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»…wenn wir uns sehen, wird alles schlagartig gut, soviel ist sicher!«

114 Silvia Bovenschen
© © Inge Zimmermann

schrieb ich Silvia auf einer der Postkarten, von denen ich ihr in den ersten sechs, sieben Jahren unzählige schickte. Ich schrieb ihr, um ihr nah zu sein (wir kannten uns noch nicht gut genug, als dass ich sie öfter hätte anrufen können), von unterwegs, auf Reisen oder von zu Hause, ich schrieb ihr, sobald ich eine originelle Karte fand oder eine Beobachtung machte, von der ich annahm, sie könnte sie amüsieren. Ich schrieb überschwänglich oder melancholisch und immer mit der Sehnsucht, sie bald zu besuchen, denn so war es: Nach einem Besuch bei ihr ging ich beglückt nach Hause. 

Silvia Bovenschen lernte ich 2001 in einer Radiosendung kennen, in der es um Ingeborg Bachmann ging. Denis Scheck hatte uns eingeladen: sie, die berühmte Literaturwissenschaftlerin, Essayistin und Literaturkritikerin, und mich, die junge, unbekannte Schriftstellerin. Ich weiß nicht mehr, was gesagt wurde, nur dass ich bald schwieg, um sie zu hören. Ich hätte ihr ewig zuhören wollen, dieser Treffsicherheit ihrer Rede, ihrer argumentativen Schärfe, dem Witz, der Leidenschaft, der Empathie dieser elegant gekleideten, schönen Frau, der ich beim Hinausgehen ungelenk sagte, ich würde sie gern einmal wiedersehen.

Esprit. Das war es, was sie so anziehend machte. Esprit, der sich in der Freude am intelligenten Streit, am steilen Argument und an guten Geschichten ausdrückte, in kritischer Selbstdistanz und dem Vergnügen, davon pointiert zu erzählen und in einer engagierten Weltzugewandtheit. Diese Zugewandtheit schloss auch Feststellungen mit ein, wie Silvia sie in ihrem großen unzeitgemäßen Buch »Sarahs Gesetz« von 2015 traf, »dass meine Welt, mein Europa und all das daran, das ich liebte, vergangen ist, unwiederbringlich verloren. Es ist nicht so, dass mir die neue Welt, in der ich jetzt noch überdauere, völlig fremd wäre, auch hätte ich genug geistige Leistungskraft, mich in einige erforderliche Usancen und Könnerschaften der Technologie einzuwühlen. Da ich aber darin keine Eleganz und keine Poesie und am wenigsten einen Trost für das Leiden der Kreatur zu sehen vermag, werde ich das nicht tun.«
Darum kreisten die Gespräche in den letzten Jahren öfter, und was sie tat, war Bücher zu schreiben, die ihr Spaß machten. Sie setzte der »Infantilisierung und Brutalisierung« der Gegenwart ihre mit Traditionen des Absurden spielenden, tollen Nichteinverständniserklärungen entgegen; »Nur Mut« oder »Lug & Trug und Rat & Streben«, das nun posthum erscheint. Reagierte man in solchen Gesprächen zu langsam oder konterte nicht, wirkte sie nicht gerade glücklich. Aber nachsichtig war sie immer, jedenfalls mit mir. 

Esprit. Dieses Wort hat sie selbst gern verwendet. Es sei ganz aus der Mode, fügte sie jedes Mal hinzu, kein Mensch wisse mehr etwas damit anzufangen. Trostlose Zeiten, in denen ein Wort wie dieses bloß noch für eine Bekleidungsmarke stehe. 

Seit Silvia benutze ich angstfrei den Konjunktiv I. Dank Silvia besitze ich einen stummen Diener. Durch Silvia erlebte ich das Zusammentreffen von Stil und Intellektualität als Steigerung von Schönheit. Ich lernte, spießiges Biedermeier von elegantem Biedermeier zu unterscheiden, nachdem ich Silvia in Charlottenburger Antiquitätenläden begleiten durfte, in die sie nicht ging, um etwas zu kaufen oder jedenfalls nicht nur; die Auswahl des Mobiliars und die Atmosphäre eines Ladens interessierten sie, die Ansichten der Inhaberin. (Damals nahmen wir noch den schwarzen Miniklapprollstuhl mit, der wie ein Aktenkoffer getragen werden konnte. Waren die Gespräche gut und dauerten länger, wurde er aufgeklappt.)

Undatierte Postkarte, Berlin. 
»Dein stummer Diener mit schwerer Winterkleidung beladen, in der bevorzugten Ecke meines Zimmers erinnert mich daran, wie ich dich das erste Mal sah, im Anzug, im Ton-Studio, der Gehstock mit silbernem Vogelknauf, & wie deine Stimme übers Mikro kam, ruhig & kraftvoll, als wäre sie Brücke & Pfeil in die Welt, & alles, was sich darin abgelagert hat, noch das Ungeheuerlichste, durchweht diese Eleganz.«

Sie schenkte mir den ausgefallenen Kleiderständer, als sie aus Frankfurt zu ihrer Freundin Sarah Schumann nach Berlin zog, und warnte mich, der Holzbügel könne zu kurz sein, den habe sie auf ihre Größe hin verkleinern lassen. 

Wenn ich ihr schrieb, gingen jeder Postkarte oft mehrere Entwürfe voraus. Postkarten verlangen Sparsamkeit, und ich schrieb an jemanden, die mir erklärt hatte, dass Unstimmigkeiten eines Textes oft in den Sätzen selbst stecken, dass die Arbeit an Satzbau und Wortwahl auch Mängel auf der Handlungsebene beheben könne. Unsauberes Denken zeige sich in sprachlicher Unsauberkeit.
Joan Didion formulierte einmal etwas Ähnliches. Zwischen der großen, durch und durch amerikanischen Skeptikerin und der von europäischer Literatur, Philosophie und Kunst geprägten, großen deutschen Intellektuellen gibt es eine überraschende Nähe. Ob Essay oder literarische Fiktion; Bovenschen und Didion sind jede einzigartig in der sprachlichen Reduktion, der kompromisslosen Reflektiertheit, der durchdringenden Beobachtung, der präzisen Formulierung, und ich weiß, dass Silvia die Bücher von Didion sehr mochte. 

Jetzt wünschte ich, ich hätte die Postkartenentwürfe aufgehoben. Nur selten notierte ich einige Zeilen im digitalen Notizbuch, das ich zu dem Roman anlege, an dem ich gerade arbeite. Die Zeilen stehen da wie eine Erinnerung daran, dass Silvia mein Schreiben schon begleitete, bevor sie meine Lektorin wurde (als könnte ich das vergessen).

Oktober 2003, Heinrich-Heine-Haus, Lüneburg.
»...an einem dem Roman ferneren Ort könnte die ‚Tupolew‘ kaum geschrieben werden. In meine Vollkomfort-Wohnung dringt Pferdegetrappel und Porzellanglockenspiel, Fachwerk hängt ins Wasser, Backsteinhäuser lehnen auf schiefer Schulter…«

Wenn ich längere Zeit keine passende Karte fand, löste das in mir echte Not aus. 

November 2003, Lüneburg.
»Ich habe jetzt in einer kleinen Buchhandlung ein Postkartendepot entdeckt, wir sind gerettet!«

April 2004, Los Angeles. Auf der Karte eine Barbiepuppe als Langstreckenrakete, Jack Ryan helped design the first barbie in 1959. He went on to design missiles for the pentagon. 
»... habe, seit ich hier ankam, so ein sich verstärkendes Sozialismusgefühl, die unterschwellige Furcht, ständig etwas falsch zu machen, darauf zielen auch solche Kuriositäten wie verordnetes Schlangestehen vor dem Kino ab, obwohl der Film gar nicht ausverkauft ist, & keiner wagt sich aus der Reihe…«

Aus den USA schrieb ich öfter an Silvia, die gern von sich sagte, sie sei die einzige Deutsche, die noch nie in Amerika gewesen sei. Nach ihrem bahnbrechenden literaturwissenschaftlichen Werk »Die imaginierte Weiblichkeit« hatte sie Einladungen auch von amerikanischen Universitäten erhalten, konnte die transatlantische Reise aber wegen ihrer chronischen Krankheit nicht antreten. Daraufhin sei sie von einer aufgeregten, hektisch umherdüsenden amerikanischen Wissenschaftlerin besucht worden; »die deutsche feministische Literaturwissenschaft in drei Tagen!«
Die Geschichte darüber, wie ich dieser Wissenschaftlerin durch Zufall auf einer Konferenz begegnete und ihren Namen erfuhr, war eines der Dinge, die ich Silvia aus den USA mitbrachte. Ich brachte ihr auch vier kleine Seifenstücke in einer Box mit. Die Seife war von Tiffany‘s, die Box von unbeschreiblichem Blau. Ich weiß nicht mehr, ob sie oder Sarah mir gesagt hatte, sie würde den Duft dieser Seife so mögen. Sie benutzte sie nicht oder nicht sofort. Sie legte die in Seidenpapier eingeschlagenen Seifenstücke in den Kleiderschrank, der sich, so stelle ich es mir vor, jedes Mal, wenn sie ihn öffnete, auftat wie New York. Truman Capote, Audrey Hepburn, der Duft des alten Amerikas wehte durch ihr in einem ebenso unbeschreiblichen Blau gestrichenes Zimmer. Sie schien die Stimmung dieses Amerikas zu mögen; das Amerika der 70er Jahre mochte sie schon nicht mehr.

Sicher gibt es in der liebevoll und erlesen eingerichteten Wohnung noch weitere solcher Details, solcher ausgesuchten Kleinigkeiten wie die Seife, von denen andere ihrer Freunde Kenntnis haben werden. Andere aus ihrem Rudel, wie Silvia, die Hunde so liebte, gern sagte. Man müsse sich doch kümmern um die, die zum eigenen Rudel gehören, sagte sie manchmal voller Wärme am Telefon, wenn sie anrief, um zu hören, wie es mir ging. Und wenn ich über eine Erkältung klagte, linderte sie, die mit ganz anderen Schmerzen, Gefahren und Ängsten kämpfte, mein Halsweh mit ihrem Trost. (Kämpfe, deren Einzelheiten sie ihren Freunden möglichst ersparte, »ach, das ist doch langweilig«, war oft ihre Antwort, wenn ich nach ihrem Befinden fragte, und besuchte ich sie im Krankenhaus, legte sie sich ein schönes Tuch um, und wir stahlen uns für eine Mentholzigarette hinaus in den Park). 

Juni 2004, Los Angeles.
»Auf einer Privatparty hoch über der Stadt habe ich den Fehler gemacht, mich wie ein Teenager zu verlieben, weshalb ich länger bleiben muß, ich weiß, ich habe dich nicht mal um Erlaubnis gefragt (du könntest sie mir nachträglich erteilen)!«

Mit Silvia befreundet zu sein, machte mich übermütig und glücklich.

Für den Postkartenstrauß zu ihrem 60. Geburtstag, an dem ich lange bastelte, habe ich eine Datei angelegt. Ich schrieb ihr sieben Karten, jeden Tag der Woche eine. 

Montag 
(M.C. Eschers Zauberspiegel, die geflügelten Hunde können aus ihrem eigenen Spiegelbild herauslaufen) 
»Bin heute bei der Suche nach einer Wohnung auf ein Haus am Strand gestoßen, man wohnt dort am günstigsten als Haus-Sitter, aber das Haus gab´s nur mit Hund, einem schönen deutschen Schäferhund - klar, wenn ich ihn dir überlassen könnte ... So aber habe ich mir so viel Mut doch nicht zugetraut.« 

Dienstag
(Temptation of Christ aus dem Book Of Kells, Trinity College in Dublin) »…sehr gold, sehr warm, die Christus-Hände so schlank wie die Hände auf Sarahs Gemälden, die Gesichter allerdings durchweg enttäuscht, wohl von ihrer eigenen Reglosigkeit … Der Ballon über dem Potsdamer Platz fliegt heute nicht oder steckt hinterm Rauch aus dem Schornstein gegenüber, mein winterlicher Fensterblick, & käme ich auf der Fluglinie zu dir, wäre das eine ziemlich gerade Strecke, ohne Abbiegen, in den weiteren Westen der Stadt.«

Als sie meine Lektorin wurde, trafen wir uns vierzehn Tage lang jeden Tag, gingen das Manuskript von »Kältere Schichten der Luft« Satz für Satz durch. Wir hatten beide je eine Kopie vor uns. Wenn ich mich aufrichtete, konnte ich die Anstreichungen auf ihren Seiten sehen. Sie saß mir gegenüber, rauchte und deckte radikal jede Schwäche auf. Und wenn sie das Gefühl hatte, zu arg Kritik geübt zu haben, erzählte sie die Geschichte von einem guten Freund und Mentor, dessen größtes Kompliment zu einem ihrer Texte die Bemerkung ‚diesmal nicht so schlecht wie sonst‘ gewesen sei. 

Ich liebte ihren unbestechlichen Blick. Und wurde manchmal so wütend, dass ich im Auto auf der Fahrt nach Hause laut vor mich hin schimpfte und am nächsten Tag nicht wiederkommen, ihr nie mehr eine einzige Zeile zeigen wollte. Aber sie hatte recht. Ihr Blick hat meine Sprache geschliffen. Und während ich das denke, kommt die schöne, vertraute Panik noch einmal auf.

Juli 2007, Potsdam.
»...was mündlich immer, ich weiß nicht warum, zu Staub zerfällt, noch bevor es gesagt wird, läßt sich auf der Postkarte und nachträglich vielleicht besser formulieren: wie reich mich diese Stunden machen, dieses Arbeiten mit dir. Es ist vielleicht nicht mein bestes Buch, aber es wird immer das erste der Bücher sein, die durch deine Stimme und deine Gedanken gegangen sind, und damit ist es mein bestes.«  

Meine letzte Postkarte schrieb ich Silvia Anfang Oktober diesen Jahres aus Tallinn. Ich hatte ihr lange keine Karten mehr geschickt. Die Gespräche mit ihr, die langen Nachmittage bei Kuchen und Kaffee aus Sarahs jadefarbenen Bechern - auch Sarah war dabei, kam aus ihrem Atelier und setzte sich zu uns  - , dieses Zusammensein zwischen den Büchern und den Gemälden am Tagesbett mit der farbenprächtigen Decke, auf dem Silvia auch dann in einem feinen, zweireihigen Anzug und Lederschuhen saß, wenn es ihr schlechter ging als sonst, schien wichtiger geworden zu sein als die Karten. Aber in der Buchhandlung in Tallinn, als ich vor den Postkarten stand, hatte ich das Gefühl, es wäre entscheidend: Ich muss ihr dringend schreiben.  


Antje Rávic Strubel

Silvia Bovenschen, geboren 1946, gestorben am 25. Oktober 2017, lebte als Autorin, Literaturwissenschaftlerin und Essayistin zuletzt in Berlin. 2000 wurde sie mit dem Roswitha-Preis der Stadt Bad Gandersheim und dem Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet, 2007 erhielt sie den Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik und 2012 den Schillerpreis ...

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