Hinter den Kulissen

Der letzte Besuch

»In meinem Schatten werde ich getragen«, schrieb der schwedische Lyriker und Nobelpreisträger Tomas Tranströmer. Nun ist er in ihm verschwunden. Hans Jürgen Balmes hat ihn 1989 kennengelernt und sah ihn im Dezember 2013 zum letzten Mal in Stockholm. Eine Erinnerung.

In Stockholm liegt so viel Schnee, dass man von den Gassen in die Läden hinuntersteigen muss. Die Geländer der Brücken scheinen niedrig und das schwarze Wasser, mit dem die Ostsee in die Stadt hineinschwappt, glänzt ölig und kalt. Es ist Dezember, die Feste finden hinter hellleuchtenden Fenstern statt, und um drei Uhr nachmittags ist es dunkel.

Zu Tranströmers möchte ich eigentlich laufen, damit die Freude, ihn nach so vielen Jahren wiederzusehen, und die Beklemmung, nicht zu wissen, ob er sich sehr verändert hat, sich gegenseitig austarieren. 1990 hatte er einen Hirnschlag erlitten, er ist rechtsseitig gelähmt, sein Sprachvermögen reduziert, nur den linken Arm kann er noch bewegen. Aber auch im Rollstuhl reist er wieder, bei Lesungen sitzt er zwischen dem Übersetzer und seiner Frau Monica, die seiner reduzierten Mimik, dem Augenzwinkern, den wenigen Lauten, die er hervorbringt, eine Nachricht abzulesen vermag.

Aber schon nach der ersten Brücke verliere ich auf der Insel Söderhalm den Weg und rufe ein Taxi. Monica Tranströmer öffnet die Tür. Mit einer Willkommensgeste wischt sie alle Bedenken weg: Da sitzt Tomas Tranströmer und scheint freudig den Kopf zu recken. Die Bewegung ist hinzugedacht, denn er sitzt reglos in seinem Lesesessel, gleich neben dem Stutzflügel, mit all seiner Musik und den Büchern um ihn herum. Aus dem Fenster schaut man auf den Hafen, die Bäume davor ahnt man kaum – der Tivoli mit seinen blinkenden Lichtern schimmert übers dunkle Wasser.

Nach dem Bericht, dass sein Bild schon in der U-Bahn zu sehen war, denkt man, ein Lächeln zu entdecken. Aber die Briefmarke habe ich noch nicht gesehen. Wir gehen die Reihe der Freunde durch, zählen die neuen Bücher, eine Minute Schweigen für seinen im Sommer 2013 verstorbenen deutschen Übersetzer Hanns Grössel, den beide sehr liebten, Neuigkeiten über Michael Krüger und Hubert Burda – der Petrarca Preis, der ihn in Europa zur festen Größe werden ließ. Und schon gibt es Essen: Hechtklöße und Flusskrebse und Riesling und noch den Rest Champagner. Die Kerzen strahlen.

Aber es ist so viel Müdigkeit in ihm. Nach dem Mittagsmahl gibt es für ihn Mittagsschlaf, wir anderen trinken Kaffee im Wohnzimmer mit, wie ich errate, dem Bücherschrank, dem er ein Gedicht gewidmet hat. Im Briefwechsel mit seinem amerikanischen Übersetzer Robert Bly wurde der Schrank zum Musterbeispiel der Diskretion Tranströmers. Bly war im Vorjahr in Stockholm gewesen und hatte Tranströmers Mutter kennengelernt, der es damals schon nicht gut ging. In der Zwischenzeit war sie gestorben. Der Schrank in dem Gedicht, das Bly gerade übersetzte, gehört einer »toten Frau« – und Bly fragt in seinem Brief, wer diese tote Frau sei und wie es seiner Mutter gehe. Mit viel Takt möchte Tomas der Antwort ausweichen, aber seinem Text verleiht das eine beinahe fröstelnde Distanz. Und nun sitzen wir direkt davor, und Tranströmer möchte den Text auf Deutsch hören – er achtet auf jede Silbe der Übersetzung Hanns Grössels wie auf eine vertraute Melodie auf einem fremd gewordenen Instrument. Von den Fremdsprachen ist ihm nur das Englische passiv geblieben, und der Bücherschrank ist alles, was er aus der Wohnung seiner Mutter an sich nahm: »Die Wahrheit braucht keine Möbel. Ich bin einmal um das Leben gereist und zum Ausgangspunkt zurückgekehrt: ein leergeblasenes Zimmer.« Schweigen. Ist er ratlos, müde, überwältigt? In einem Buch findet Monica ein Foto seiner Mutter, über das Tomas sanft streichelt.

Der Nachmittag macht ihn trotzdem froh, und zur Feier möchte er etwas auf dem Klavier spielen – Zeichen einer Ausgelassenheit, die selbst Monica überrascht. Zum Spielen muss er aus dem Rollstuhl, mit vorsichtigen Bewegungen umfasst Monica ihn, stemmt sich mit ihrem Gewicht dagegen, er steht, dreht sich mithilfe des Stocks auf den viel zu eng zusammenstehenden Beinen und lässt sich auf der Klavierbank nieder.

*

In den ersten Jahren nach dem Schlaganfall hörte man bei Telefonaten oft im Hintergrund wie aus der Ostsee gezogene, langsame Choräle hallen, am Harmonium, wenn sie auf der Insel Rumnarö waren, oder am Klavier aus der Stadt. Die Musik war der langsam wieder zu ihm zurückgekehrten Sprache vorangegangen, als hätte er sich von den Tönen zu den Worten zurückgetastet: »So, wie wenn im Treppenhaus das Licht ausgeht und die Hand – / vertrauensvoll – dem blinden Geländer folgt, das durchs Dunkel führt.«

1995 hatte ich ihn auf der Schäreninsel besucht, wo die Bäume auf Armlänge vor den Hüttenfenstern stehen. Der Wald ist jung und hell und der Südliche Heufalter ausgestorben und findet sich heute nur noch in der Insektensammlung, die Transtömer hier als Jugendlicher anlegte und die heute im Nationalmuseum aufbewahrt wird. Nun saß Tranströmer am Nachmittag im Garten, im Schoß Notizbücher aus der Zeit vor dem Anfall, in der Hand lange Listen mit Worten, Bilder, Fügungen. Es war, als hätte sich das Dichten umgestülpt – die Bilder reichten nicht mehr zu ihm heran, er musste mit einem tauben Handschuh zu ihnen zurückreichen.

Mit der Linken und in großen Buchstaben füllte er Blatt um Blatt, um nach und nach zu einem Gedicht zu kommen. Gab es bis dahin oft einen epigrammatischen Ton in seinen Texten, scheint es nun eine epigrammatische Struktur, als hätten sich die leeren Zeilen zwischen den Strophen vermehrt. Die Bilder stehen freier, aber alle Bezüge scheinen leicht auf einen Punkt hin geknickt zu sein: »In meinem Schatten werde ich getragen / wie eine Geige / in ihrem schwarzen Kasten.«

Solche Sätze hat er vor dem Anfall notiert, erschienen sind sie erst danach. Ein neues Gedicht hätte er nicht veröffentlicht, wenn das seine letzten Verse gewesen wären, die von ihm in einem Buch stehen: »Wie Kind zu sein, und eine unerhörte Verunglimpfung / wird einem über den Kopf gezogen wie ein Sack / durch die Maschen des Sacks schimmert die Sonne, / und man hört die Kirschbäume summen.« Hat hier das Gedicht das Leben präfiguriert, hatte sich eine Ahnung ausgesprochen, ist ein Dichter in seinem Gedicht verschwunden? So wie Mandelstam schrieb: »Gedichte sind Daseinsentwürfe: der Dichter lebt ihnen nach.« Wir können das aus der Bibel entlehnte »Nimm dein Grab und geh« nie mehr ohne dieses Wissen lesen.

Er selbst schien über diese Bilder und Gedichte wie neugierig verwundert zu sein. Froh über alles, was ihm noch gelingt. Wenn ich mit ihm und durch Monicas Hilfe über die neuen Gedichte diskutierte, gab es keine Spur von Bitterkeit, eher eine Gelassenheit, die auf den Grund des Lebens geschaut hat. Die Zuhörer bei den Lesungen spürten das. Manchmal saß er danach noch stundenlang und malte seine Namen in die Bücher.
 
Jetzt, 2013 in Stockholm: Tranströmer betrachtet die Noten, Frank Bridges ›A Vigil‹, eines der vielen Stücke für die linke Hand, die nach dem ersten Weltkrieg für die vielen Pianisten geschrieben worden sind, die wie Wittgensteins Bruder ihre Rechte verloren hatten. Von überall auf der Welt hatte man ihm diese Partituren geschickt. Er setzt zweimal an, dann ist die Modulation auf dem Piano so perfekt, so nuanciert, dass eine große Überraschung einen ergreift, und gleichzeitig ein Schock, dass im Innern des fast unbeweglichen Körpers, der sich sprachlich nur mithilfe von Monica mitteilen kann, dieser Reichtum, diese emotionale Nuancen leben: Hier sitzt ein Pianist, der sein Stück so im Griff hat, dass er es kolorieren kann, phrasieren, bis der ganze Reichtum des Stücks lebt. Der taube Körper wird beredt.

Nach dem Spiel ist er glücklich und froh, das kann man den kleinen Schattierungen auf seiner Miene ablesen, die man nach ein, zwei Stunden zu entziffern glaubt. Aber er ist auch erschöpft, und Monica schlägt vor, dass wir die mitgebrachten CDs hören: Händel, gespielt von Lisa Smirnova. Er schließt die Augen und nickt, als wäre er mit der Interpretation der Suiten einverstanden, will etwas in den Büchern hinter seinem Sessel nachschlagen. Nein, es stehe im dritten Band, den Monica schließlich aus dem Regal herauswuchtet. Aber er kann die Stelle nicht finden, auch Monica kann ihm diesmal nicht helfen.

Er schließt die Augen und ich verabschiede mich. Alles will ich mir beim Verlassen der Wohnung einprägen, die schwere Eichentür, der Lift mit dem Scherengitter, die Kränze an den Wohnungen, die Luftballons vom Kindergeburtstag, den Spiegel im Vestibül, die Scheiben in der Haustüre, die Ziegel an dem Haus, das Fenster im vierten Stock, vor dem sein Sessel steht, das Fenster im vierten Stock in seinem Rücken – das schwarze Wasser vor seinen Augen, den steilen Hang mit den Bäumen, die man von dem Fenster aus sieht, die Treppen hinunter zum Wasser, das Fenster im vierten Stock, ein Winken – ein Winken.

Hans Jürgen Balmes

Hans Jürgen Balmes

Hans Jürgen Balmes

Hans Jürgen Balmes, 1958 in Koblenz geboren, ist Lektor und Übersetzer. Für »Mare« schrieb er über die »Quellen der Meere«. Porträts und Aufsätze schienen u. a. in der »Neuen Zürcher Zeitung« und der »Süddeutschen Zeitung«. Aus dem Englischen übersetzte er John Berger, Barry Lopez sowie Gedichte von Robert Hass, W. S. Merwin, Martine Bellen und Warsan Shire. 

Tomas Tranströmer

Tomas Tranströmer

Tomas Tranströmer wurde 1931 in Stockholm geboren und besuchte das gleiche Gymnasium wie Ingmar Bergman und Lars Gustafsson. Die Sommer verbrachte er mit seinem Großvater, einem Lotsen, auf der Schäreninsel Runmarö. 1954 erschien sein erster Gedichtband »17 Gedichte«, der ihn zur Hoffnung seiner Generation machte. Nach dem Studium arbeitete er als Psychologe in einer Haftanstalt und als Berufsberater. 1981 erhielt er den Petrarca-Preis, 2011 den Literatur-Nobelpreis. Tomas Tranströmer starb am 26. März 2015 in Stockholm.