Hinter den Kulissen

Vom Notizbuch in London zwischen zwei Buchdeckel in Frankfurt

Ein feinmaschiges Netz aus Gedanken, Referenzen und Dialogen spannt sich von der Idee zum übersetzten Roman. Autorin Sigrid Rausing und Übersetzerin Adelheid Zöfel gewähren uns einen Blick hinter die Kulissen.

Sigrid Rausing
© © Tom Rausing

Die Geschichte des Buches – provisorisch
Aus dem Notizbuch von Sigrid Rausing

Ich habe mit aller Kraft versucht, mich daran zu erinnern, wer ich bin.

Ich schrieb Fragmente, um die Trauer ertragen zu können - um die leidvollen Erfahrungen zu bündeln - um eine Erzählung zu schaffen.

Trauma und Trauer – führen sie zum Verlust der Spezifität? Weg vom Exemplarischen und hin zum Spezifischen?

Die Offenlegung des Geheimnisses – was ist wirklich geschehen? Wie das Jucken einer heilenden Wunde.

Freud schrieb aus Unsicherheit – der »Fall Dora« (Bruchstücke einer Hysterie-Analyse.) Ein Rätsel, ein Puzzle, ein Enigma.

Schatten des Zweifels auf den Wassern des Protestantismus, den Wassern der Gewissheit: Foucault, Goffman, Orwell.

Die Hoffnung, dass das Buch jemandem hilft. Jemandem nützt.

Die Veröffentlichung ist Teil des Denkprozesses. So ähnlich, wie wenn man ein Haus bewohnt, das man renoviert hat. Wie wenn man ein Musikstück vor Publikum aufführt. Man schreibt, um herauszufinden, was man denkt; man veröffentlicht, um die eigene Scham zu überwinden.

Der Makel der Scham haftet an der Publikation: die Scham transzendieren.

Schlussfolgerung: Alles Leid wird erträglich, wenn man es in eine Geschichte eingliedert – Karen Blixen im Life Magazine, zitiert von Hannah Arendt 

Die Kinder sehen keinen Unterschied zwischen berühmt sein und Aufsehen erregen. Vielleicht haben sie ja recht.


Worum geht es in diesem Buch?

Das Mysterium der Sucht

Omnipräsente Ambivalenz

Was ist Schuld

Was ist Liebe

Sigrid Rausing und ich
Von Adelheid Zöfel

Wir sind uns noch nie begegnet, haben aber monatelang so gut wie jeden Tag länger oder kürzer miteinander geredet, mal mühelos und fröhlich, mal schwermütig und ernst, mal offen, mal diskret. Und immer magisch. Von diesen Zwiegesprächen hat Sigrid Rausing nichts gemerkt. Sie hatte sich schon in Schriftzeichen auf Papier verwandelt.

Übersetzen ist immer Dialog. Ich höre erst mal zu, indem ich die Sätze lese. Wie meinst du das?, frage ich (beim Übersetzen duze ich die Autoren innerlich). Was willst du mir sagen?, frage ich, bevor ich mir die Wörter (also die Antworten) aneigne, sie sozusagen durch mich hindurch fließen lasse, um sie schließlich, in eine andere Sprache verwandelt, meinem Computer anzuvertrauen. Bei einem Memoir ist dieser Vorgang natürlich noch intensiver, noch intimer. Zumal wenn die Autorin so uneitel, so klug und ehrlich ist wie Sigrid Rausing.

Ich lese, was sie denkt – das heißt, ich weiß, wie sie ihre Gedanken formuliert. Ich erfahre, was sie liest, welche wissenschaftlichen Forschungsprojekte sie gut findet, welche Fernsehsendungen sie sieht, welche Ausstellungen sie besucht. Ich sehe sie und ihre Geschwister im Auto sitzen und singen, auf dem Weg in die Ferien, als Kinder in Schweden. Ich sehe sie heute, mit der großen Familie, bei einem großen Essen, und wieder fangen sie an zu singen (da bin ich dabei!).

Beim Übersetzen höre ich auch das Schweigen. Warum brichst du den Erzählfluss an dieser Stelle ab?, will ich wissen, wenn in meinem Kopf etwas weiter schwingt, und gerade bei diesem Buch ist es mir öfter so gegangen – und ich habe verstanden, warum sie aufhört. Sigrid Rausing wollte alles erzählen, aber nicht alles preisgeben, sie wollte niemanden bloßstellen, niemanden beschämen. Sie wollte den Schmerz zeigen, ihn aber nicht ausschlachten.

Am meisten hat mich bei ihrem Memoir der Familienhintergrund fasziniert, die Kindheitsgeschichte, der Weg in die Welt, oft so vergnügt – und der Weg in den Schmerz, die Teilnahme am Elend. Ich dachte immer wieder, dass ich mich mit der Autorin gut verstehen würde, mich gern real mit ihr unterhalten würde. Aber nicht während des Übersetzens. Ich habe ihr persönlich keine Fragen gestellt. Beim Übersetzen zählt für mich der Text. Sie hat den Text veröffentlicht, ihn der Öffentlichkeit geschenkt, und ich als Übersetzerin bin nichts anderes als eine Primärleserin, die jede Redewendung, jedes Komma kapieren will. Die Autorin ist mit im Boot, klar, aber sie hat in dem Sinn nichts mehr zu sagen. Sie tritt zurück, sie schimmert und leuchtet im Hintergrund. Anderen Lesenden wird sie auch nichts zusätzlich erklären, die anderen sind ebenfalls allein mit dem Text.

Ich war oft traurig beim Übersetzen, weil die Geschichte so traurig ist; die positiven Ausblicke kommen am Schluss. Kein Happyend - vielleicht Versöhnung mit dem Schicksal. Aber irgendwann, beim dritten Durchgang oder so, tritt das Einfühlen immer mehr in den Hintergrund, und das Handwerkliche schiebt sich noch vorn – stimmen die Übergänge, die Anschlüsse, habe ich nichts übersehen, lockt ein Satz den nächsten herbei? Entspricht die Atmosphäre, die meine Wörter entstehen lassen, der Stimmung im englischen Original? Passt die Stilebene? Das alles war hier besonders wichtig, weil die erzählten Fragmente so vielschichtig sind, weil wir durch ganz unterschiedliche Welten und Textsorten geführt werden. Kinderszenen, Emails, Briefe, wissenschaftliche Debatten, Schulberichte, Landschaften, Zeitungsschlagzeilen, Traumsequenzen.

Sigrid Rausing kann sehr gut Deutsch. Und ich hatte großes Glück: Sie hat meine Version, meinen Text ihres Textes gelesen, als ich fertig war. Und für gut befunden.
Das hat mich sehr gefreut.
Das ist die Krönung!

Jetzt können wir uns auf eine Tasse Tee verabreden. Ich glaube, wir haben einander viel zu erzählen, mit und ohne Text. Das Buch ist abgeschlossen. Gut so. So viel Leben zwischen zwei Buchdeckeln! Wir können nun unbesorgt an der Themse entlang spazieren. Am liebsten würde ich dann in die Cafeteria der National Gallery gehen, da gefällt es mir so gut. Oder – wie wär's mit Muswell Hill, Sigrid Rausing?

Bezüge und Einflüsse
Aus dem Notizbuch von Sigrid Rausing

Psychologie

Walter Mischel – Marshmallow-Test
Harry Harlow – Experimente mit Rhesusäffchen zur Bindungstheorie
Stanley Milgram – Milgram-Experiment

Psychoanalyse

Sigmund Freud – Das Unheimliche
                            – Die Traumdeutung (Hamlet)
Herbert Rosenfeld – Sackgassen und Deutungen
Adam Phillips – Essay Against Self Criticism (LRB – London Review of Books)
Nicolas Abraham, französischer Psychoanalytiker

Psychiatrie und Neurologie

Professor Elizabeth Loftus, University of Washington
Karl Deisseroth – neurologische Untersuchungen über Ratten:  risikoscheu / risikofreudig
Markus Heilig – neurologische Untersuchungen zu der Frage, wie Gehirne süchtiger Menschen auf Schmerz reagieren

Kunst und Literatur

David Grossman
George Orwell – 1984 (»Vielleicht wollte man weniger geliebt als vielmehr verstanden werden.«)
Emil Nolde – Adam und Eva, Verlorenes Paradies
Jüdische Enzyklopädie – Adam und Eva
August Strindberg – Ein Traumspiel
Joan Didion – Spiel dein Spiel
Anne Carson – Nox
                        – Bakkhai 
Sean Penns Film Into the Wild
Gustave Flauber – Madame Bovary (»Ist doch die Rede ein Walzwerk, das die Gefühle streckt.«)
Die schwedische Oper Stilla min eld  (über die Familie Rausing, von Fredrik Högberg)   
Asif Kapadias Dokumentarfilm Amy
Shakespeare – Hamlet
Thomas Viterbergs Film Das Fest
Andy Warhol und Edie Sedgwick
Tove Jansson – Die Mumins
Allen Ginsberg – Howl
The Seekers – The Carnival is Over
Rimbaud und Verlaine – Eine Zeit in der Hölle.
                                         – Illuminationen.
Erving Goffman über Mikrokulturen
Chris Kraus' autobiographischer Roman I Love Dick
C.S. Lewis, Laura Ingalls Wilder, Astrid Lindgren, Tove Jansson, Agatha Christie,
Rex Stout, P. G. Wodehouse, J. R. R. Tolkien
Rudolf Meidner – über »Nordic Noir« und über Antikapitalismus
Simone de Beauvoir
Ishmael Reed, Zitat von George Bernard Shaw
(The Last Day in the Old Home von) Robert Braithwaite Martineau (1862)
Anne Brontes Roman von 1848 – Die Herrin von Wildfell Hall
Die Anbetung des Bacchus von George Cruikshank
Tolstoi
Thoreau
Die Simpsons
Das Schicksal der Kinder von Cleveland und Orkney
Jean Rhys – Good Morning, Midnight
Gustav Klimts Porträt von Ria Munk

Nicht genannte Einflüsse

Michel Foucault
Anita Brookner
Kent Haruf
Adam Nicolson
Denise Riley
Barry Lopez – Sliver of Sky (Essay)
W. G. Sebald – Die Ringe des Saturn
Janet Malcolm – Vater, lieber Vater. Aus dem Sigmund-Freud-Archiv
Andrew Solomon – Saturns Schatten: Die dunklen Welten der Depression
                             – Weit vom Stamm. Wenn Kinder ganz anders als ihre Eltern sind
Jan Morris – Conundrum. Mein Weg vom Mann zur Frau

Fachleute und Experten im Text:

Richter Timothy Workman
Dr. Nathaniel Carey – Pathologe
Dr. Kindness und Dr. Brewer – Suchtspezialisten im Stapleford Centre

Sigrid Rausing ist die Verlegerin von Granta Books und Portobello Books, Herausgeberin des Granta Magazine und Tochter des Tetra-Pak-Gründers Hans Rausing Sr. Sie ist promovierte Anthropologin und setzt sich mit ihrer eigenen Stiftung für Menschenrechte ein. Mit »Desaster« unternimmt sie den mutigen Versuch, das erschütternde Chaos, in das die Sucht ...

Zur Autorin
  • Desaster
    Sigrid Rausing

    Desaster

    Die erschütternde Geschichte einer Familie über Sucht, Selbstzerstörung und den verzweifelten Wunsch zu helfen.

    Die Verlegerin und Tochter des Tetra-Pak-Gründers, Sigrid Rausing, erzählt in ihrem autobiographischen Buch »Desaster« die tragische Geschichte der Drogensucht ihres ...

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