Literatur mit der Absicht, moralisch oder ideenstiftend auf die Gesellschaft einzuwirken, schreiben hierzulande Soziologen, Fernseh-Journalisten, pensionierte Sportler und Politiker sowie Schauspielerinnen mit Welterfahrung. Was herauskommt, ist Literatur dem weitesten Begriff nach: gedruckte Bücher. Ob die Botschaft jeweils ankommt, ist schwer einzuschätzen. Die Verkaufszahlen von solchen Titeln lassen es vermuten. Interesse bei der Leserschaft ist vorhanden und/oder wird erzeugt und unterstützt durch mediale Begleitung. Auch einige zeitgenössische Schriftsteller schreiben mit direkter Wirkungsabsicht, widmen sich aus eigenem, auch einsehbar pekuniärem Interesse Themen aus dem Informations-Universum.
Dichter mögen Letzteres gelegentlich auch tun. Wirken werden sie kaum ernsthaft wollen. Sonst wählten sie nicht das Gedicht, sondern ein anderes Produkt, oder sie suchten die TV-Karriere. Allerdings haben diejenigen, die zur Dichtung kommen, gar keine Wahl. Auch wenn sie den Beruf eines Schriftstellers ergreifen, er bleibt eine äußere Hülle, eine Bezeichnung, für die es beim Finanzamt immerhin eine Schublade gibt.
Vor nicht allzu langer Zeit verhielt es sich mit dem Engagement der Dichter noch anders. Etwa vom Anbruch der Moderne im ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Untergang des Sozialismus, dem Scheitern dieser Moderne als gesellschaftsformendem Projekt zum Ende des 20. Jahrhunderts, waren politische Einsichten und Absichten in Dichtwerken und bei deren Schöpfern weit verbreitet. Vorbereitet durch den kritischen Realismus Theodor Fontanes, Hauptmanns, Tolstois, Ibsens, Zolas etwa und den Umgang einflussreicher Schriftsteller wie dieser mit dem öffentlichen Text, d.h. von der Geburtsstunde des heute noch gültigen Bilds vom Intellektuellen an lieferten auch Dichter und Dichtung vorsätzlich Losungen für die Not und den Geist der Zeit. Das war angesichts der Umstände und katastrophalen Folgen der Industrialisierung und des Niedergangs der politischen Formen (der Aristokratie und ihrer obsoleten Herrschaft) folgerichtig, auch rückblickend noch verständlich.
Allerdings überstand der Kunstanspruch die Nähe zu ökonomischer Theorie und gesellschaftlicher Bewegung, zum Kampf um eine bessere Welt nur bei starken Talenten. Ezra Pounds ›Cantos‹, sein auch darüber hinaus gewaltiges dichterisches Oeuvre, seine Essays haben Bestand, obwohl auf seinem produktiven Leben und künstlerischen Engagement der schwarze Schatten des Eintretens für den Mussolini-Faschismus liegt. Pounds Bild in der Literaturgeschichte ist davon nicht reinzuwaschen. Dennoch bleibt er vorbildlich für Dichter jüngerer und nachfolgender Generationen als il miglior fabbro, bester Schmied (des Verses), wie ihn T. S. Eliot in der Tradition der Troubadoure nannte.
##author:1928##Ein ganz anderer Dichter von Rang, Wladimir Majakowski, zu Hause auf der anderen Seite der Welt, benahm sich ebenfalls uneingeschränkter Weltgeltung, indem er seinerseits alle poetische Kraft der Partei Lenins, der Sowjetunion, dem Staat gewordenen Kommunismus zum Opfer brachte. Er starb von eigener Hand in der Zeit von Stalins Aufstieg und hinterließ ein Werk, das von der Nachwelt vielfach historisch gelesen werden muss.
Die Liste ist lang: Werke und Namen einer großen Zahl französischer und spanischer surrealistischer Dichter haben die mehr oder minder lang andauernde Nähe zur kommunistischen Doktrin und ihrer jeweiligen Träger-Partei eher wohlbehalten überstanden. Dem Könner aller Klassen der bildenden Kunst, Pablo Picasso, schadete sie bekanntlich auch nicht. Bertolt Brechts Werk – um auf das Kardinalbeispiel deutscher Sprache zu kommen – ist kontaminiert, ohne dass dies seinem Ruf und Status als Klassiker Schaden zufügt. Das darf einem in seiner Selbstverständlichkeit auffallen. Wenn man allerdings darauf hinweist, sei man auf der Hut. Leicht kommt der Vorwurf des Urgoßvatermords dabei heraus.
Ich plädiere dafür (siehe U. K.: Brecht. Rollenmodell eines Dichters, S. Fischer 2016), die jeweiligen Anhänger der zwei großen totalitären Ideologien und Staatsformen des 20. Jahrhunderts nicht länger wie gewohnt mit ungleichem Maß zu messen. Den Mord im Gulag für eine Art Kavaliersdelikt der Weltgeschichte zu halten (die Revolution fordert, wie alle Beispiele zeigen, Opfer, das mag der Dichter, der die großen Themen liebt, nicht wahr?), die Leichen im Keller des Kommunismus eher schamvoll auch zu ehren neben jenen von Faschismus und NS, und damit den künstlerischen Fahnenträgern der kommunistischen Ideologie Dispens zu erteilen – diese scheinbar staatstragende Lüge wird mit wachsendem Abstand nicht kleiner, nur deutlicher.
Was die Qualität der jeweiligen Dichtung angeht, ist sie allemal offensichtlich. Kein Werk hat Bestand, weil es im Namen der Gerechtigkeit geschrieben wurde. Kein Roman ist besser, weil der Schriftsteller öffentlich für eine als fortschrittlich geltende Partei optiert. Gerade bei Brecht sind die notorischen Konstellationen von Arm versus Reich oder Gut contra Böse vor allem in den Bühnenstücken so sehr Holzschnitte, wie es eben der Tradition des Volksstücks entspricht (Gangster und Hure; Herr und Knecht; Grundbesitzerin und Magd; gutherzige Ladenbesitzerin und brutaler Vetter als Doppelrolle). Es war nicht die ideologische Grundierung, sondern Brechts Aufnahme gut gehender Klischees, die ihm die Kasse füllte – und die seiner Erben bis heute. Und es ist seine Haifisch-Dialektik, die ihn bis heute zum Stichwortgeber macht. Abgesehen von dem kaum innovativen Konzept des »epischen Theaters«, mit dem seither Lehrer ihre Schüler traktieren oder Blutleere auf dem Theater begründet wird.
Politische Deutlichkeit generiert den ästhetischen Kompromiss, wenn nicht Mangel. Das weiß jeder und es trifft jeden, den Brecht-Nachfolger und Emigranten Erich Fried wie den polnischen Dichter Adam Zagajewski, der, nach Verhängung des Kriegsrechts 1981 ins Exil gegangen, seit 2002 wieder in seiner Heimat lebt. Dort wird es ihm und vielen anderen wegen des laufenden Putsches von oben derzeit unbehaglich. In einem Interview, erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung am 16.2.16, fragt Renate Schmidgall: »In Zeiten der Unterdrückung war die polnische Dichtung immer besonders stark; die Unfreiheit hat die Inspiration beflügelt. Wird es in Polen bald wieder engagierte Literatur geben?« Adam Zagajewski antwortet: »Ich weiss es nicht. Das ist eine ambivalente Sache. Wenn mich in den USA junge Dichter, meine Studenten des Creative Writing, gefragt haben, ob sie politische Gedichte schreiben sollten, habe ich ihnen immer abgeraten und gesagt, nach ein paar Jahren (oder nach den nächsten Wahlen) wäre es ihnen vielleicht unangenehm, weil ihre Leser nicht mehr wüssten, um was und um wen es damals gegangen sei. Während des Vietnamkrieges entstanden Tausende von Antikriegsgedichten. Aber wer will sie heute lesen? Auch in Polen greift kaum jemand nach den zornigen Werken aus der Jaruzelski-Zeit, aus der Zeit des Kriegsrechts. Solche Texte welken schnell. Aber trotzdem habe ich jetzt selbst ein politisches Gedicht geschrieben. Das alles ist kein Spass...«
Neben denjenigen, die zeitweise dahin gelenkt werden und/oder von sich aus vordergründig und eingreifend schreiben, gab es immer Dichter, deren Sache der ästhetische Kompromiss an keiner Stelle war. Ossip Mandelstam zum Beispiel. Er starb im Gulag. Paul Celan, der Mandelstams Gedichte übersetzt hat, war einer der kompromisslosesten Dichter deutscher Zunge überhaupt. Der Franzose René Char hat keinen ästhetischen Abstrich gemacht, auch nicht als dichtender Kommandeur in der Resistance! Von Saint-John Perse, einem wahren Solitär, Nobelpreisträger 1960, und seinem poetischen Werk ganz zu schweigen. Und auch, weil ich es gern tue, sei Wolfgang Hilbig erwähnt. Die Dichtung und Prosa seiner Reifezeit wuchs und blühte abseits der totalitären und erst recht der gängigen Sklavensprache.
Ich nenne damit einige Beispiele höchst bewusster Zeitgenossenschaft, von der die jeweilige Dichtung nicht korrumpiert wurde. Diese Dichter arbeiteten statt an einem planen Bild der Welt und ihrer selbst an der Mehrdimensionalität der menschlichen Sprache. Ganz anders verhielt es sich bei Bertolt Brecht ab ca. 1927 und dem Ezra Pound der faschistischen Rundfunkreden und der Usura-Cantos. Bei diesen beiden großen Dichtern gibt es Texte, Äußerungen, Haupt- und Nebenwerke als Ausdruck von Zeitgenossenschaft, die den Denker und den Poeten beschädigt hinterlassen.
Es ist also gut für die Literatur, für die Sprache, dass das lange Jahrhundert echten Getriebenseins der Dichter, aber auch ihrer Anmaßung bis zur Gröfazerei vorbei ist. Es war das Jahrhundert, in dem Ideale wie Wahrheit und Freiheit gerade von Berufs-Schriftstellern vielfach auf den Hund der Ideologie gebunden wurden. Die sich dem entwanden, ab einem frühen Punkt ihres öffentlichen Lebens Klartext redeten und schrieben wie George Orwell, Arthur Koestler, Manés Sperber, hatten es nicht nur schwer. Sie gerieten in Acht und Bann der ideologisch geprägten öffentlichen Wahrnehmung der Literatur. Werden auch sie irgendwo einmal Klassiker genannt, dann geht es um den Beitrag der Renegaten zur Zeit- und Literaturgeschichte, nicht um die ästhetisch-ideologische und bis heute sogar kulturpolitische Meinungsführerschaft, die Bertolt Brecht et Cie. zuerkannt wird.
Die Literatur jenes vergangenen Jahrhunderts hatte naturgemäß einen großen Anteil am ideologischen Mainstream, mehr als andere Künste. Dass aus Gedichten oder Essays gern auch Tüten für Essbares gedreht werden könnten, stellten manche Meister in Heines Gefolge als Einsicht heraus. Mit dem Sieg des Totalitarismus beider Ausprägungen, beginnend vor knapp einhundert Jahren, wurde aus derlei Koketterie Verrat an Geist und Kunst, konnte Idealismus und ästhetische Selbstaufopferung Massenmord begünstigen.
So weit ist das Geschichte. Leider nicht nur. Denn die Heraushebung und Betonung der sozialkritischen und kommunikativen Funktion von Literatur als der essenziellen, der eigentlichen ist ungebrochen. Die Erklärung der Sprache der Künste aus alltagssprachlicher Wurzel, sodass man sie frei weg immer wieder der nützlichen Welt des großen gemeinschaftlichen, kommunikativen Leerlaufs zuschlägt (was für ein Kompliment!), das ist Standard. Sprachliche Schönheit, Sprache als Schönheit ist da jeweils nur Zufall, wenn nicht Abfall, auf keinen Fall notwendig.
Aus Notwendigkeit und Geist aufklärender, realistischer, kritischer Literatur von Heinrich Heine und Gerhart Hauptmann bis zu Bertolt Brecht und Erich Fried, wird Sinn und Zweck von Dichtung so flach wie nur möglich abgeleitet. Die deutsche Barockliteratur wird, wo nicht als reines Ornament, abgehandelt als Kommentar zum Dreißigjährigen Krieg. Ihr spirituelles Mantra, das an die großen Texte des Buchs der Bücher anschließt, muss die Schulmeinung nicht interessieren. Auf welche Plätze schließlich heutige Dichtung verwiesen wird, erlebe ich als Nutzer einer medialen Öffentlichkeit, in der notorisch über die Rolle der sog. sozialen Medien aller Couleurs in gesellschaftlichen Bewegungen und damit einhergehend jeweiliger Kunst und Literatur, wo auch immer, welcher Qualität auch immer, spekuliert wird. – Nein, es wird eben leider nicht spekuliert. Die flachste Kunst erfährt höchste Ehren oder, wie es zufällig gerade heißt, wird gehypt. Nämlich für ihre edlen, weil offensichtlichen Absichten. Ästhetik, Kunst im Sinne von Handwerk und Herkunftsgewissheit ist Zufall und Beiwerk, wenn überhaupt. Die Kunstbiennale von Venedig 2015 war – nebenbei – ein Beispiel, dass es sich um eine weltweit agierende Denkschule Mächtiger und Einflussreicher handelt.
Zurück zum eigenen Fleisch, zur poetischen Sprache: Falls Kommunikationsabsicht und Sozialkritik Movens und Agens von Dichtung wären, gäbe es keine. Es hätte sie nie gegeben. Dies ist, sieht so aus, ein hastig entworfener Kassiber aus dem Elfenbeinturm.
Extras
Zeitgenossenschaft und Schönheit
»Falls Kommunikationsabsicht und Sozialkritik Movens und Agens von Dichtung wären, gäbe es keine. Es hätte sie nie gegeben.« So der Dichter Uwe Kolbe in seinem ›Fragment eines Kassibers‹.