Hinter den Kulissen

Fahrtenschreiber – Lektoren unterwegs

In unserer Rubrik ›Fahrtenschreiber‹ nehmen wir Sie mit auf Reisen. Die Lektorinnen Petra Gropp und Britt Somann fuhren quer durchs Land und trafen Silvia Bovenschen, Ulrich Peltzer, Bernd Schroeder und Ruth Ozeki.

Eine Reise nach Berlin um den 1. April: im Kino mit Ulrich Peltzer; ein Gespräch mit Bernd Schroeder; ein Abend an der Volksbühne zu Hubert Fichte, live und improvisiert; ein Besuch bei Silvia Bovenschen. Es geht ums Geschichtenerzählen. Um Fotografien, Filmbilder und Porträtgemälde.

Montag, 31. März, eine Weltenreise aus der Kastanienallee zum Kottbusser Tor. Ulrich Peltzer spricht vom Raum ›Vierte Welt‹, in dem Diskurstheater stattfindet, in der Investitionsruine des Brückenhauses, diesem gelben Monster mit gerundeten Balkonfenstern, retrofuturistisch, Überbleibsel der geplanten Autobahnstadt Berlin, auf der Rückseite daher schalldicht fensterlos, heute mit so hohen Schulden belastet, dass die Wohneinheiten unverkäuflich sind.

›Stories We Tell‹ im fsk, Kino am Oranienplatz, Sarah Polley befragt ihre Familie, die plötzlich nur noch eine Halb-Familie ist, nach ihrer Mutter, der lebensstrahlenden Schauspielerin, die alle mit ihrem Lachen glücklich machte. Lebensgeschichten und Lügen und Wahrhaftigkeiten. Auch im neuen Roman von Ulrich Peltzer die Frage nach dem guten Leben, dem besseren Leben, dem richtigen Leben. Und wie wir Geschichten erzählen.

Dienstag, 1. April, Friedenau, im Wintergarten mit Kindergezwitscher und Glockenschlägen. »Sie hätten sowieso früher sterben sollen.« Bernd Schroeder erzählt von einer Lesung aus ›Alte Liebe‹, zum Signieren stoppt eine Leserin, bevor Elke Heidenreich das unterschriebene Buch an Bernd Schroeder weiterreicht, die Übergabe mit eben diesen erzürnten Worten. Der hätte nicht überleben sollen. Als doch Überlebender kehrt Bernd Schroeder bzw. der Erzähler seines jüngsten Romans, ›Auf Amerika‹, in sein geschundenes Dorf zurück, zu den Toten, den alt Gewordenen und erfindet im Erzählen all die Gestalten neu, die Lammermutter, den Hochzeitsmacher, die Postlerin, den Vater und den Veit. »Auf Amerika, so sagte man in der Lammermuttersprache«, liest Bernd Schroeder in die Kamera, erklärt den Titel seines Romans, auf Amerika, dort sei der Veit gewesen, das erzählte man sich im Dorf. Diese Geschichte ist wahr. Stories we tell.

Am Abend: »Die Mysterien finden an den Bahnhöfen statt«, im Roten Salon, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, ein Satz von Beuys, ein Motto für Fichte. »Fichte, das hab ich gegoogelt.« Gigantisch steht er auf der Bühne und schaut hinab, mit tiefen dunklen Augen, die Brauen geschwungen wie Fragezeichen, blau-schwarze Haarpracht, der Lockenprinz. Acryl, ein Gemälde von Paule Hammer. Vor dem Porträt Mutmaßungen, Geschichten, Fragen wie Fichte, Zwischenrufe, das PALETTENABC. »Jäcki geht über den Gänsemarkt: Die Palette ist neunundachtzig Schritte vom Gänsemarkt entfernt.« Die Geschichte der ›Palette‹.

Am Nachmittag, einige Stunden zuvor, ein anderes Porträt, Silvia Bovenschen, ein Gemälde von Sarah Schumann, es fehlt an der Wand dieser türkishellen Wohnung in Charlottenburg. ›Was wir zeigen wollen‹, es ist zu sehen im Heidelberger Kunstverein.

Von Petra Gropp – Lektorat für deutschsprachige Literatur

Quer durchs Land mit Ruth Ozeki

Köln, nein, LitCologne, der Auftakt zu Ruth Ozekis Lesereise, die ich hier zum ersten Mal treffen werde. Vor dem Bahnhof ins Taxi gesprungen, und der Taxifahrer sagt: »Wissen Sie, ich schreibe ein Buch«, und ich denke, Nicht du auch. Worum es dabei geht, bleibt unklar, stattdessen werde ich intensivbefragt: »Was wünschen Sie sich? Ich weiß, Sie haben Wünsche!« Was soll man da sagen – äh, nee? Ich lerne, dass ich ein Recht auf freie Taxiwahl habe – zu spät. Zum Glück ist der Wasserturm nicht weit.

Unsere erste Begegnung vollzieht sich nebenbei, ein Augenblick nur, aber ein guter. Wir müssen früher zum Veranstaltungsort als gedacht, Ruth Ozeki hat tief geschlafen, als der Anruf kam, konnte sich nicht mehr umziehen und sieht trotzdem blendend aus, nun lacht sie über die erste (und letzte) Panne der Lesereise, »we’ll get the mistakes out of the way early«. Flugs ins Shuttle geschlüpft, und plötzlich ist die Ruhe da. Mit Bernhard Robben, der den Abend moderieren wird, gleiten wir in einer Kapsel Richtung Kulturkirche; das Gespräch schwappt von kuriosen Komposita zu Künstlerkolonien (auch so eins) – Eheanbahnung für die kreative Klasse, Ruth kann das bestätigen. Köln ist grauverhangen, Montagabend kurz vor sechs.

Die Lesung wird fulminant. Ein vollbesetztes Kirchenschiff und drei auf der Bühne, zwischen denen die Funken fliegen. Die bezaubernde Suzanne von Borsody lebt die ›Geschichte für einen Augenblick‹ und erteilt aufgekratzte Kaufbefehle, Bernhard Robben fragt listig-verschmitzt, und im Zentrum sitzt Ruth Ozeki, so aufgeräumt und unverstellt, klar und heiter, dass das Gespräch über Zeitwesen und Sein-Zeit, Teenager und Tsunamis, Quantenphysik und Schreibtischqualen zusammenschnurrt zu einem einzigen Augenblick, auf den die Kette aller Augenblicke zuzulaufen schien. Signieren oder Meditieren, alles andere ist danach sinnlos.

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel; am nächsten Morgen geht der Zug nach Berlin. Ein Ausstellungsbesuch in Köln hängt Ruth noch nach, alte christliche Kunst neben moderner Kunst im Kolumba-Museum; ihr, die sie keiner Kirche angehört, erschien das Neue plötzlich so blass, verzagt, ironisch, vielleicht kommen die Dinge wirklich an ein Ende? Der Kölner Dom steht schwarz und schweiget und verschwindet schließlich. Dann ein Lichtblick: Kleingärten! Kleine Hütten, kleine Gärten, wohnen da Leute? Vielleicht Hobbits. Natur in Städten, Natur, die sich Städte zurückerobert, das interessiert Ruth und ihren Mann Oliver Kellhammer, der »botanische Interventionen« zu seinem künstlerischen Thema gemacht hat. Das Tempelhofer Feld wird sie begeistern. Aber noch schunkeln wir durch Wuppertal, Hagen, Hamm, Bielefeld, deutsches Herzland, und ich weiß nichts darüber. Hannover, Wolfsburg, ha, VW! German engineering is in ze haus – unter Ruths Freunden längst Tagline des Alltags, passt immer irgendwie.

Und dann: Ballin. Noch ehe wir am Ostbahnhof aussteigen, scheint ausgemacht: Das ist ein Stadtwesen ganz nach Ruths Geschmack. Oliver und sie wollen wiederkommen, gemeinsam arbeiten, denn seine deutsch-kanadischen und ihre japanisch-amerikanischen Wurzeln haben sich längst um die Frage geschlungen, was der Zweite Weltkrieg mit ihren Familien gemacht hat. Diese Geschichte ist noch lange nicht vorbei, im Gegenteil: Ruth Ozekis ›Geschichte für einen Augenblick‹ hat gerade erst begonnen.

Von Britt Somann – Lektorat für fremdsprachige Literatur