Naturgemäß: Manuskripte über Manuskripte. Das beschwingt oft auch die Abendlektüre: Inspiriert von Florian Illies‘ im Herbst erscheinenden Buch Liebe in Zeiten des Hasses, lese ich im Moment Die Vielen und der Eine von Ruth Landshoff. Ihr Roman über die lebenshungrige Reporterin Louis Lou von 1930 ist so fabelhaft rasant wie die damals 26-jährige Autorin, die in den Roaring Twenties Herz und Seele der Berliner Bohème war – als Muse und Künstlerin, als Freundin und/oder Liebhaberin von Josephine Baker, Charlie Chaplin, Klaus und Erika Mann und als Nichte Samuel Fischers. Ihre hedonistische Heldin folgt Landshoff auf dem Fuße durch die Subkultur und High Society von Berlin, Paris, London und Los Angeles.
Der E-Reader ist unschlagbar praktisch, um Manuskriptebergen beizukommen, aber für mich bleibt er ein Arbeitsmittel. Für das vollkommene Leseglück brauche ich das Rascheln des Papiers beim Umblättern, das Gewicht der Seiten in den Händen und dieses unvergleichliche Gefühl, mit jedem Buch eine neue Welt aufzuschlagen.
Es könnte Sturheit oder Feigheit sein, möglicherweise auch nur eine Kompensationsstrategie, weil ich tagsüber so vieles zur Seite legen muss, doch das meiste, was ich anfange, lese ich auch zu Ende. Ich übe mich aber im Loslassen. Zuletzt hat es bei Römische Tage von Simon Strauss geklappt.
Die Hauptsache von Hilary Leichter – ein schier wahnwitziger Ritt durch die moderne Arbeitswelt, bei dem eine Zeitarbeiterin in New York versucht, ihrem Leben durch Arbeit Sinn zu verleihen – ein Unterfangen, das sich schnell ins Absurde verkehrt: Sie jobbt mal in einem Großraumbüro, mal auf einem Piratenschiff, mal als Assistentin eines Mörders oder als Seepocke, stets dem großen Ziel entgegengewandt: endlich eine feste Anstellung zu finden.
Das passiert mir fast nie, vielleicht weil ich viel zu früh eine exzessive Stephen-King-Phase eingeläutet habe, vielleicht auch, weil ich als Sachbuchlektorin ein Buch zu viel über den Dreißigjährigen Krieg auf dem Schreibtisch hatte? Als ich Daniel Schreibers Zuhause gelesen habe, war es fast soweit. Auch Heart Berries von Terese Marie Mailhot, Joseph Cassaras The House of Impossible Beauties oder On Earth We’re Briefly Gorgeous von Ocean Vuong haben mich sehr berührt.
Unmöglich, sich für eine zu entscheiden! Olympia Binewski aus Katherine Dunns Geek Love gehört auf jeden Fall in die Top 50, genau wie Karl aus Sven Regeners Herr Lehmann, Jo aus Little Women von Louisa May Alcott, J.D. Salingers Holden Caulfield in Catcher in the Rye oder Lionel Essrog aus Jonathan Lethems Motherless Brooklyn und Kali aus Mithu Sanyals Identitti und …
Mit Flammenwerfer von Rachel Kushner lassen sich gleich zwei Städte ganz neu erkunden. In SoHo zieht Reno mit uns durch die New Yorker Künstlerszene der Siebziger und nimmt uns dann – nach einem Abstecher zu einem Motorradrennen in den Salzwüsten – mit nach Rom, wo sie in die Wirren der politischen Unruhen gerät. Der sprachgewaltige Kushner-Sound und das elektrisierende Erzähltempo machen diesen Roman über eine Frau auf der Suche absolut unvergesslich.
Nein, alles hat seine Zeit.
Zwar schätze ich J.R.R. Tolkien als Weltenbauer und Sprachwissenschaftler sehr, aber mit Der Herr der Ringe konnte ich nie etwas anfangen.
Am besten alles von Hannah Arendt, besonders die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Und die Essaysammlung Your Silence Will Not Protect You von Audre Lorde.
Die Liste ist lang und ständig in Bewegung, aber mich würde eher beunruhigen, wenn dem nicht so wäre – es gibt immer Ungelesenes, das wartet, das hat etwas Tröstliches. Aber Ovid zum Beispiel hängt schon viel zu lange in der Warteschleife…
Die Bücher von Ingeborg Bachmann, Georg Büchner, Toni Morrison oder Bertolt Brecht werden mich bestimmt immer begleiten.