November - Toronto
1
Tief im Herbst -
mein Nachbar,
wie es ihm wohl geht?
Basho
November ist der Monat der fallenden Blätter, Laubrechenmond, es wird kälter. In Toronto wird nur noch Rote Beete und Kürbis als Gemüse angeboten, die New Yorker bestellen den Weißwein ab und wollen zu Drinks einen Malbec. Man sucht vorm Joggen nach der Mütze. -- Es wird kälter wie damals in Japan auf dem Koya-san: Um den Buddha standen die Stiftungen der Gläubigen - Sake, Reis und in großen Kartons Laubgebläse vom Baumarkt.
2
In Toronto holte mich der Fahrer vom Harbourfront-Literaturfestival am Flughafen ab. Eben noch lag das Gitter aus hellerleuchteten Straßen in der Nacht unter dem Flieger, dahinter der im Dämmer versinkende Lake Ontario, und schon rast man unter den gelborange glühenden Bogenlampen an den Highway-Schildern in die Innenstadt, deren tintige Silhouette am Horizont langsam hochwächst und den See verschluckt.
Alle Fahrer bei Literaturfestivals sind entweder Tischler (Köln, hatte als erster von Bon Iver gehört), Lyriker (Island, schrieb eine Arbeit über die erfundenen Sprachen von Sigur Rós) oder eben Musiker wie hier in Toronto. Der eine ist Schlagzeuger, der andere Trompeter. Der Trompeter fragt mich, ob ich Mehmet Scholl kenne? Den Fußballer, klar, aber nicht persönlich. Er schon - und dann erzählt er, dass Scholl einen Narren an seiner Band ›The Hidden Cameras‹ gefressen hatte und zu allen Konzerten in deutschen Clubs gekommen war. Und dann das große Ding: Bayern München flog sie zu Scholls Abschiedsfest ein. Was? Nach unserer Zeit war es 2 Uhr nachts, doch zu viel Malbec im Flugzeug? Nein, Shaun erzählt weiter, Bayern München habe sie eingeflogen, damit sie auf dem Abschiedsfest von Scholl spielten. Und der hätte ihnen Lederhosen und weiße Hemden geschenkt. Aber vorher spielten wir im Stadion. Ja, wirklich? Ja, beim Abschiedsspiel. Gegen Barcelona, sie waren die Vorgruppe. Das Stadion hätte keine richtige Anlage gehabt, deshalb hatten sie vorher alles aufgezeichnet, dann das Band abgespielt und sie hätten zu sich selbst Playback gesungen, Instrumente gezupft und Blech geblasen. Und übrigens, die Bayern hätten 1:0 verloren. Mir bricht das nicht das Herz. Na ja, aber er habe Barcelona gesehen, und Scholl wäre trotzdem nachher bester Laune gewesen. Und dann hätte er die ganze Nacht in Lederhosen Trompete geblasen. -- Er setzt mich vor dem Hotel ab. Was soll man dazu noch sagen? The Hidden Cameras, gleich googeln, sobald die Verbindung klappt. Klappt.
3
Anne Carson kommt aus ihrem Zimmer im Harbourfront Hotel herunter. Wir sitzen in der Lobby, die gleich hinter der Fährstation über den Lake Ontario liegt - davor der Hafen und ein Gürtel aus kleinen grünen Inseln. Die Bäume draußen sind in der späten Sonne von leuchtendem Gelb, Orange und einem tiefen Scharlachrot, das Wasser schillert, die Bäume auf den Inseln biegen sich im Wind. Oh Canada, on the back of a cartoon coaster I draw a map of Canada - Joni Mitchell und Neil Young waren meine Initiation in die kanadische Lyrik. Not the worst. Eine Sybille, die ironisch trockene Repliken aussendet. I have a present for you, but don't if you can carry. Es ist ein Einzelblatt, ein Gedicht, in London gedruckt. You can frame it and hang it in your office, you know. Sie trinkt grünen Tee, trägt noch nicht wie für die Lesung den Frack, sondern sieht aus, als wäre sie gerade aus dem Fitness-Bereich aufgetaucht. Das Hotel habe fast ein Olympiabecken und man könnte richtig gut Runden schwimmen. -- Das muss sie wohl getan haben, denn am Abend erklärt sie anhand eines Schwimmbeckens, warum sie nie wissen kann, ob ein Text sich in Richtung Lyrik oder Prosa entwickele. Wenn man beim Schwimmen immer auf die Linie am Grund des Beckens, die die Bahnen voneinander trennt, achtet, wird man nie eine gerade Linie schwimmen. Wenn man nicht darauf achtet, dass man alles, was man im Sinn hat, aufs Papier bringt, wird es nie ein Text. More meaning. Also schwimmen, nicht schauen. -- Einem jungen Studenten, der sympathisch aufgeregt seine Frage nach den kommunikativen und hermetischen Elementen so lange extemporiert, bis er sie selbst beantwortet, antwortet sie nur: God bless you, son. Sie ist die Königin, und an dem Abend kann es nicht genug Ironie, Glas und Gott geben.
Von Hans Jürgen Balmes – Programmleiter Internationale Literatur