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Uwe Kolbe zum Sechzigsten

Uwe Kolbe feiert heute seinen 60. Geburtstag. Wir gratulieren zusammen mit dem Bielefelder Literaturwissenschaftler Wolfgang Braungart, der uns einen Geburtstagsgruß für Uwe Kolbe geschickt hat.

114 Uwe Kolbe
© © Gaby Gerster

Nehmen wir zum Beispiel dieses Gedicht:

Ob wir alle aus Lehm sind,
Starrer, schweigender Grind.

Ob wir das Lachen verstehn,
Wenn uns die Kinder sehn.

Ob wir nur weiterlügen,
Und nimmer Antwort kriegen.

Ob wir alle aus Lehm sind!

Geschrieben hat es der gerade mal 20-jährige Uwe Kolbe, erschienen ist es in seinem ersten Gedichtband Hineingeboren; und gewidmet ist es Wolfgang Borchert, dem Dichter, der nicht hineingeboren wurde, sondern nur noch zurückgekommen und hineingestolpert war in das frühe Nachkriegsdeutschland, und der darin keinen Platz mehr finden konnte. Immer wieder widmet Uwe Kolbe seine Gedichte Menschen, auf die er sich bezogen sieht; in seinem jüngsten Gedichtband Psalmen zum Beispiel die Stimme Martin Luthers.
Hineingeboren ist Uwe Kolbe selbst in das andere Nachkriegsdeutschland der DDR, geboren nämlich am 17. Oktober 1957 in Ost-Berlin; und gerieben hat er sich daran, gestritten hat er, gewütet, so sehr, dass man seine ganze Dichtkunst immer wieder darin gegründet sah – und dies gewiss nicht ganz zu Unrecht, aber nicht in einem einfachen politisch-reaktiven Sinne. Er will sich seine poetische Identität nicht durch seine Herkunft diktieren lassen. Denn darauf hat er immer bestanden: auf der Freiheit und Selbstbestimmung des Subjekts, auf der freien Wahrnehmung und freien poetischen Zuwendung zur Welt:

Ob wir nur weiterlügen,
Und nimmer Antwort kriegen.

Das ist schon sehr direkt und sehr allgemein zugleich. Wer soll das sein, wer lügt, wer lässt sich belügen? Aber in gewissen geschichtlichen Kontexten versteht man das dennoch ohne Umstände. Und man hat es verstanden. Das ins Umgangssprachliche triftende Verb »kriegen« bringt eine Nuance der Ruppigkeit und Grobheit ins Spiel, die alles zu rasche Einverständnis bricht. Bis heute sieht sich Uwe Kolbe dieser politischen Aufmerksamkeit und Sensibilität der Kunst verpflichtet, ohne dass er ein politischer Autor sein will. Sein fulminanter Brecht-Essay, 2016 erschienen, entwickelt die These, dass es Brecht vorgemacht habe, wie man sich mit einer Diktatur arrangieren und sie stabilisieren kann. So konnte man sich als Autor selbst entschuldigen wollen: indem man sich in Brechts Gefolgschaft einreihte und auf ihn, den großen sozialistischen Meister, bezog.
Ob und wie man das tut, das ist aber nicht nur eine Frage des politisch-gesellschaftlichen Gewissens, sondern der literarischen Kunst selbst mit ihren Schreibweisen. Die mag sich gerne ein wenig kritisch geben; das darf schon sein. Aber dort, wo sie sich äußern müsste, schweigt sie. Dieses Kompromisslerische ist Kolbe zuwider. Gerecht will dieser aufregende Brecht-Essay nicht sein. In welcher Weise auch? Aber er fordert ganz unmissverständlich Wahrhaftigkeit und Autonomie der Kunst ein, die, noch einmal, ihren Anspruch nur aus der Freiheit des Subjekts herleiten kann. Wirkliche Autonomie der Kunst ist für Kolbe nämlich der große symbolische Ausdruck der autonomen Würde des Menschen selbst, der nicht, nie bloß gebraucht, verbraucht, missbraucht, instrumentalisiert werden darf, schon gar nicht durch und für das Politische.

Nach vielen bedeutenden Auszeichnungen, die Uwe Kolbe schon erhalten hat, wurde ihm 2016 der Klopstock-Preis des Landes Sachsen-Anhalt verliehen. Das war eine besonders gute Entscheidung, weil Uwe Kobe sich mit dem Jahrhundert der Aufklärung intensiv auseinandersetzt. Jede selbstgerecht-engstirnige Form von Aufklärung ist ihm ein rotes Tuch; der ›höheren Aufklärung‹ Hölderlins, die an ihrer Selbstaufklärung ständig arbeiten muss, fühlt er sich aber verbunden, einer Aufklärung, die eben diese Idee der autonomen Würde der Kunst und des Menschen formuliert entfaltet hat. 1750 kam der junge Dichter Klopstock, dem ein großer Ruf vorauseilte, der große Dichter des so spektakulären Vers-Epos Der Messias zu sein, nach Zürich. Man hoffte, da komme einer, der sich in Dienst nehmen lasse. Aber weit gefehlt: Der junge Klopstock, ein begnadeter Selbstvermarkter, dem es als erstem Autor gelang, sich geradezu selbst zur Marke zu machen, kam sehr lebenslustig daher und hatte zum Entsetzen der Zürcher eher ein Auge für die schönen Bürgerstöchter: ausgerechnet er, der Messias-Dichter!
Ja, die Liebe, neben dem Politisch-Gesellschaftlichen und der Natur der dritte große Erfahrungs- und Entfaltungsraum der poetischen Subjektivität bei Klopstock – und auch bei Kolbe. Uwe Kolbes poetisches Ich darf in der Liebespoesie nicht nur radikal ich und radikal du sagen, sondern muss es auch, sonst taugen sie beide nichts: die Liebe und die poetische Sprache, die davon spricht. So sind Gedichte notwendig, unvermeidlich Gegenreden, wie der vorletzte, herausfordernde Gedichtband aus dem Jahr 2015 heißt. Gegenreden gegen das Gerede, gegen alle fragwürdigen sprachlichen Allgemeinheiten, die einem raschen Konsens zuarbeiten, der ein Verrat an der Kunst und damit am Menschen selbst wäre. 

Aber noch einmal zurück zu meinem Anfangsgedicht, zurück zu einem Gedicht des Anfängers Kolbe, von dem Franz Fühmann schon staunend und pathetisch sagen konnte: Ecce poeta! Noch einmal also die Eingangsverse:

Ob wir alle aus Lehm sind,
Starrer, schweigender Grind.

Ist das eine Frage? Soll das eine sein: Ob wir alle aus Lehm sind? Eine Feststellung? Ist das eine Ansprache: »Starrer schweigender Grind«, du, der alte sture Schädel. Oder du, der du, nur noch der alte Starrkopf an der Spitze unseres Landes, du, der du nichts begreifst, du, der Schorf, die Kruste über einer Wunde, die gleich wieder zu bluten beginnt, kratzt man nur am »Grind«. Aber wie schwingt dieser Doppelvers, welches Gespür für Rhythmus äußert sich hier!

Ob wir alle aus Lehm sind,
Starrer, schweigender Grind.

Lyrik, das muss auch für Kolbe Formarbeit sein. Damit steht er in einer großen Tradition, in der sicher Gottfried Benn eine besondere Rolle für ihn spielt. Kolbe beherrscht das poetische Repertoire in der ganzen Breite, auch bis hin zu einer fast klassizistisch anmutenden Kühle und Abgeklärtheit, die sich zum Beispiel in den jüngsten Sonetten äußert. Ein Beispiel aus den Lietzenliedern (2012):

So warten

So warten wie ein Wels im Grund des Flusses,
so warten, wie er wartet, wie er weiß,
die werden eines Tages kommen, leis,
den Haken an der Stelle eines Grußes.

So warten ohne Groll von allem Anfang,
so wissen, dass das Ende kommen wird,
dass jeder am Geborensein verdirbt
und sich bereitet zu dem großen Landgang.

Genau gesagt: hier gibt es gar kein Warten,
genau gesagt: so resch, so frisch zu bleiben,
das mach' dem großen Fische einer nach,

wenn wir ihn ernten in dem feuchten Garten,
sein Fleisch in große, weiße Stücke teilen,
wir, die ihn nun verspeisen, wir, sein Grab.

Kolbes Lietzenlieder sind nicht nur Naturgedichte; sie sind auch existenzielle, ja, ich möchte sagen: in gewisser Weise religiöse Lieder. Hier wird ein Abendmahl gefeiert! Aber was für eines. Hören Sie auch die Rilke-Anspielungen? Im Gedichtband Gegenreden gibt es sogar zwei Duino-Gedichte.
Und es sind ebenso Lieder, die von der Dichtkunst und vom Dichter sprechen. Kolbe, der in Berlin am Lietzensee gelebt hat, hat immer Naturlyrik geschrieben und sich nie um die Bedenken gekümmert, dass, mit Brecht, »ein Gespräch über Bäume« in unseren heutigen Zeiten »fast ein Verbrechen« sein könnte. Naturlyrik schreibt Kolbe nicht mit schlechtem Gewissen, nicht mit dem didaktischen Fingerzeig, der nur auf Verstädterung, Industrialisierung, Naturzerstörung, Entfremdung und Verlust authentischer Erfahrung hinweisen will. Den Wahrnehmungsschatz der Natur lässt Kolbe sich nicht ›abzwingen‹ (nach einem Wort von Andreas Gryphius, dem Kolbe 2016 ein umfangreiches Lesebuch gewidmet hat). Dennoch bleibt seine Lyrik durchlässig für die geschichtliche Zeit. Sie erlaubt sich den Anspruch, dass, mit Adorno zu reden, das »Subjekt, dem der Ausdruck glückt, zum Einstand mit der Sprache selber kommt«, im poetischen Augenblick, wenn es »in der Sprache untertaucht«.
»Lietze« ist ein sorbisches Wort. Am Sorbischen hängt eine ganze Kultur, eine Minderheiten-Kultur, die es schon zu DDR-Zeiten nicht leicht hatte, die uns heute erst recht anachronistisch vorkommen mag und nun vollends aufgerieben zu werden droht in der Dynamik unserer Zeit. Im Sorbischen, das zu der Gruppe der slawischen Sprachen gehört und in Ostdeutschland noch nicht ganz ausgestorben ist, bezeichnet »Lietze« das Blesshuhn. Wer je ein solches gehört hat, weiß schon: Es sind schon ziemlich schräge Lieder, die dieser ostdeutsche Wasservogel singt, wenn er seine sorbisch-fremden Töne hervorbringt.
Der Titel des Bandes Lietzenlieder sagt also ziemlich deutlich: Ich, der ich hier singe, gehöre zu einer bedrohten Minderheit. Lies mich darum ruhig auch auf mein Verständnis von Dichtkunst hin und vergiss auch das Autobiographische nicht:

Der Quell ostdeutscher Flüsse ist ein Tränenstrom,
der sich seit ein paar hundert, wenn nicht tausend Jahren
stets neu aus sich heraus mit Tränen, sonderbaren,
auffüllt, in denen dann die großen Zander baden.

So heißt es im Sonett Märkische Bewässerung. (Und wieder schwingt Gryphius mit.) Abstraktes, Allegorisches und ganz Konkretes verschränken sich völlig. Wer nur »die großen Zander« sein mögen?

Noch einmal zurück und nun endlich zum Schlussvers des Anfangsgedichtes, eine Wiederholung;. Jetzt wird der Vers jedoch mit einem Ausrufezeichen abgeschlossen: »Ob wir alle aus Lehm sind!« Der Zorn über diese geschichtliche Vergessenheit und Verlogenheit ist auch ein Zorn über eine existenzielle Vergessenheit: Aus Staub sind wir, und zu Staub werden wir, wir Erdenklöße, wir Lehmklumpen. Es ist auch ein Memento mori-Gedicht; der junge Kolbe – »Ich bin achtzehn. / Im Sozialismus aufgewachsen. / Hab keinen Krieg erlebt.« (aus dem Band Hineingeboren) – scheut sich nicht, so deutlich und so pathetisch zu werden. Er verleugnet nicht, dass er literarisch auch vom Expressionismus herkommt. Die berühmte expressionistische Anthologie Menschheitsdämmerung gehört zu seinen prägenden Lektüren. Viele weitere kamen hinzu. Dass er nie studiert habe, sagt er immer wieder; ein hochgebildeter Dichter ist er dennoch, der mit vielen Autoren und Texten im lebhaftesten geistigen Austausch steht, von Homer und Ovid und der Bibel angefangen, und der an der Universität Amsterdam das Recht hat, an literaturwissenschaftlichen Promotionsverfahren mitzuwirken.
Er schreibe »die schlichtesten Gedichte, die man derzeit lesen könne von deutschen Autoren«, sagte Uwe Kolbe einmal von sich. Und Kolbe fährt dann fort: »Wenn ich für meine Gedichte eine Lesehilfe geben würde, würde ich immer sagen: Nimm es so verflucht konkret und profan, wie es wirklich ist.«
Die Gegenreden von 2015 wollen auch »Reden« sein; sie sind gerichtet, auf dich, auf mich, auf uns; »gegen« uns sind sie und uns entgegen; sie wollen nicht hermetisch für sich sein, gerade wo sie auf Autonomie beharren: 

Moos

Sie lagen auf der Lichtung am Morgen,
weit auseinander, Reh, ein Paar,
getrennt durch die Fläche Moos.
Links sie, rechts er, eins schaute das andere an,
sichernd mit den Ohren, innig zugleich.
Wir standen, folgten den Blicken der Rehe.

Da schnauft man doch erst einmal tief durch. Das verkitschteste und trivialste Liebessymbol, das Rehlein. Muss das sein?

Hast ein Reh du lieb vor andern,
Laß es nicht alleine grasen,
Jäger zieh’n im Wald’ und blasen,
Stimmen hin und wider wandern.

Wir kennen das, Eichendorff, Zwielicht; schon der hat sich bis zum Trivialen vorgewagt. Aber nehmen wir es doch, mit Kolbe, »verflucht konkret«, fordern wir unsere Einbildungskraft heraus: »Innig« aufeinander bezogen und doch unterschieden (auf »getrenntesten Bergen«, wie es bei Hölderlin heißt, den Kolbe in- und auswendig kennt), zwischen den beiden das Moos, ein ganz einfaches und doch schweres, ganz altes Symbol; »sichernd mit den Ohren«, auf der Hut. Vor wem? Vor einander, vor sich selbst? »Hüte dich, bleib’ wach und munter!« So schließt Eichendorff. Und »wir« sehen das seltsame und vertraute Paar und ziehen unsere Schlüsse. Denn das ist ein Liebesgedicht in doppelter Perspektive.
Uwe Kolbe liebt das Knappe, Haikuhafte, Emblematische: 

Psalmen

In dem Gehäuse der Lieder,
im singenden Baum von Morgen bis Abend,
der Dank, dass in dem Dafür und Dawider
der Welt Kreaturen das Stimmrecht haben.

Das sollen Psalmen leisten, diese ganz alte Gattung, »im Gehäuse der Lieder«, im ganzen Feld der Dichtung, das hier von der Bibel über Hölderlins Friedensfeier (»von Morgen bis Abend«) bis zur Gegenwart reicht. In diesem Herbst nun hat Uwe Kolbe einen ganzen Band mit ›seinen‹ Psalmen vorgelegt: »Hier sind meine Psalmen, Lieder nach alter Art, Gebete, hier kommen sie, die sind es, die habe ich gemacht. […] Dies sind Psalmen eines Heiden, der Gott verpasste, weil keiner bei dem Kinde ging, der sagte, hörst du die Stimme?«
Schon im frühen Gedicht Kolbes hat sich mit dem expressionistischen Sprachregister auch das religiöse angekündigt. Jetzt wird es weiter entfaltet. Von Engeln und vom Limbus ist neuerdings die Rede. In Gegenreden gibt es einen Zyklus von sechs Gedichten unter dem Titel Tagwerk in Anspielung an die sechs Schöpfungstage. Und im Langgedicht Orlando, das sich auf Virginia Woolfs Verwandlungsroman bezieht, heißt es am Schluss lakonisch: 

[…] Aber
verstehe, Orlando, mich als eine Frage,
und 1. Tim. 6, 11, die letzten drei.

Das kann man eigentlich gar nicht lesen und vorlesen, weil es uns rhythmisch im Vollzug aus feinsinniger poetischer Gestimmtheit hinauswirft. Im ersten Brief an Timotheus heißt es bei Paulus an dieser Stelle: »Du aber, Mensch Gottes, fliehe diese Dinge«, die Dinge nämlich, die dich vom Wesentlichen abhalten. Weiter heißt es: »strebe aber nach Gerechtigkeit, Gottseligkeit, Glauben«. Und dann kommen diese »letzten drei«, auf die Kolbe anspielt: Liebe, Geduld, Sanftmut.

Lieber Uwe Kolbe, Du kannst so kühn, so frech, so wütend, so pathetisch, so hymnisch, so ironisch reden – aber auch so: so anrührend diskret. Du hast ein so großes Herz und einen so freien und weiten Geist, und Du entfaltest mit Deinem Werk eine so große poetische Begabung für das ganz genaue poetische Bild, das wir uns ein-bilden müssen. Manchmal, fast anstrengungslos scheint es, redest Du auf uns zu, ohne Dich auf Mätzchen bloß selbstzweckhafter Raffinesse einzulassen. Alles, sagt Schiller, was ein Dichter uns geben könne, sei seine Individualität, aber »hinaufgeläutert« zur höchsten Menschheit. Ganz so pathetisch würden wir es heute wohl nicht mehr ausdrücken. Subjektivität, ja, unbedingt. Aber in der Präzision der Form und der Konkretheit des poetischen Bildes, die die bloße Subjektivität übersteigt.
Heute, am 17. Oktober 2017, wirst Du 60 Jahre alt. Dazu sei Dir herzlichst gratuliert!

 

Dies ist der etwas gekürzte und überarbeitete Text der Laudatio, die Wolfgang Braungart auf Uwe Kolbe zur Verleihung des Klopstock-Preises für neue Literatur 2016 hielt.

Uwe Kolbe, 1957 in Ostberlin geboren, übersiedelte 1988 nach Hamburg und lebt heute in Dresden. Seit 2007 war er mehrfach als »Poet in Residence« in den USA. Für seine Arbeit wurde er u.a. mit dem Stipendium der Villa Massimo, dem Preis der Literaturhäuser, dem Heinrich-Mann-Preis und dem ...
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