Hinter den Kulissen

Was liest Norma Schneider?

Norma Schneiders Leidenschaft gilt der deutschen und russischen Literatur, ihre akademische Laufbahn wurde von Adorno begleitet und Must-Reads haben für sie auch eine politische Bedeutung. So liest unsere Kollegin, wenn sie sich nicht gerade für den nächsten Band der Werkausgabe durch Texte von Thomas Mann arbeitet.

Was liest du gerade?
Ich habe gerade mit dem neuen Buch von Vladimir Sorokin angefangen, »Manaraga – Tagebuch eines Meisterkochs«. Sorokin gilt als der wichtigste russische Gegenwartsautor. Er schreibt sehr radikale, experimentelle Literatur. »Manaraga« ist, wie auch seine letzten Bücher, eine ziemlich abgedrehte Zukunftsvision:  Im Jahr 2037 werden Bücher nicht mehr gelesen, sondern bei exklusiven Events verbrannt und edle Speisen über ihnen gegart. Hoffen wir mal, dass es nicht so kommt. 

Liest du auf Papier oder auf einem E-Reader?
Immer auf Papier!

Was war das letzte Buch, das du nicht bis zum Ende gelesen hast?
Vieles, was mir nicht gefällt, breche ich schon nach wenigen Seiten ab. Da fällt mir jetzt nichts Bestimmtes ein. Aber ein Buch, das mir sehr gefällt und das ich trotzdem (noch!) nicht zu Ende gelesen habe, ist Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Da stecke ich noch mittendrin und lese schon seit Jahren immer mal ein wenig weiter. Oft fehlen mir aber die Zeit und die Konzentration. Aber es ist ja auch schön, sich die guten Sachen aufzusparen.

Was war das letzte Buch, das dich zum Lachen gebracht hat?
Spontan fällt mir Stefanie Sargnagels »Statusmeldungen« ein, das ist an vielen Stellen wirklich brillant und sehr lustig.

Was war das letzte Buch, das dich zum Weinen gebracht hat?
Ich glaube, das war Bodo Kirchhoffs »Widerfahrnis«, ein sehr berührendes Buch.

Was ist deine liebste Romanfigur?
Hans Castorp aus dem »Zauberberg«, und zwar nicht, weil ich mich so gut mit ihm identifizieren könnte oder ihn so sympathisch fände, sondern weil diese Figur so großartig entfaltet wird. Man bleibt über 1100 Seiten immer sehr nah bei Castorp. Mit und an ihm entfalten sich die ganze komplexe Geisteswelt und die wunderbare Sprache des Romans. Aber er ist nie nur Mittel, um philosophische Thesen zu schildern, er bleibt immer auch eine sehr greifbare Figur, die man bis in alle Feinheiten und alle Verletzlichkeit kennenlernt. Das Gegenteil von Oberflächlichkeit.  

Welches Buch empfiehlst du für einen Städtetrip nach Moskau?
Ein gutes aktuelles Buch, das in Moskau spielt, ist »Text« von Dmitry Glukhovsky. Der Roman erzählt von einem jungen Mann, der sieben Jahre unschuldig im Straflager saß und nach seiner Freilassung versucht, in sein altes Leben zurückzukehren  oder wenigstens ein neues zu beginnen. Ein trübes, winterliches Moskau zwischen Partydrogen und Propagandafernsehen bildet den Hintergrund. Wer ein romantisches Bild von Russland sucht, wird enttäuscht sein. Die Stimmung von »Text« ist nicht gerade hoffnungsvoll. Das passt aber ganz gut zur Atmosphäre im heutigen Moskau.

Manchmal schämt man sich dafür, ein bestimmtes Buch zu mögen – hast Du eins?
Nein, die Bücher, die ich mag, finde ich auch wirklich gut und schäme mich nicht dafür!

Gibt es ein Buch, das alle Welt liebte, nur Du fandest es doof?
Oh, da gibt es so einige. Zum Beispiel konnte ich den Hype um »Das Parfüm« nie verstehen und Kehlmann finde ich auch eher langweilig. Bei den Klassikern wurde mir »Oblomow« etwas zu öde, obwohl die Idee brillant ist.

Welches Buch sollte Deiner Meinung nach jeder gelesen haben?
Das Buch, das ich selbst am wichtigsten finde, ist leider eines von der Sorte, an der man sich gut die Zähne ausbeißen kann, und das viel Vorwissen verlangt. Deshalb wäre es wohl etwas zu viel verlangt, dass jeder es liest. Aber ich kenne kein anderes Buch, das so viel Wichtiges für eine Analyse auch der gegenwärtigen Gesellschaft enthält wie die »Dialektik der Aufklärung« von Adorno und Horkheimer.  Ich glaube, wenn viele Menschen dieses Buch lesen und verstehen würden, wären wir vielleicht weniger machtlos gegen Hass und Verdummung, weil wir diese Phänomene zumindest besser verstehen würden. Aber es gibt auch weniger komplizierte Bücher, die sich gegen Hass und Unrecht richten. Solche Bücher sollte jeder lesen. Klassiker wie Solschenizyns Bücher über den sowjetischen Gulag, einen aktuellen Roman wie Menasses »Hauptstadt«, der zeigt, warum die EU unbedingt gegen den Nationalismus zu verteidigen ist, oder ein Manifest wie Carolin Emckes »Gegen den Hass«. 

Welches Buch hast Du nie gelesen und wünschtest, Du hättest es?
Viele Klassiker, vor allem »Don Quixote«, »Krieg und Frieden« und »Tristram Shandy«. Und die Bibel, für die Allgemeinbildung!

Zu welchem Buch kehrst Du immer wieder zurück?
Ich lese immer wieder »Irre« von Rainald Goetz. Schon als ich es vor vielen Jahren zum ersten Mal gelesen habe, hatte ich den Gedanken: So sollte Literatur sein. Gegenwärtig, verspielt, komplex, gesellschaftskritisch, radikal.  Es ist auch nach 35 Jahren noch aktuell, denn es behandelt den ewigen Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Anpassung und Freiheit. »Irre« bleibt für mich ein Roman, an dem sich andere Bücher messen müssen.

Norma Schneider
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