Im ›Ulysses‹, dem Jahrhundertroman des Iren James Joyce, heißt es an einer Stelle: »Die Geschichte ist ein Albtraum, aus dem ich zu erwachen suche.« Eine der beiden Hauptfiguren sagt das, ein junger Dichter namens Stephen, der sich durch Dublin treiben lässt, der Tag, an dem das geschieht und an dem der ganze Roman spielt, ist genau datiert, es ist der 16. Juni 1904.
Ein anderer Satz, der mich nie mehr losgelassen hat, stammt auch aus einem Roman, aus einem Buch Raymond Federmans, das Buch heißt ›Die Nacht zum 21. Jahrhundert‹, der Satz lautet: »Schließlich ist Geschichte, wie ein Freund mir einmal schrieb, ein schon geträumter und wieder zerstörter Traum.«
Die beiden Romane sind denkbar verschieden, in vielerlei Hinsicht, der eine wurde in großen Teilen während des ersten Weltkriegs geschrieben – ohne dass der Krieg zum Thema würde, die Handlung des ›Ulysses‹ ist ja, wie gesagt, an einem einzigen Tag im Juni 1904 angesiedelt, der andere Roman, der von Federman, entstand bzw. erschien ungefähr fünfzig Jahre später, nach einem zweiten Weltkrieg mit dem beinah gelungenen und nur durch den bedingungslosen Kampf der Alliierten gescheiterten Versuch des nationalsozialistischen Deutschland, die europäischen Juden zu ermorden, als einem präzedenzlosen Akt der Barbarei, der unsere Vorstellungskraft an ihre Grenze führt.
Raymond Federman, ein gebürtiger Franzose, war einer dieser Juden, als Vierzehnjähriger entging er der Vernichtung, weil seine Mutter ihn bei einer Razzia spontan in einem Schrank versteckte, wo ihn die Schergen, die die Pariser Wohnung der Familie durchsuchten, nicht fanden, seine Eltern und seine beiden Schwestern starben in Auschwitz. Raymond Federman überlebte, er wanderte 1947 in die USA aus und wurde nach den üblichen Umwegen zu einem der ideenreichsten amerikanischen Schriftsteller der Nachkriegszeit, bei dem höchstes Sprachbewusstsein, die souveräne Handhabung literarischer Tradition, und ein mitreißender, vor nichts zurückschreckender, manchmal schwarzer, manchmal greller Humor eine unnachahmliche Verbindung eingingen.
Aber wovor auch? Zurückschrecken. Wenn man den absoluten Schrecken schon erlebt hat, wenn man weiß, was in Wirklichkeit, in der Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts, möglich war, und eben nicht nur auf dem Papier, als, sagen wir, bizarre Phantasie oder Beschreibung eines von unbarmherzigen Dämonen bevölkerten Traumgebildes, an das man sich nach dem Erwachen noch halb panisch erinnert. Wie, die Frage ist naheliegend, kann die Literatur da mithalten, muss sie es überhaupt, bzw. welche Mittel stehen ihr zur Verfügung, Wirklichkeit zu erzählen, zu präfigurieren, einzuholen. Zu überblenden oder zur Kenntlichkeit zu bringen, so dass es einem ›wie Schuppen von den Augen‹ fiele – natürlich, anders kann es nicht sein, kann es unter keinen Umständen gewesen sein. Ist das die Aufgabe von Literatur, vielleicht sogar ihre Vornehmste? Etwas zu zeigen oder zu beweisen, wie es die Wissenschaft tut, im besten Fall auch der Journalismus, sei es in der Form eines Naturgesetzes, sei es als Enthüllung von Zuständen, die so unhaltbar sind wie sie einem bislang verborgen waren. Mit der logisch-moralischen Konsequenz, sie zu ändern oder abzuschaffen – der Roman als Manifest, das irgendwann und irgendwie praktisch zu werden habe.
Der Geschichte, wenn nicht gar der Weltgeschichte, auszuweichen, ist unmöglich, sie ist präsent in unserem Denken und Handeln, selbst dort, wo wir meinen, privat zu sein, eine Art von
Einfärbung, die man meist nicht wahrnimmt, außer in Konfliktsituationen, oder in therapeutischen Settings, die versuchen, das Familiäre in einem größeren, um nicht zu sagen, in einem historischen Zusammenhang zu verorten. »Ihr Buntgesprenkelten!«, spricht Nietzsche in der Person Zarathustras seine Zeitgenossen an, »die ihr Gemälde seid von Allem, was je geglaubt wurde!« Und das sind wir doch im Grunde, »Gemälde von Allem, was je geglaubt wurde«, allerdings in unterschiedlicher Ausprägung und Form, die von den Erfahrungen des Einzelnen mit eben dieser Geschichte abhängt, vom Grad der Kontamination, den sich auszusuchen, keinem gegeben ist. Hab ich nix mit zu tun, ist nicht mein Problem, ich war das nicht, kann aber allein derjenige sagen, der sich in seiner Ignoranz verbunkert hat, aggressiv in der Regel nach außen und innen.
Der Albtraum, an den Joyce, also Stephen, 1904 dachte, war Irland, seit Jahrhunderten brutal niedergedrückt durch die englische Kolonialherrschaft, heimgesucht von Missernten und Hungersnöten – so starben in der sogenannten Großen Hungersnot zwischen 1845 und 1852 mehr als eine Million Menschen, etwa zwei Millionen wanderten aus –, und dazu noch unter Kuratel eines besonders rigiden Katholizismus. All das durchdringt Joyce‘ Roman, bildet gewissermaßen das Hintergrundrauschen einer modernen Odyssee, als die sich die Wege der Protagonisten während eines Tages und einer halben Nacht gestalten, in einer Geschichte gefangen, die für Stephen und Leopold Bloom, die andere Hauptfigur, so persönlich, so individuell ist, wie nicht denkbar ohne die historische Situation, in die sie gestellt sind und die immer wieder in Gesprächen und Gedanken gestreift wird. Die Frage, wann und wie das Land seine Unabhängigkeit gewinnen könnte, hallt beständig wider in den Versuchen von Stephen, selber unabhängig zu werden, sich zu lösen von dem, was ihn daran hindert, jener Dichter zu sein, als der er sich versteht, hier seine dysfunktionale Familie, dort sein Job als Aushilfslehrer.
Vielleicht ist der ›Ulysses‹ auch deshalb ein so großes, Epoche machendes Buch, weil das Politische weder ausgespart noch zum Motor des Alltagslebens ziemlich gewöhnlicher Menschen wird, nichtsdestotrotz aber stets, sagen wir, kopräsent ist, unentrinnbar und zugleich von minderem Rang, wenn es um ein Rendezvous, eine schwere Geburt oder eins der notorischen Besäufnisse in einer der zahlreichen Kneipen Dublins geht. ›Wie in Wirklichkeit‹ heißt es in Spielen von Kindern, hieß es zumindest bei uns früher, ›wie in echt‹, was – nehmen wir uns den Ulysses zum Beispiel – auf den modernen Roman übertragen bedeutet, dass Nebensächliches die gleiche Rolle spielt wie Staatsaktionen, ein Blick, eine Geste, ein einzelnes Wort so erheblich sein können wie eine Schlacht, ein Streik, ein Akt heroischen Widerstands. Wo das nicht so ist, landet man rasch bei einer Art von bebildertem Leitartikel, der seine Wichtigkeit vor sich hin trägt wie eine Monstranz, literarisch meist ein Desaster, öffentliche Aufmerksamkeit aber garantiert.
Sich zur Gegenwart zu verhalten, verhalten zu müssen, stellt für mich eine unhintergehbare Bedingung des Schreibens dar, ihr Horizont jedoch, der der Gegenwart, ist so weit oder so beschränkt wie der meines Personals, was nicht gewusst und wahrgenommen wird, taucht nicht auf, auf Seiten dieser oder jener Figur, was manchmal zu Streichungen im Text führt, die ich wohl bedauern, aber nicht vermeiden kann. Denn im Roman ist meine Meinung nicht gefragt, und sich Stellvertreter zu erfinden, die Sprachrohr des Autors sind, führt zur Predigt, zu einem Kanzelton, den ich mir allein in der Kirche gefallen lasse – wenn auch da mit Vorbehalt.
Andererseits besitzt der Autor, die Autorin, einen Begriff von Geschichte, von Gesellschaft, von Verhältnissen, sozialen Verhältnissen, die eben nicht gesetzlos sind. Und sei es das Gesetz des Dschungels, der Stärkere frisst den Schwächeren, die Natur ist nicht per se freundlich zu einem. Muss der Autor, muss die Autorin das ausblenden, oder ist es vielmehr so, dass dieser Begriff, diese Vorstellung von Welt mit ihrer je eigenen Gesetzmäßigkeit einzufließen hat in den Entwurf einer Romanhandlung, eines Plots, der sich mit der Gegenwart beschäftigt oder, vorsichtiger ausgedrückt, so etwas wie ein Echoraum dieser Gegenwart ist? Wie sind die Dinge im Realen verknüpft, gibt es eine übergeordnete Logik, der man zu folgen hätte, was unterliegt dem Zufall, was geschieht mit Notwendigkeit? Lauter Fragen, die sich leichter stellen, als beantworten lassen.
Die Geschichte ein Albtraum, womöglich noch einer, den ein anderer träumt und in den man, warum und wie auch immer, plötzlich hineingeraten ist. Man sucht zu erwachen, wie Stephen es im Ulysses formuliert, sucht einen Ausgang, findet aber keinen, und verliert dabei mehr und mehr die Hoffnung, sich retten zu können. Hinter jeder Ecke lauern Ungeheuer, der Boden schwankt, aus Verzweiflung springt man vom Dach. Oder wird in einem Schrank versteckt, völlige Dunkelheit um einen herum, draußen im Zimmer hört man schwere Stiefeltritte, Befehle, dann fällt die Tür ins Schloss. Mit gepresstem Atem wartet man ab, eine Stunde, zwei Stunden, als es ruhig bleibt, kriecht man aus dem Schrank hervor. Die Wohnung ist leer, tödliche Stille. Nach und nach stellt sich die Gewissheit ein, dass es kein Traum ist, sondern die Wirklichkeit, die ein Albtraum ist, aus dem es kein Erwachen gibt. Kein Text, den man um-schreiben könnte, oder einfach die Löschtaste drücken und neu beginnen. Ende der Zukunft, Ende der Geschichte.
Wie geht man damit um? Wenn Raymond Federman schreibt, dass die Geschichte ein schon geträumter und wieder zerstörter Traum sei, artikuliert er eine andere Vorstellung von Traum, vom Träumen, als die, in der man mehr oder weniger passiv dem Traumgeschehen ausgeliefert ist. Dass man nämlich die Geschichte erträumen kann zu einem besseren Ende, mag dieser Traum sich auf Anhieb auch nicht realisieren lassen. Hat man einen zweiten, einen dritten Versuch? Oder ist die Zerstörung dieses Traums von Geschichte irreversibel? Nach den Erfahrungen des zwanzigstens Jahrhunderts, in dem immenser technischer Fortschritt eine heillose Verbindung mit der größten überhaupt denkbaren Niedertracht einging, um den Nullpunkt der Conditio humana zu erreichen. War es das? Mit dem schon geträumten Traum? Wir haben uns abgewöhnt, über die Zukunft anders als pragmatisch zu reden, indes unsere Gegenwart erneut Züge des Schrecklichen annimmt – möglicherweise steht beides ja in einem inneren Zusammenhang, der darauf beruhen könnte, dass man den Traum von Geschichte, und das heißt von einer Zukunft, die mehr wäre als Wärmedämmung und Gesundheits-App auf jedem Smartphone, leichtfertig preisgegeben hat, beziehungsweise denjenigen überlassen, die zurück in eine Vergangenheit wollen, die nie existiert hat. Sollte das der Fall sein, steuern wir einen Bankrott an, der nur fundamental sein kann.
Worauf denn etwas hinausläuft, fragt man sich bei der Lektüre eines Romans so gut wie bei der Betrachtung geschichtlicher Prozesse, nur dass man meist nicht realisiert, selbst in der Geschichte, der Weltgeschichte, zu stecken, historisch gibt es kein Außen. Man versucht Regeln zu erkennen, bestimmten Konstellationen Sinn zu verleihen. Dass nicht allein der Zufall regierte, oder die Willkür eines Autors, der verborgen ist, aber über alle Macht verfügt. Als Leser immer wieder das Gefühl, eingreifen zu wollen, um der Sache die richtige, die gewünschte Wendung zu geben. Doch der Text macht, was er will, sein Eigensinn ist erstaunlich. Lässt ihn jeden Vorsatz überschreiten, wischt die Vernunft beiseite oder inthronisiert sie endlich einmal. Gelegentlich wie vom Wahnsinn gepackt, wie die Geschichte, zu der einem dann nichts mehr einfällt als eben dieses Wort: Wahnsinn!
Können wir literarischen Realismus so definieren? Ich, mich, wenn ich mich als Realisten bezeichne. Sich einer Form der Unabsehbarkeit ausliefern, gegen die anzukämpfen den Roman, den ich schreibe, erledigen würde. Allein der Sprache vertrauen und nicht darauf setzen, dass man’s wieder hingebogen bekäme. Hin zu einer Botschaft, einem Schluss, den man der Welt unbedingt mitzuteilen hätte. Wehret den Anfängen, oder: noch ist es nicht zu spät.
Es kann gut sein, dass das, was wir Kunst nennen, anders funktioniert. Widerstand, gar eine Ästhetik des Widerstands gegen die Zumutungen der Gegenwart, in der Fähigkeit der Kunst liegt, nicht aufzugehen, sich weder so noch so verpflichten zu lassen. Vielleicht vermag sie erst dann, und nur dann, die Welt aufzuschließen in Schönheit und Schrecken, in ihrer rohen Logik und ihrem grotesken Aberwitz, mit immer offenem Ende.
Es gibt gute Gründe, die Geschichte für einen Albtraum zu halten. Auch dafür, sie als einen zerstörten Traum anzusehen. Joyce und Federman sind mir wichtige Autoren, von denen ich gelernt habe, was ein Roman ist oder sein kann, doch das letzte Wort wollen wir ihnen heute Abend, zum Schluss meiner kleinen Rhapsodie, nicht erteilen. Das überlassen wir Renée Green, einer bildenden Künstlerin aus den Vereinigten Staaten, deren Installation Partially buried in three parts in ›Das bessere Leben‹ einen zentralen Platz einnimmt. Eine Scharnierstelle, an der Geschichte und Gegenwart, Realität und Beschreibung dieser Realität, das Flüchtige und Schwere, der große Begriff und die überraschende Geste zusammenfinden. In dieser Installation heißt es, mit grobem Pinselstrich an eine Wand geschrieben: »The future will be what the people struggle to make it.« Ich finde, einen anderen, einen noch optimistischeren Ausblick kann es nicht geben: Die Zukunft wird das sein, was wir uns erkämpfen, the people, die Leute, Sie und ich, wir alle gemeinsam, ab heute, jetzt, sonst ist es irgendwann und definitiv zu spät.
Extras
Über Geschichte und zwei Fürsprecher
Dankesrede von Ulrich Peltzer anlässlich der Verleihung des Gerty-Spies-Preises am 27. September 2016 in Mainz.