, detailreiches Wörter-, Bilder- und Aussagenpanorama. Sein beherrschendes Ziel dabei war es, die gegenwärtig aktiven Autoren möglichst vollständig in die Sammlung aufzunehmen. Im Vergleich mit zeitnahen anderen Anthologien wie Wolfgang Weyrauchs drei Jahre später erschienenen ›Expeditionen. Deutsche Lyrik seit 1945‹, vermisst man in ›Transit‹ nur wenige Namen, etwa Erich Arendt, Johannes Bobrowski, Stephan Hermlin, was durch die politisch bedingte Informationssperre bewirkt ist, oder die Wiener Autoren Gerhard Rühm, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, die nur vor Ort wahrgenommen wurden. Die Autoren der literarischen Revolte vor 1914, wie Heym, van Hoddis, Holz, Stramm, Trakl, auf deren Schultern auch die jüngeren stehen, blendet Höllerer bis auf wenige Beispiele aus. Zu diesen gehören Hesse, Benn, Arp, Brecht und Britting, die noch unmittelbar literarisch wirksam waren. Den Schwerpunkt bildet die Generation, die etwa 1915 einsetzt, sich um den Jahrgang 1920 vitalisiert mit Krolow, Celan, Heißenbüttel, Höllerer u.a. und in die Breite wächst mit den nach 1925 Geborenen. Der Jüngste unter ihnen ist Peter Hamm, Jahrgang 1937. So krass auch der Kulturbruch des sogenannten »Dritten Reiches« war, der diese Generation, ohne dass sie es merkte, literal strangulierte, sie entfaltet sich mit 76 der ingesamt 118 Autoren des Buches.
Bei dem Konzept der Buchorganisation war der Impuls zur Vielfalt und Vollzähligkeit nur der eine Aspekt. Maßgebend für die Kapitelstruktur waren für Höllerer jedoch die »Bewegkräfte, die unsere Zeitlandschaft und die innere Landschaft unseres Selbst formen«.[5] So wurden denn bei der allmählichen Sichtung des gesammelten Textmaterials induktiv die dominanten Kapitelzentren bemerkt und zu Stichworten gefasst:

Ich konnte dank meiner Kontakte und Wahrnehmungen während der Kombinationsarbeit seinen Fudus anreichern durch die surreal gepolten, in der Zeitschrift ›META‹ veröffentlichten Autoren Johannes Hübner und Lothar Klünner sowie Max Hölzer, durch Klaus Demus, auf den mich Celan aufmerksam gemacht hatte, Rainer M. Gerhardt und Klaus Bremer von der Freiburger Gruppe, Anneliese Hager, Katja Hajek, Britta Titel u.a.

Im Hinblick auf meine Vorstellung der kunst- und literaturübergreifenden Tendenz der Zeit kamen auch die Außenseiter Kandinsky, Schwitters und Klee mit ihren Gedichten in die Auswahl. Sie waren mir, damals ein Glücksfall, zugänglich geworden durch die 1946 in der Schweiz erschienene Anthologie ›Poètes à l’Ecart / Anthologie der Abseitigen‹ von C. Giedion-Welcker.
Nahezu alle meine eigenen, von Höllerer ausgesuchten Gedichte stehen im Auftakt des letzten Kapitels, dessen Titel »Transit« lautet. Höllerer vermerkt dazu im Vorwort: »Das heißt auf deutsch: ›es geht hindurch‹, aber auch: ›es geht darüber hinaus‹. Das menschliche Selbst in der Jahrhundertmitte geht durch das Gestrüpp seiner Epoche hindurch; aber es kommt – zumindest ist das zu hoffen – in seinen besten Augenblicken auch darüber hinaus.«[6] Er pointiert dieses Kapitel, indem er die von mir empfohlenen Autoren mit surrealer Diktion mit meinen eigenen und den satz- und wörterstrukturellen Texten Heißenbüttels, Kandinskys und Klees kombiniert. Damit dreht Höllerer das letzte Kapitel aus der thematischen Orientierung der vorangegangenen. Er wittert allerdings, dass diese ungewöhnliche poetologische Perspektive im Hause Suhrkamp auf Widerspruch stoßen könnte, und wird vorsichtshalber bei der Präsentation des druckreifen Manuskripts eine Reihe dieser Gedichte zurückhalten und erst wieder einfügen, wenn es in die Herstellung geht.

In der zweiten Kapitelhälfte gibt Höllerer noch einmal den existenzialen, weltdeutenden, daseins- und liebesgesättigten Gedichten weiten Spielraum. Indem er in diese Sequenz fünf (von insgesamt zwölf) seiner eigenen Gedichte – darunter das von ihm hochgewertete ›Gaspard‹[7] – einfügt, signalisiert er die Polarität wie die Symbiose, die unsere poetologischen Auseinander- und Zusammensetzungen von Anfang an und auch hier wieder bestimmt haben und bestimmen.

4.
Höllerer war sich der Hemmnisse bewusst, auf die das »moderne Gedicht« bei einem breiteren Lesepublikum stoßen werde. Zwar kann sein Lyrikbuch diese Kluft nicht beseitigen, wie er im Vorwort bemerkt, doch »es versucht, durch Verbindungslinien, Entstehungslinien, durch Aufzeigen von gemeinsamen Schwerpunkten und durch Randnotizen dem Leser den Weg zum Gedicht anzubahnen«.[8] Zahlreiche solcher Randnotizen hat er den Gedichten beigefügt. Er erfindet dabei eine Textform, die dem Leser nicht die Deutung vorgibt, sondern parallel einen Lesevollzug anbietet, der in aphoristischer Konzentration die Sensibilität für die semantischen Aspekte anregt und verfeinert. So tippt die Randnotiz zu seinem eigenen Gedicht ›Ein bleicher Tross, heimwärts‹ die Erlebnisebene des Krieges an, der er als Soldat ausgeliefert war, lässt jedoch die poetische Aussage nahezu unberührt. Die Reflexion bewirkt eine dem Lesevorgang des Poems geradezu konträre Bewusstseinseinstellung:[9]

Das gilt auch für das Beispiel zu Heißenbüttels ›Kombination XI‹:[10]

Die Randnotiz bezieht sich zwar auf die poetische Struktur des Gedichts, vermeidet es aber, die poetischen Anmutungen aufzurufen. Höllerer empfiehlt zwar, die Randtexte nach der Benutzung »durchzustreichen«, da »sie keinen Selbstzweck verfolgen«. Doch es gibt eine ganze Reihe von ihnen, die abseits ihres Kontextes als Aphorismen gelesen werden können. In ihre Aussagen ist vieles von dem, was wir in unseren poetologisch thematisierten Gesprächen angerührt haben, eingegangen.

5.

Im Juni 1956, als das Manuskript in der Druckerei ist, verfasst Höllerer das Vorwort, in dem er auch die Zeitbezüglichkeit dieser lyrischen Literatur der Jahrhundertmitte aus seiner Perspektive beschreibt:

»Diese Verse kennen den unmittelbaren Zugriff, doch auch die Mittelbarkeit; sie kennen die Umwege, die sich angesichts der Verfälschung von Worten zu Schlagworten und angesichts der Anzeichen, die noch nicht zu benennen sind, eröffnen. Sie scheinen keine streckenhaften Entwicklungen mehr zu deuten. Sie sehen die menschlichen, irdischen Strecken einer anderen, überlegenen Zeit- und Raumgesetzlichkeit gegenüber, die unsere bisherige Sicherheit im Aufzeigen anthropozentrischer Abläufe und Entwicklungen widerlegt. Die Gedichte erscheinen so im Prüffeld einer Ungesichertheit, auf die alle kleinen Unsicherheiten unserer Tage und die Süchte nach Versicherungen zulaufen. Die Verse werden zu Versuchen, Zeit- und Raumverschränkungen zu ergreifen, die von den menschlichen Sinnen und vom menschlichen Bewußtsein noch nicht zu umzirken sind. Diese ›andere Zeit‹ ist nichts Mystisches; sie ist ein Faktum, dessen Vorformen auch die Wissenschaft zu definieren sucht und das die Mathematik, die Atomphysik, die Raumfahrtforschung beschäftigt. Angesichts der anderen Zeit erscheinen alltägliche Lebenssituationen in einem befremdlichen Licht. ›Wichtiges‹ und ›Unwichtiges‹ konzentriert sich, entlarvt sich oder kentert ins Absurde. Gefahren fordern, mehr und mehr drängend, Nähe der Kreatur zueinander. Manches, was Anspruch auf Zielstrebigkeit, auf das Telos erhob, erscheint, zu einem winzigen Punkt geschrumpft, einem Karusselltanz mit ironischen Lichtern zugeordnet (TRANSIT hat ein Kapitel ›Jahrmarkt‹); anderes, das am Rande der Banalität zu liegen schien, rückt in die Mitte entscheidungsvoller Augenblicke. Verschränkungen zeigen sich zwischen bisher systematisch getrennten Sphären. In der Art von Fugen erweisen Gedichte weite Ausmessungen von Wirklichkeit dort, wo vor kurzem noch Wirklichkeit als abgesteckte Strecke selbstverständlich hingenommen, nachgedacht und nachgesprochen wurde.
Worte, Verse bestätigen ja nicht nur; sie schaffen dem Bewußtsein ein neues Grad-Netz im noch nicht definierten Bereich von Wirklichkeit. Oder anders ausgedrückt und im Abstand gesehen: sie schaffen neu das Alte, das schon Sappho und Catull schufen, und das an kein Ende kommt.«[11]

Der besondere Rang von Höllerers Lyrikbuch ›Transit‹ in der zeit- und kulturgeschichtlichen Konstellation der Nachkriegszeit wird deutlich, wenn man es in Beziehung setzt zu dem anderen Lyrikbuch, das in der ersten Nachweltkriegszeit des 20. Jahrhunderts erschienen ist: der ›Menschheitsdämmerung‹, das Kurt Pinthus 1919 mit dem Untertitel »Symphonie der jüngsten Dichtung« herausgegeben hat, unmittelbar nach dem Ende des millionenmordenden Völkerkriegs und unter den Eindrücken der Revolutionsereignisse. Beide Herausgeber wollen keine der üblichen Anthologien mit den »Musterbeispielen guter Poesie« erstellen. Pinthus beginnt sein Vorwort so: »Es ist Sammlung!: Sammlung der Erschütterungen und Leidenschaften, Sammlung von Sehnsucht, Glück und Qual einer Epoche – unserer Epoche. Es ist gesammelte Projektion menschlicher Bewegung aus der Zeit in die Zeit. Es soll nicht Skelette von Dichtern zeigen, sondern die schäumende, chaotische, berstende Totalität unserer Zeit.«[12]

Das Buch, im Ernst Rowohlt Verlag Berlin erschienen, erlebt einen unvorstellbaren Erfolg. 1922 kann bereits das 20. Tausend gedruckt werden. Dessen Nachwort ist jedoch von der Enttäuschung über die Entwicklungen der letzten Jahre getrübt. »Die Glut dieser Generation hatte sich aus Opposition gegen das Gewesene, Verwesende entzündet und konnte für Augenblicke in die Zukunft leuchten, aber nicht die Menschheit zur großen Tat oder zum großen Gefühl entflammen.«[13]

Nach dem zweiten, noch grässlicheren Jahrhundertdebakel ist alles Pathos verdunstet. Höllerer konstatiert am Schluss seines Vorworts: »Das menschliche Selbst in der Jahrhundertmitte geht durch das Gestrüpp seiner Epoche hindurch; aber es kommt – zumindest ist das zu hoffen – in seinen besten Augenblicken auch darüber hinaus. Wird es von denen gefragt, die Programme und Parolen setzen, worauf es sich denn berufen könne, so könnte es antworten: auf seine Wachsamkeit und seine Bereitschaft zur Kritik, zur Selbstkritik vor allem; auf seine Bemühung, in jedem Moment, nach Einsicht in die Verhältnisse und mit dem Blick auf die unbegrenzte, noch nicht definierte Wirklichkeit, neu zu entscheiden.«[14]


6.
Für uns beide war ›Transit‹ ein wichtiger Publikationsort. Höllerer entfaltete und belegte seine Poetik in ihrer ideologiefreien, geradezu nichtdefinitiven, ins Offene ausgreifenden Beschaffenheit am Exempel dieser Komposition aus 323 Sprachlautungen von 118 Stimmen und bewies damit, dass ihm auch ein komplexes literarischer Projekt gelingt. Für Mon war ›Transit‹ überhaupt die erste Gelegenheit, seine Textkonzeption substantiell darzustellen, nicht nur durch die Publikation seiner Gedichte, sondern auch durch die Vermittlung experimenteller Texte verwandter Autoren an einem allgemein zugänglichen Ort der Wahrnehmung. Im Zug der ersten Auflage konnte bereits der Druck des »vierten bis fünften Tausends« vermerkt werden.
Zwischen den Entwicklungsphasen des Lyrikbuches war auch unser Bemühen, eine den gegenwärtigen Bewusstseinsdimensionen entsprechende Poetik zu formulieren, weitergegangen. Zur Klärung sammelten wir Textmaterial parabolischer Prosa ganz verschiedener Autoren, um den Begriff der Vorgangsparabel fassbar zu machen. Es wurde uns klar, dass es dabei nicht um eine klassische Poetik aus einem Guss gehen konnte, sondern auf ein differenzierendes work in progress hinauslaufen würde. So drehten sich unsere Überlegungen in Richtung auf ein Jahrbuch, in dem gezielt auch Fremdbeiträge zu den verschiedenen methodisch-formalen und sprachlich-materialen Aspekten zu Wort kommen sollten: die literalen, visuellen, akustischen und gestischen künstlerischen Ausdrucksweisen, die sich zum Teil überschnitten, nicht zuletzt im Film und in der konkreten Poesie. Zunächst wählten wir im Hinblick auf die Interferenz der verschiedenen beteiligten Kunstformen ›Quadriga‹ als Titel des Jahrbuches; entschieden uns jedoch, als Konzept und Substrat des Buches sich abzeichneten, mit Bezug auf das offensichtlich gemeinsame Merkmal der Bewegung (siehe »Parabel«) für den Ausdruck »movens«.

Höllerer gelang es dank seines literaturaktiven Rufes Max Niedermayer, den Inhaber des Limes-Verlages, für das Projekt zu interessieren. Am 20. Februar 1958 schloss er mit uns einen Verlagsvertrag ab. Die endgültige Komposition und Redaktion der »Dokumente und Analysen zur Dichtung, bildenden Kunst, Musik, Architektur«, wie der Untertitel von ›movens‹ lautete, zog sich noch zwei Jahre hin, bedingt nicht nur durch Höllerers Berufung als Professor an die Technische Universität in Berlin 1959, sondern auch durch den horizonterweiternden Kontakt mit den jungen amerikanischen Autoren der Beat Generation auf seiner Reise in die USA 1957, die er nun in sein Konzept einbezog. In seinem schließlich abgeschlossenen Kapitel »Movens und Parabel« liefern Robert Creeley und Gregory Corso neben Robert Musil, Wolfgang Maier, Günter Grass und Hans Arp mit ihren Gedichten die Belege. – ›movens‹ erschien mit Verzögerung 1960. Sein nahezu quadratisches Format ermöglichte ein variables, den unterschiedlichen Text- und Bildvorlagen angemessenes Layout. Wie die Umstände lagen, blieb es bei diesem einen »Jahrbuch«.[15]

7.
Walter Höllerer hat das Thema einer das Dichtungsschaffen grundierenden Begriffsbildung, einer Poetik also, die dem eigenen Zeitbewusstsein angemessen wäre, nicht in Ruhe gelassen. Er geht wissenschaftlich vor und sammelt als Basis Aussagen europäischer und amerikanischer Autoren, im frühen 19. Jahrhundert mit Coleridge beginnend und bis Dylan Thomas reichend, über ihre Schreibpraxis wie über ihr Verstehen dessen, was für sie Dichtung ist und sein soll. Die Textsammlung mit ihren 60 Autoren veröffentlicht er 1965 als ›Theorie der modernen Lyrik. Dokumente zur Poetik I‹; vermutlich war ein 2. Band mit zeitgenössischen Autoren vorgesehen.[16]
In seinem sehr ausführlichen Nachwort unternimmt er einen analytisch ordnenden Nachvollzug des Befundes. In seiner gelenkigen, gelegentlich auch persiflierenden Diktion referiert er die nicht endende Vielfalt und Widersprüchlichkeit poetischer Konzepte und Thesen, jeweils plausibel und sinnvoll begründet, jedoch im nächsten Exempel als »Gegenbeispiel« wieder aufgehoben, gar desavouiert. Auch die in ›movens‹ dargestellten poetisch-künstlerischen Verfahren kommen in den Fokus.[17] Es ist seine Weise des Abstandnehmens, ohne zu verhehlen oder zu verwerfen. Was seine eigene poetologische Präferenz betrifft, so plädiert er am Schluss für eine Neubewertung des »langen Gedichts«.[18] »›Veränderung‹«, sagt Höllerer in diesem Zusammenhang, »ist das Stichwort, das den Ausdruck ›Avantgarde‹ einer Fortschrittsepoche ablöste. (...) Veränderung ist ständige Verwandlung, zeigt Formen, die neue Substanzen gewinnen und andere zugleich verlieren.«[19]

In den Anfangssätzen des Nachworts entfaltet Höllerer die ins Offene weisende Einsicht in die Eigen-sinnigkeit des Entstehens wie des Wahrnehmens poetischer Wirklichkeiten, für die er in diesem Buch und in seiner Literaturarbeit einsteht:

»Aussprechen und Wegschieben, Setzen und Dagegensetzen, Ideen, die gefunden werden und die verworfen werden, dazwischen sind Linien sichtbar, Querverbindungen: so stellt sich dieses Buch dar – Materie, die immer in Bewegung ist, die strömt, die gerinnt, wieder in Fluß kommt. Die Theorie der Dichtkunst, die Lyrik-Poetik bringt Themen hervor, die verwandlungsreich fließend sind ›wie die unaufhörlich über die Fensterscheiben wischende Regenmähne‹. Auf diese Besonderheit muß sich der Leser einlassen, auf die in ihren Übergängen glitzernden Widerspiele, auf Gemeinsames, das sie hervorbringen, auf den aufgewirbelten Bestand. Im Bild der ›Regenmähne‹ deuten sich Grundthema und Form dieses Buches an; ist erst diese Figur aufgespürt und erkannt, so bewahrt sie vor falschen Fragen und Argumentationen.«[20]

 

[1] In: ›Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte‹, Hg. von Walter Höllerer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1956, S. 6. aus: Walter Höllerer, ›Der andere Gast‹, C. Hanser Verlag, München 1952.

[2] In: ›Literatur der Gegenwart im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg, Begleitbuch zu Ausstellung und Archivbestand‹, o.J., S. 31.

[3] In: ›Transit‹, S. XI.

[4] In: ›Transit‹, S. X f.

[5] In: ›Transit‹, S. XIII

[6] In: ›Transit‹, S. XVII

[7] In: ›Transit‹, S. 305. »Gaspard« hat Höllerer selbst interpretiert in der von Hans Bender hg. Sammlung ›Das Gedicht ist mein Messer‹, List Verlag, München 1955, Neuauflage 1964, S. 96 ff. Darin äußern sich »Lyriker zu ihren Gedichten«. Das Buch ist gleichzeitig mit ›Transit‹ entstanden. Mit zwei Ausnahmen sind alle der darin vertretenen Autoren auch in ›Transit‹ zu finden, zum Teil mit denselben Gedichten.

[8] In: ›Transit‹, S. XVI

[9] In: ›Transit‹, S. S. 173 f.

[10] In: ›Transit‹, S. 148 f.

[11] In: ›Transit‹, S. XII

[12] In: ›Menschheitsdämmerung, Symphonie jüngster Dichtung‹, hg. von Kurt Pinthus, Ernst Rowohlt Verlag, Berlin 1919, S. V.

[13] In: ›Menschheitsdämmerung‹, a.a.O., Nachdruck 1922, S. 295.

[14] In: ›Transit‹, S. XVII

[15]›movens. Dokumente und Analysen zur Dichtung, bildenden Kunst, Musik, Architektur‹. In Zusammenarbeit mit Walter Höllerer und Manfred de la Motte hg. von Franz Mon, Limes Verlag, Wiesbaden 1960; Lizenzausgabe: Luchterhand Verlag, Neuwied 1972.

[16] ›Theorie der modernen Lyrik. Dokumente zur Poetik I‹. Hg. von Walter Höllerer, Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbek bei Hamburg, 1965; Neuausgabe in 2 Bänden, hg. von Norbert Miller und Harald Hartung, C. Hanser Verlag, München 2003. Der Band 2 führt die Sammlung fort bis zur Gegenwart.

[17] In: ›Theorie der modernen Lyrik‹, Neuausgabe Band 2, S. 959 f.

[18] In: ›Theorie der modernen Lyrik‹, a.a.O. Neuausgabe Band 2, S. 972 ff.

[19] In: ›Theorie der modernen Lyrik‹, a.a.O. Neuausgabe Band 2, S. 975.

[20] In: ›Theorie der modernen Lyrik‹, a.a.O. Neuausgabe Band 2, S. 953.

Franz Mon, geboren am 6. Mai 1926, lebt als Künstler und Schriftsteller in Frankfurt am Main. Nach dem Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie arbeitete er von 1956 an als Lektor in einem Schulbuchverlag und unterrichtete bis 2000 im Bereich Grafik/Design in Kassel, Offenbach und Karlsruhe. 2003 erhielt er die ...

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