Ein schmaler Streifen Land am Ende Südamerikas, eingezwängt zwischen den 6000 Meter hohen Andengipfeln und dem Pazifik: Nach siebzehnstündigem Flug lande ich in Chile, in der Hauptstadt Santiago. Die Chilenische Buchkammer hat mich zur Editors Week eingeladen. Beim späten Frühstück stelle ich fest, dass auch andere TeilnehmerInnen, ob aus Madrid, Lissabon, New York, Mexiko-Stadt oder Medellín, etwas übermüdet aussehen. Die Agentin aus Rio de Janeiro, die Lektorin aus Montevideo und der Verleger aus Buenos Aires dagegen hatten weitaus kürzere Anreisen. Aber kein Grund zur Klage, das deutsche Grau habe ich gerne hinter mir gelassen. Es ist Frühling auf der Südhalbkugel, überall blüht und zwitschert es. Die Buchmesse in Frankfurt ist gerade vorbei, hier steht sie vor der Tür. In den kommenden Tagen werden wir Konzern- und unabhängige kleinere Verlage, Buchhandlungen, AutorInnen und natürlich Bücher kennenlernen. Die chilenische Literatur wartet mit einigen großen Namen auf: Gabriela Mistral, Dichterin und Nobelpreisträgerin, der viel zu früh verstorbene Roberto Bolaño und natürlich der Dichter und Nobelpreisträger Pablo Neruda, dessen Tod im September 1973, wenige Tage nach dem Militärputsch Pinochets, bis heute Rätsel aufgibt.
Eine Besichtigung von Nerudas Wohnhaus in Santiago ist ein Muss für jeden Touristen und unser erster Programmpunkt. »La Chascona« schmiegt sich an den Hügel San Cristóbal, und fast jeder Raum zeugt von der Leidenschaft des Dichters für das Meer. Vor allem in dem niedrigen und engen Esszimmer und in der schiefen Bar fühlt sich unsere kleine Gruppe wie auf einem schwankenden Schiff. Wortgewaltig hat Pablo Neruda in seinem Werk die Liebe gefeiert und auch stets gegen die politischen und sozialen Verhältnisse in seinem Land angeschrieben. Wie wir in den nächsten Tagen erfahren, ist die Literatur Chiles geprägt von der schwierigen Vergangenheit des Landes. Die Militärdiktatur (1973-1990) hat tiefe Spuren hinterlassen; Tausende Menschen wurden gefoltert und getötet oder verschwanden. Etwa eine Million Chilenen verließ das Land, darunter auch zahlreiche Schriftsteller und andere Kulturschaffende. In den 1980er und frühen 90er Jahren haben die AutorInnen unmittelbar von den Grauen berichtet, wie etwa Isabel Allende (geb. 1942) in ›Das Geisterhaus‹. Die spätere Schriftstellergeneration hat über das Exil geschrieben, wie beispielsweise Carla Guelfenbein (geb. 1959) in ihren Romanen ›Die Frau unseres Lebens‹ und ›Nackt schwimmen‹.
Die AutorInnen der »post-post-dictadura«, also die bereits in der Demokratie aufgewachsenen, beschäftigt diese Vergangenheit nur noch am Rande. Ihre Themen sind universeller geworden: das Überleben in der Großstadt, schwierige Familienstrukturen, die Folgen der Wirtschaftskrise. Auffällig ist, dass die Bücher dieser jüngeren Generation kaum mehr als 100 Seiten umfassen, seien es Romane oder Erzählungen. Und der Einfluss der bedeutenden Dichter des Landes ist weiterhin groß, Lyrikbände scheinen Hochkonjunktur zu haben.
Am ersten Vormittag besuchen wir die Filiale der großen spanischen Verlagsgruppe Penguin Random House (PRH)/Alfaguara. Acht LektorInnen empfangen uns mit Kaffee und medialunas, Halbmonde, wie die kleinen Croissants hier heißen. Und natürlich mit jeder Menge Informationen zu ihren Büchern. PRH und der andere Global Player, die spanische Verlagsgruppe Planeta, auch Teil unseres Besuchsprogramms, haben den chilenischen Buchmarkt fast unter sich aufgeteilt. Wir stecken mitten in einer spannenden Diskussion um genau diesen Punkt, als unser sympathischer Reiseleiter Daniel zum Aufbruch drängt, ein renommierter Universitätsverlag wartet.
Nach einem reichhaltigen Mittagessen – was wäre eine Reise nach Chile ohne Meeresfrüchte, feinsten Wein und Pisco Sour (oder stammt der doch aus Peru? Ein ewiger Streitpunkt) – quälen wir uns im Kleinbus durch den dichten Hauptstadtverkehr. Schließlich parken wir vor einem charmanten alten Haus, der Sitz des Verlags Hueders – und Daniel weist uns auf das Nationalstadion schräg gegenüber hin, in dem gleich nach dem Militärputsch zahlreiche Menschen interniert und getötet wurden. Vor allem in den vergangenen Jahren wurden viele kleinere Verlage gegründet, die den Buchmarkt aufwirbeln. Die drei engagierten Hueders-Verleger haben mit ihrem Programm bestehend aus Literatur, Essays und Kinderbüchern inzwischen den Durchbruch geschafft und mit der Graphic Novel ›Los años de Allende‹ (Die Jahre Allendes) erfolgreich Neuland betreten. Spannend auch ihre jungen AutorInnen wie zum Beispiel die 27-jährige Paulina Flores. Ihr Erzählungsband ›Qué vergüenza‹ (Wie peinlich) erzählt mit ganz eigenem Blick von Menschen am Rand der Gesellschaft, von der gar nicht so heilen Welt der Mittelschichtsfamilien. Die Autorin ist gerade in aller Munde, weil sie Themen anspricht, die man im konservativen Chile gern verdrängt. Beeindruckt und mit einer Tasche voller Bücher kehren wir zurück ins Hotel.
Und wie kommen die Bücher an den Mann/die Frau? Buchhandlungen, erfahren wir am nächsten Tag, gibt es vor allem in Santiago und in den größeren Städten. Außerhalb davon wird es schwer, an Lesestoff zu kommen. Der Onlinehandel steckt noch in den Kinderschuhen. Eine Preisbindung gibt es nicht, die Steuern auf Druckerzeugnisse sind hoch, Bücher sind ein Luxusgut wie überall in Lateinamerika. Aber zumindest die Hauptstädter scheinen Bücher zu lieben. In Santiago gibt es zahlreiche feine Buchhandlungen, die auch als kulturelle Treffpunkte dienen. Ein Beispiel ist die Librería Lolita im schicken Stadtteil Providencia, in der es an den Wochenenden Lesungen und Konzerte gibt. Gegründet hat sie der Autor und Journalist Francisco Mouat, ein Vielleser und bekennender Fußballfanatiker. Neben Kinderbüchern und Literaturnobelpreisträgern stehen wie auf einem Altar aufgebaut Bücher über Pep Guardiola, Anthologien mit Fußballerzählungen, Comics zum Thema.
Am Abend dann sind wir eingeladen zur offiziellen Eröffnung der 35. Internationalen Buchmesse. Es geht sehr förmlich zu, die Nervosität im Raum ist spürbar. Das liegt wohl vor allem daran, dass Staatspräsidentin Michelle Bachelet ihr Kommen kurzfristig angekündigt hat. Kultur und vor allem Bildung sind seit Jahren wichtige Themen in Chile. In Massendemonstrationen fordern SchülerInnen und Studierende immer wieder die Reform des weitgehend privatisierten Bildungssystems und die Abschaffung der horrenden Studiengebühren. Darauf geht Bachelet in ihrer Rede zwar nicht direkt ein, aber sie spricht von der Vorbildfunktion der skandinavischen Länder, der diesjährigen Ehrengäste, in Sachen Bildung. Immerhin.
Am Río Mapocho entlang laufen wir am nächsten Morgen von unserem Hotel zum Centro Cultural Estación Mapocho, ein ehemaliges Bahnhofsgebäude im neoklassischen Stil, das seit 1994 als Kulturzentrum dient und auch die Buchmesse beherbergt. Eigentlich ist diese Messe vielmehr ein großes und vor allem langes Lesefest (sie dauert knapp drei Wochen!), denn BesucherInnen sind vom ersten Tag an willkommen. Es gibt Lesungen, Konzerte, Theateraufführungen, Diskussionsrunden. Über 150 Aussteller vor allem aus Chile und anderen lateinamerikanischen Ländern verteilen sich über die Halle. Cafés, Leseecken und Live-Musik sorgen für eine entspannte Atmosphäre. Fürs Schlendern haben wir aber wenig Zeit, denn in einer Art Agents Center treffen wir im Halbstundentakt LektorInnen und LiteraturagentInnen, die uns von neuen Büchern und Projekten berichten.