Zwanzig Telefongespräche wie Schwimmstöße. Zwanzig Telefongespräche, aus denen Angst, Hoffnung und Ungewissheit sprießen – alles zusammen. Jedes hat sein Thema und das erzeugt einen eigenen Widerhall, aber im Grunde ähneln sie sich alle. Um zwei ist es sieben; um drei acht. Zwanzig Telefongespräche, um herauszuhören, was die Menschen von der Zukunft erwarten und ihrem Druck Raum zu lassen, wegen der Verteuerung, der Angst und der Aufregung über die außergerichtlichen Erschießungen, der Zensur und der Repression. Zwanzig Telefongespräche und ein Land, dem die Zeit wegläuft, obwohl es schon viel zu lange auf eine Lösung gewartet hat.
Crosby Rodriguez ist 45 Jahre alt und arbeitet als akademischer Assistent an der Universidad Simon Bolívar, eine der angesehensten Universitäten des Landes. Sein Gehalt reicht ganz knapp und das nicht immer. Er kauft seine Lebensmittel in rationierten Portionen bei den Volkskomitees für Versorgung und Produktion (CLAP). Ein Paket enthält folgende Grundnahrungsmittel: zwei Kilo Mehl, zwei Kilo Nudeln, zwei Kilo Reis, ein Kilo Trockenmilch, ein Kilo schwarze Bohnen und ein Kilo Linsen, dazu ein Liter Speiseöl, 250 g Mayonnaise, 250 g Tomantensauce. Manchmal, nicht immer sind noch sechs Dosen mit je 250 g Thunfisch drin. Damit muss er einen ganzen Monat mit zwei Kindern – einem Mädchen und einem Jungen –, seiner Frau und seiner Schwiegermutter auskommen. Ein Viertel des Tages verbringt er bei der Arbeit und ein anderes Viertel damit, Wasser zu beschaffen, das sehr knapp ist und nur unregelmäßig verfügbar.
»Unsere Stimmungslage in Venezuela ist vor allem von der völligen Ungewissheit geprägt. Wir haben keine Möglichkeit zu erfahren, was los ist. Um Nachrichten zu hören, braucht man alternative Medien, beispielsweise ein Smartphone. Aber wir haben nicht alle ein Smartphone, wir haben auch nicht alle Internet, und deshalb erfahren wir nur, was die offiziellen Medien bringen, und die informieren uns überhaupt nicht über unsere Lage«, versichert er. »Ich fühle mich so ohnmächtig, denn wir bringen tagtäglich so viele Opfer und haben am Abend trotzdem nichts zu essen. Oft steht man auf und geht, ohne etwas zu frühstücken oder für den Mittag mitzunehmen, zur Arbeit. Und man weiß tagsüber auch nicht, ob man etwas fürs Abendessen organisieren kann.« Das ist ein Tag im Leben von Crosby.
Gabriela Morillo ist Dozentin am Institut für Sozialarbeit von Venezuelas Universidad Central. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder, eine dreizehnjährige Tochter und einen Sohn von sieben Jahren. Wie alle anderen hat auch sie die Hoffnung, dass es bald aufhört, wird aber immer wieder von der Furcht eingeholt, dass die Proteste ein weiteres Mal scheitern könnten. »Die Ungewissheit kommt daher, dass man nicht weiß, ob es genauso wird wie die anderen Male«, sagt sie am anderen Ende der Leitung und hat bereits mehrere Tage ohne Wasser und mit der Qual leerer Vorratsschränke hinter sich. »Ich habe die letzten drei Nächte nicht geschlafen, weil ich gegrübelt habe, wo ich Essen herbekommen könnte.«
Morillo wartet noch auf ihr Gehalt für die letzten vierzehn Tage, obwohl sie davon schon lange nicht mehr leben kann. Deshalb arbeitet sie auch in Projekten mit und kann etwas mehr Geld nach Hause bringen. »Wenn ich nur auf mein Gehalt angewiesen wäre, würden wir verhungern.« Gabriela bekommt 150.000 venezolanische Bolívares, d.h. wenn ein Dollar auf dem Schwarzmarkt mit 3.000 Bolívares gehandelt wird, bekommt sie für einen Monat Arbeit 50 Dollar. Damit und mit der Rente ihres Mannes versuchen sie, ihre Kinder zu ernähren. »Meine Kinder erleben viel Bedrückung. Wenn sie etwas essen, fragen sie immer: Bleibt noch was übrig? Denn sie wissen, dass es alle wird, dass alles streng eingeteilt wird.«
[…]
Diese Frau verliert ebenso wenig die Hoffnung wie die anderen, »aber die Regierung hat ihre eigenen Pläne und wird nicht nachgeben«, sagt sie. Bei der Frage, was sie am meisten beschäftigt, antwortet sie ohne zu zögern: »Was meine Tage prägt, ist das Essen. Wenn ich etwas zu Essen im Haus habe, scheint es mir nicht zu reichen. Ich muss alles rationieren.« Gerade gestern Nachmittag, erzählt sie, habe sie bei einer Nachbarin ein Kilo Maismehl ausborgen müssen, weil sie keins bekommen konnte. Das reicht die nächsten drei Tage für Frühstück und Abendessen. »Sie haben uns die Würde genommen«, sagt sie. Seit alles so knapp ist, hat Gabriela fünf Kilo abgenommen. Ihre Kolleginnen haben zwischen zehn und dreißig Kilo an Gewicht verloren.
Zwanzig Telefongespräche und eine Hölle, geschildert von meinen Gesprächspartnern und -partnerinnen am anderen Ende der Leitung.