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This will change

Esther Becker schweigt für 10 Tage. Sich gefangen fühlen, schlafwandeln oder einfach den Rest des Lebens planen? Vielleicht ja alles auf einmal.

Esther Becker
© © Françoise Caraco

This will change

Im Bus zum Bahnhof schreibe ich letzte Kurzmitteilungen. 
Im Zug schreibe ich letzte E-Mails. 
Ich melde mich ab, kläre Missverständnisse, mache Verabredungen, gebe Termine durch, wünsche schon mal vorab ein frohes neues Jahr. 
Ich blättere in Cortázars Bestiarium; Sheila Hetis Motherhood wartet noch eingeschweißt auf mich, ich hebe es mir für die Rückfahrt auf.
Ich höre Musik im Shuffle-Modus.
Ich notiere ein paar Gedanken.
Ich kommuniziere auf Vorrat, lese auf Vorrat, höre Musik auf Vorrat, schreibe auf Vorrat.

Als könnte ich mich vorbereiten. 

In der amerikanischen Anwaltsserie The Good Wife lässt sich Cary Agos (eine der Hauptfiguren) vor seiner Urteilsverkündigung auf einen Gefängnisaufenthalt vorbereiten. (Er ist natürlich unschuldig, aber man weiß nicht, wie die Würfel des amerikanischen Rechtssystems fallen werden.) Ein Profi wird engagiert, der ihn ein wenig Nahkampf lehrt, die wichtigsten Knastregeln erklärt und ihm rät, noch schnell mit jemandem zu schlafen. Er wird dann doch freigesprochen.
In Keeping Up with the Kardashians muss Khloé Kardashian wegen Trunkenheit am Steuer ins Gefängnis. Vor Antritt der Haftstrafe lässt sie sich extra noch einmal Haare und Make-Up machen, aber die Kardashians schminken sich auch bevor sie zum Gebären ins Krankenhaus fahren. Nach ein paar Minuten kommt Khloé wegen Überfüllung des Gefängnisses wieder raus. 
Im Grunde wusste ich also, was zu tun ist.

Das, wo ich jetzt hinfahre, ist kein Knast, keine Klinik, kein Kloster, vielleicht eine Mischung aus alldem, ich werde jedenfalls schweigen. Zehn Tage lang meditieren: Vipassana.
Meine Bücher, mein Notizheft und mein Telefon werde ich abgeben. Auch mein Portemonnaie, das mir kürzlich in einer Bar geklaut worden war und nachdem ich alle Karten gesperrt bzw. ersetzt hatte, per Post zu mir zurückkam. Im Münzfach befindet sich ein Medaillon, ein Geschenk, das mir viel bedeutet, obwohl ich nicht religiös bin. Es zeigt den heiligen Christophorus, wie er das Jesuskind auf seinen Schultern über einen Fluss trägt.[1] Das Telefon wird in Zeitungspapier eingewickelt werden und mit Klebeband verschnürt wie ein verspätetes Weihnachtsgeschenk.

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Der Reißverschluss meines Handgepäckkoffers ging erst zu, nachdem ich mich draufgesetzt hatte, Bettwäsche, Handtücher, Thermoskanne, Wärmflasche, Taschenlampe, Wecker, das braucht Platz. Die Bettwäsche habe ich von meinen Eltern geliehen, meine ist zu groß für ein Einzelbett.
Ich habe letzte Nacht mit niemandem geschlafen.
Ich habe mich heute Morgen nicht geschminkt.
Ich habe von meiner Schwester warme Hausschuhe geliehen und im Humana eine Jogginghose gekauft.[2] Ich habe an Ohrstöpsel gedacht. 

Ich gehe davon aus, intensiver zu träumen als gewöhnlich, was sich bewahrheitet. 
Zuerst werde ich wilde Entwöhnungsträume haben, in denen Computer- und Telefonbildschirme eine Rolle spielen. Dann werde ich – ganz klassisch – im Traum ungelöste Konflikte mit nahen Menschen ausfechten und zwar in epischer Länge. Reizarmut bei Tag, Melodram bei Nacht. 

Das Schweigen macht mir keine Angst. Ich durfte einmal wegen einer Stimmbandverletzung eine Woche lang nicht sprechen, das ging erstaunlich gut. Aber nicht lesen? Nicht schreiben? Was bleibt mir denn dann noch? Schreiben ist alles, was ich kann. Was kann ich denn sonst?
In den ersten Stunden des Meditierens nicke ich immer mal wieder weg, habe Angst, dass ich umfallen und dabei jemanden verletzen könnte, wir sitzen sehr nah beieinander auf unseren nummerierten Kissen in ordentlichen Reihen. Wir meditieren elf Stunden am Tag. Wir üben uns. Start again, sagt die Stimme des vor ein paar Jahren verstorbenen Lehrers vom Band. Wir üben uns in Gleichmut. Keep perfect equanimity. Wir üben uns in Geduld. Wir fangen immer wieder von vorne an. Start again. Jeder Augenblick ist neu. Alles ist vergänglich. The law of nature. The impermanence of all things. Es hat keinen Sinn, etwas festhalten zu wollen. Start again. Wir üben uns, die Realität wahrzunehmen. Nicht, wie wir möchten, dass sie ist, sondern so, wie sie ist. 
Ist das das Gegenteil von Fiktion?

In der Silvesternacht wachen wir vom Krachen der Feuerwerkskörper in der Ferne auf, wir haben schon geschlafen. Denn um halb zehn wird das Licht gelöscht. Um vier Uhr schlägt der Gong. Der erste Januar ist ein Tag wie jeder andere. Auf dem Infobrett steht: Heute ist Tag 5.
Ich lese alles, was auf dem Infobrett steht mehrmals täglich, immer und immer wieder. Regeln und Hinweise auf Deutsch und Englisch, es sind die einzigen Wörter und Sätze, die sich mir hier zum Lesen anbieten, ich nehme, was ich kriegen kann. 
Es müssen nicht einmal Buchstaben sein. Ich lese täglich die Nummer, die neben meinem Platz steht: 61.
Ich schreibe andächtig meinen Namen auf ein Stück Kreppband, klebe es auf meine Wasserflasche, schreibe noch eins für meine Tasse, noch eins, um meine Thermoskanne zu kennzeichnen. Der Stift ist mit einer Schnur am Tisch gesichert, ich will ihn heimlich mitnehmen, und tue es natürlich nicht.[3]

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Wir meditieren.
Wir üben uns.
Wir üben uns, jetzt und hier zu sein, in jedem Moment neu, keine Vergangenheit, keine Zukunft. 
Ist das das Gegenteil einer Erzählung?

Unsere Beachtung soll unserem Inneren gelten, unserem Atem, den Empfindungen in unserem Körper. Wir beobachten alles ganz neutral, die unangenehmen wie die angenehmen Empfindungen. Sie verändern sich ständig. Sie kommen und gehen. 

Gedanken kommen und gehen, und mir fällt alles Mögliche ein. Ich erinnere mich an lange zurückliegende Situationen. Bilder kommen aus dem Nichts, Menschen tauchen auf. Wichtige Menschen, aber auch welche, zu denen ich überhaupt keine Beziehung hatte. Ich sitze in der dreckigen Küche des Studierendenwohnheims in Zürich, mir gegenüber ein Mitbewohner, von dem ich nichts weiß, außer seinen Namen. Marc. In dieser Küche sind dramatische Szenen passiert: Als ich ganz neu war, habe ich mir beim Espressokochen mit einer kaputten Kanne das Gesicht so schwer verbrannt, dass ich mit Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht wurde. Das wäre die traumatischere Erinnerung gewesen, die angemessenere! Aber das, was hochkommt ist eine bunte Mischung. Der Bodensatz des Unterbewusstseins wird aufgewirbelt und schwebt nach oben. Songfetzen fallen mir ein, hauptsächlich amerikanische Popmusik und besonders hartnäckig ist Miley Cyrus. Um einen Ohrwurm loszuwerden, muss man das ganze Lied einmal durchsingen, heißt es. Ich rezitiere die Lyrics von Younger Now in meinem Kopf.
No one stays the same 
You know what goes comes back around 
Change is a thing you can count on 
I feel so much younger now 

Wie ging das noch mal weiter? Ich kann nichts nachschlagen, alles, was mir nicht einfällt, bleibt unzugänglich.

Ich plane den Rest meines Lebens. Dann schreibe ich in meinem Kopf am Roman weiter. Hätte ich doch den Kugelschreiber gestohlen! Ich könnte meine Einfälle in winzigen Buchstaben auf einer Papierrolle niederschreiben, wie es de Sade mit dem Manuskript der 120 Tage in Sodom gemacht hat, während seiner Haft in der Bastille. Es gibt genug Klopapier. Zuhause fallen mir im Halbschlaf häufig geniale Sachen ein, die ich am nächsten Morgen natürlich vergessen habe. Aber hier könnte alles anders sein. Alles ist tiefer, intensiver. Das Schweigen fühlt sich an wie ein Zurücklehnen, ein Einnisten im Auge des Sturms. Wird das anhalten?
Ich schreibe im Kopf ein Gedicht für das Kind einer Freundin.
Ich lerne es auswendig, damit ich es sofort notieren kann, wenn ich wieder draußen bin, in Freiheit, sozusagen.

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Wir haben Hofgang im Garten,  eingezäunt wie Pferde auf der Koppel stapfen wir über das niedergetrampelte Gras, drehen unsere Runden. Ich denke an den Kreis als Zeichen für Unendlichkeit. Er bietet im Inneren Schutz und nach außen Abgrenzung. Der Kreis gehört zu den ältesten Meditationsbildern, bildet ein Zentrum, das zu betrachten den Betrachtenden zentriert. Das Symbol der Vipassana Meditation ist ein sich drehendes Rad.
Ein Bächlein führt an uns vorbei, die Vögel singen in den Bäumen, ich bin neidisch: Sie dürfen sich unterhalten. Sie quatschen, was das Zeug hält, trillern von Wipfel zu Wipfel und der Bach plätschert vor sich hin: Musik in meinen Ohren.
Ich genieße das Klappern des Bestecks beim Essen, das Glucksen der Mägen meiner Sitznachbarinnen in der Meditationshalle. Manchmal klingelt das Festnetztelefon im Eingangsbereich. Es ist eine schrille, wilde Melodie. Niemand außer mir schenkt ihr Beachtung.[4]

Wie Schlafwandlerinnen laufen wir aneinander vorbei, leere Gesichter, ab und an lächelt mir jemand heimlich zu. Mit meinen Zimmergenossinnen verstehe ich mich, obwohl wir nicht reden können. Ich meine sie zu kennen, ich weiß, wer wie schnarcht und wem die elektrische Zahnbürste gehört, die so schön summt.
Ich bin froh, nicht allein zu sein. Wir sitzen alle im selben Boot, in derselben Meditationshalle. Manchmal weint dort jemand. Das sehe ich nicht, aber ich höre ein Schluchzen, das aus dem Klangteppich aus Husten und Schnäuzen heraussticht. Fast alle sind wir erkältet.

An den Abenden gibt es Theorie, eine Freundin (die, für deren Kind das Gedicht ist) hat diesen Kurs bereits gemacht und mir empfohlen, die englischsprachige Videoaufzeichnung des verstorbenen Lehrers anzusehen, statt die dürftige deutsche Übersetzung anzuhören. Das ist meine Rettung. Der Lehrer ist ein charismatischer, charmanter älterer Herr und vor allem: ein begnadeter Geschichtenerzähler. Es gibt jeden Abend mindestens eine Story zur Veranschaulichung einer Regel, zum Verständnis eines Phänomens oder nur um der Anekdote willen. Es ist herrlich. Manchmal müssen wir laut lachen.
Die Geschichten spielen im »alten Indien« oder in Myanmar, in »Burma«. Es kommen jede Menge Tiere vor, Elefanten, Schlangen und Skorpione. Auch eine Gans, die ein Freund einem blinden Bettler in die Hände drückt, um ihm die Farbe Weiß zu erklären. Affen stehlen Geldbörsen und erinnern uns daran, unser Herz nicht an materielle Dinge zu hängen, überhaupt an nichts, da Abhängigkeit unglücklich macht.[5]

Söhne streiten sich ums Erbe, um zwei Ringe (!) beispielsweise. Als der Sommer vergeht, wird der, der den prunkvollen Goldring wählt, von Depressionen gequält.
Der Bruder mit dem schlichten Silberring entdeckt eine Gravur darin: This will change. Er trauert dem Sommer nicht nach. Und auch dem Herbst nicht und so weiter. Dem silbernen Bruder geht es gut.

Vier Schwiegertöchter werden geprüft, wer die Geeignetste ist, nach dem Tod der Hausherrin die Verantwortung zu übernehmen. Sie sollen auf fünf Weizenkörner aufpassen, die erste wirft sie weg, die zweite isst sie auf, die dritte legt sie auf den Altar. Die vierte pflanzt sie an und macht das Rennen, klar.

Ein Mann nimmt sich vor, tausend Menschen umzubringen, er trägt eine Girlande aus den abgeschnittenen Fingern der Opfer um den Hals, um den Überblick zu behalten. Bei Finger Nummer neunhundertneunundneunzig trifft er auf Buddha und stellt das Töten ein.

Eine Frau verliert ihre gesamte Familie, sie wird verrückt und läuft schreiend nackt durch die Straßen, bis sie auf Buddha trifft. Ich denke an das Bild aus dem Jahr 1972, das Phan Thi Kim Phuc zeigt, deren Dorf mit Napalm beschossen worden war.

Am Ende jedes Vortrags zoomt die Kamera dicht an das Gesicht des Lehrers heran, wie er das Pali Mantra Bhavatu sabba mangalam singt. May all beings be happy.

Ich fiebere auf die Abende hin, ich denke, ich halte das alles nur durch, weil ich weiß, dass es zur Belohnung ein Märchen gibt. Ich weiß: Am Ende geht es immer gut aus.

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Und irgendwann steht am Infobrett: Heute ist Tag 10. Beim Mittagessen darf wieder geredet werden und das Haus wird zum Gänseschlag, wir schnattern wie blöde und können unser Glück kaum fassen. Ich finde heraus: Alle, mit denen ich spreche, sind beim morgendlichen Meditieren gelegentlich eingeschlafen und hatten Angst umzufallen. Die Zimmergenossin mit der elektrischen Zahnbürste ist Krankenschwester und hat einige Jahre in Haifa gelebt, bevor sie nach München gezogen ist. Der Sohn der Zimmergenossin mit dem starken Husten plant, an einer Ayahuasca-Zeremonie teilzunehmen, und sie weiß noch immer nicht, wie sie das finden soll.
Ich darf meine Bücher und das Notizheft wieder an mich nehmen und krakle sofort mit einem geliehenen Kugelschreiber drauflos: das Gedicht für das Kind. Ich werde es – das sehe ich jetzt – stark überarbeiten müssen, oder besser ganz neu anfangen.
Der Stift wird mir geschenkt (ich nenne ihn meinen karma pen), ich öffne damit die Plastikfolie von Motherhood und lese die ersten Seiten, ganz langsam, jeden Satz schau ich mir genau an. Ich packe behutsam mein Telefon aus, sehe die Kurzmitteilungen und Emails und weiß nicht damit umzugehen. Diese abgeschottete Welt, aus der ich allmählich auftauche, war weitaus langsamer und überschaubarer, als die Welt da draußen.

Im Zug tippe ich Antworten. 
Im Bus vom Bahnhof lese ich Schlagzeilen. 
Ich erfahre, dass die dritte Staffel des The Good Wife-Spin-Offs mit dem Titel The Good Fight im Frühjahr ausgestrahlt werden wird.
Dass Kim Kardashian und Kanye West ein weiteres Baby mithilfe einer Leihmutter bekommen werden.
Und dass Miley Cyrus heimlich geheiratet hat.
Na dann.
May all beings be happy.

[1] Religious Objects, Rosaries, Crystals, Talismans, etc.
No such items should be brought to the course site. If brought inadvertently they should be deposited with the management for the duration of the course. 
[2] Dress should be simple, modest, and comfortable. Tight, transparent, revealing, or otherwise striking clothing (such as shorts, short skirts, tights and leggings, sleeveless or skimpy tops) should not be worn. (https://www.dvara.dhamma.org/en/code/) 
[3] All who attend a Vipassana course must conscientiously undertake the following five precepts for the duration of the course: 
1. to abstain from killing any being; 
2. to abstain from stealing; 
3. to abstain from all sexual activity; 
4. to abstain from telling lies; 
5. to abstain from all intoxicants. (https://www.dvara.dhamma.org/en/code/) 
[4] A golden rule is to meditate as if one were alone, with one's mind turned inward, ignoring any inconveniences and distractions that one may encounter. (https://www.dvara.dhamma.org/en/code/) 
[5] In fact, Vipassana eliminates the three causes of all unhappiness: craving, aversion and ignorance. (https://www.dvara.dhamma.org/en/code/)