Ich bin in Venezuela geboren, einem Land, in dem man sogar Blumen plündert. Wir kennen den Tod genauso gut wie uns selbst: Wir sind mit ihm aufgewachsen, er klebt immer an uns. Wir werden getötet oder töten uns, wir begraben und werden begraben. In Venezuela, meiner Heimat, tanzen wir für die Toten, beweinen sie und feiern Feste für sie. Sie erinnern uns daran, dass wir bald unter oder von der Erde vertrieben sein werden, die sie beherbergt. Unter den Bäumen flüstern sie unsere Namen und erahnen unser Schicksal.
Während der letzten Tage sind in Venezuela viele Venezolaner gestorben. Männer und Frauen, zusätzlich zu den Hunderten Ermordeten unter Nicolás Maduro, dem Mann, den Hugo Chávez Frías mit erhobener Faust als seinen Nachfolger bestätigte. Damals war Chávez, wie wir, einen Schritt von seinem Gab entfernt und wusste nicht, wie viele weitere Tote seinen Garten des Unrechts noch düngen würden. Seit 2014, dem Jahr, in dem Nicolás Maduro Oberstleutnant Hugo Chávez Frías ablöste, hat der Venezolaner im Durchschnitt elf Kilo an Gewicht verloren, und fast drei Millionen Bürger sind geflohen, weit, sehr weit weg von dem Ort, wo sie hingehören.
Seit 2014 sind fünf Jahre vergangen. Venezuela wird durch Nicolas Maduro immer noch als das Regime von Hugo Chávez regiert, aber die Devisenkontrolle des Landes ist fast 20 Jahre alt, die Inflationsrate beträgt mehr als eine Million und das Land leidet an einer 90%-igen Unterversorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten. Offizielle Zahlen über Opfer von Gewaltverbrechen gibt es nicht mehr, weil der Staat sie liefern müsste. Aber die Venezolanische Beobachtungsstelle für Gewalt, eine unabhängige Organisation, berichtet von 73 Mordopfern täglich durch gemeines Gesindel und mindestens 350 politischen Insassen in venezolanischen Gefängnissen. Ja, es sind fünf Jahre vergangen.
Zwischen der Geburt unseres Venezuelas und desjenigen, das heute seine Zukunft verspielt, findet der größte Abriss der Zivilgesellschaft statt, den je ein Land erlebt hat. Es ist schon einige Monate her, da brandmarkte der Präsident der Nationalversammlung, Juan Guaidó, die Verfassungswidrigkeit einer Regierung, die den Willen der Bürger mit manipulierten und ungesicherten Wahlen usurpiert, worauf Nicolás Maduro die Seinen beruhigte. Er sei in die Zukunft gereist, sagte er, und diese verspreche nur Frieden und Demokratie. Ja, das hat er gesagt. Für einen, der aus der Zukunft kommt, scheint Nicolás Maduro sich in einigem nicht ganz klar zu sein. Denn obwohl er Witze reißt und in Gelächter ausbricht, um sich selbst ins Recht zu setzen, hat Maduro nichts von dem, womit er prahlt: er hat weder Recht, noch die Macht und noch viel weniger die Zukunft.
Der Handlungsspielraum für Hugo Chávez’ Nachfolger wird immer enger. Die Toten seines Regimes scheinen ihre Gräber zu verlassen und das Recht zu fordern, das uns Lebenden versagt bleibt. Sie sind es, die ihn aus dem Regierungspalast Miraflores hinausdrängen: die Gespenster all derer, die er erschossen, erschlagen oder Hungers hat sterben lassen - so töten Diktatoren. Die rastlose Seele eines Landes im Todeswahn klopft bei ihm an und er weiß nicht, was er tun soll. Für einen, der aus der Zukunft kommt, lacht Maduro zu krampfhaft und mit zuviel Angst. Die gescheiterte Revolution hat nichts mehr, um ihre Krieger und ihre Wachen mit den Epauletten zu ernähren; seit einer Weile füllt nur noch die Scham die Taschen der Militärs. Auch ihre Kühlschränke leeren sich. Denn sie können nicht mal mehr stehlen. Eine Revolution ohne Öl hat auch keine Länder mehr, die sie im Tausch gegen den bolivarischen Happen unterstützen wollen, selbst wenn der jahrelang viele geködert und sogar eine Handvoll politischer Führer aufgezogen hat; angefangen bei Evo Morales bis hin zu den Youngstern von Podemos und der Vereinigten spanischen Linken - eine Rettungspatrouille des Autoritarismus, die noch immer für Ferien im venezolanischen Themenpark bezahlt.
Ich bin in einem Land geboren und aufgewachsen, das Männer und Frauen von anderen Kontinenten aufgenommen hat. Schneider, Bäcker, Maurer, Klempner, Krämer, Händler, Übersetzer, Journalisten, Lehrer, Spanier, Portugiesen, Italiener und ein paar Deutsche, die am Ende der Welt einen Platz suchten, um das Eis neu zu erfinden. Mein Vater war Spanier, meine Mutter die Enkelin kreolischer Frauen, die Ende des 19. Jahrhunderts Italiener aus Venetien heirateten, Männer, die im Hafen von La Guaira an Land gingen, um in den Tälern von Aragua die Eisenbahn zu bauen. Sie sind der Beweis, dass unser Land das Gegengift in Lebens, Arbeit und Aufopferung suchte, sie, die Menschen, die in Venezuela den Ort fanden, wo sie den Keim für den Aufbau eines neuen Landes pflanzen konnten: einer Heimat bestehend aus der ihren und der unseren zusammen.
Venezuela könnte endlich Frieden finden. Demokratische Wahlen, die von der Nationalversammlung angesetzt werden, wären die offene Tür, damit wieder Ordnung einkehrt, wo etwas kaputt gegangen ist. Aber das Schweigen der spanischen Regierung, vertreten durch Pedro Sánchez, und sogar die Unentschlossenheit der EU sind Schippen voll Erde aus dem Grab das die Trägheit schaufelt. Das ist nicht verwunderlich. Wir Venezolaner stehen unter dem Fluch der Kassandra: Wir haben versucht zu warnen, aber es war vergeblich. Niemand hat uns geglaubt. Dieses Schweigen tut weh. Es tut mir weh und meinen Toten: denen, die durch Venezuelas bolivarisches Regime umgekommen sind; denen, die es nicht mehr haben fallen sehen; denen, die als lebende Tote leiden und ins Exil geschickt wurden; denen, die getrieben von Hunger und Verzweiflung über die Straßen schlurfen; denen, die sich nach einem Land zurücksehnen, das es nicht mehr gibt; denen, die, wie meine Großeltern, das Meer überquert und ein neues Land erschaffen haben, indem sie ihres und unseres vermischten.
Dafür, dass er aus der Zukunft kommt, merkt Maduro scheinbar nicht, dass die Verfassung, die das Regime selbst vor 20 Jahren erlassen und bestätigt hat, ihm Unrecht gibt. Dieser Text, den er genutzt hat, um sich an der Macht zu halten, beschreibt in Artikel 233 die Aberkennung des Mandats und die Notwendigkeit von Neuwahlen binnen 30 Tagen. Das ist kein Staatsstreich, denn gegen einen nicht-existenten Staat lässt sich kein Staatsstreich verüben. Aber weder der Tyrann noch seine Patrouille heiserer Rufer scheint das zu merken. Eine Heimat, wenn es sie gibt, dann an dem Ort, den wir gemeinsam einnehmen, die Lebenden und die Toten. Wir Venezolaner werden die Unsrigen erst beerdigen können, wenn Frieden und Gerechtigkeit herrschen. Im Augenblick gibt es für uns weder das eine noch das andere.