Interviews

Das Gute dem Langweiligen entreißen

Anne Weber steht mit ihrem neuen Roman ›Kirio‹ auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse. Wer die Geschichte von Kirio liest, könnte leicht auf den Gedanken kommen, das Gute sei eigentlich viel geheimnisvoller als das Böse. Woher kommt es? Kann es heute noch so etwas wie einen Heiligen geben? Wenn ja, müsste er wohl wie Kirio aussehen.

Kirio ist die Hauptfigur deines neuen, gleichnamigen Romans. Wer ist dieser Kirio?

Kirio ist mehr, als hier in eine Antwort hineinpassen würde. Für den Leser – und sogar für mich selbst –, bleibt er letztlich ein Rätsel. Aber natürlich kann ich versuchen, ihn zu beschreiben. Sein Hauptmerkmal ist wohl: Er ist ganz ohne Arg. Wahrscheinlich ist er, was man einen guten Menschen nennt, aber er weiß es nicht. (Wäre er, wenn er es wüsste, noch ein so guter Mensch?) Wo er auftaucht, wenden sich die Dinge zum Guten.
Kirio bemüht sich nicht, ein guter Mensch zu sein. Er tut das Gute, ohne es zu wissen und ohne es zu wollen. Er ist einfach so. Sein Gut-Sein geht so weit, dass er oft gar nicht erst etwas zu tun braucht: Es ist, als würde sein Wesen auf seine Umgebung ausstrahlen, als würde seine Anwesenheit genügen, um das Schlimme abzuwenden.
Für die Figur des Kirio hatte ich ein reales Vorbild, einen Menschen, den ich kenne und der mir ein Rätsel ist. Diesen Menschen beobachtend und über ihn staunend, dachte ich mir: Wie kommt es eigentlich, dass alle immer so vom Bösen fasziniert sind, warum ist die Literatur so voll davon? Ist nicht das Gute im Menschen viel rätselhafter? Für das Böse gibt es immer Erklärungen: eine schlimme Kindheit, abwesende oder liebesunfähige Eltern, Enttäuschungen und Verletzungen aller Art, Zurückgesetztsein ... Das Gute aber erscheint mir viel geheimnisvoller. Wie entsteht es? Warum ist jemand »gut«? (Ich sage der Einfachheit halber »das Gute« und »das Böse«, als gäbe es diese in Reinform.) Wie kommt es, dass das Gute im Menschen weiter besteht, obwohl kaum jemand noch die zehn Gebote kennt, geschweige denn glaubt, nach ihnen handeln zu müssen, und obwohl niemand mehr ernsthaft fürchtet, wegen seiner Verfehlungen in die Hölle zu kommen? Woher kommt das Gute?
Kirio ist die Verkörperung dieses Rätsels. Die Herausforderung war, das Gute gewissermaßen dem Langweiligen zu entreißen, mit dem es gewöhnlich assoziiert wird. Dabei hat mir die Lektüre von Chestertons Biographie des Heiligen Franziskus von Assisi sehr geholfen. Hier wird ein Heiliger beschrieben, der staunt und staunen macht, ein »Jongleur de Dieu«, kein verbissener Fanatiker, sondern ein fröhlicher Mensch, ein Spieler, der schon deshalb kein Langweiler ist, weil er einen radikal anderen Blick auf die Welt hat als andere Leute, weil er die Welt auf den Kopf stellt. Dieses Buch hat mich sehr angeregt.

Nach einem Buch wie ›Ahnen‹, in dem du dich einem so ernsten Thema wie der deutschen Vergangenheit und einem so ernsten Menschen wie deinem Urgroßvater Florens Christian Rang gewidmet hast, überrascht ein so helles, heiteres Buch wie ›Kirio‹. Florens Christian Rang war ja alles Mögliche: ein Intellektueller, ein Zweifler, ein Gottsucher. Aber eines war er gewiss nicht: ein so argloser, unbekümmerter Mensch wie Kirio. Ist Kirio in seiner Arglosigkeit so etwas wie eine Gegenfigur zu deinem Urgroßvater?

Das kann man vielleicht hinterher oder von außen betrachtet denken, aber so etwas plant man nicht, man sagt sich nicht: Danach brauche ich etwas Heiteres. Es sind zwei völlig unterschiedliche Bücher, deren Hauptfiguren sich gar nicht vergleichen lassen. Mein Urgroßvater hat gelebt. Kirio hat etwas von dem Helden einer Legende. Davon abgesehen, bin ich gar nicht so sicher, ob hinter Kirios Arglosigkeit nicht auch ein großer Ernst steckt. Er mag manchmal etwas Schelmenhaftes haben, aber er behandelt Menschen, Tiere und alle Erscheinungen eigentlich mit großer Ernsthaftigkeit. Die Komik entsteht oft erst durch unseren Blick auf seine für uns äußerst merkwürdigen Verhaltensweisen.

Im Unterschied zu Florens Christian Rang oder auch zu August von Goethe in deinem »bürgerlichen Puppentrauerspiel« ›August‹ ist Kirio keine historische, sondern eine erfundene Figur und dein neues Buch nach ›Tal der Herrlichkeiten‹ wieder ein Roman. Was ist für dich der Unterschied zwischen historischer Annäherung und fiktionalem Erzählen? Oder anders gefragt: Könntest du dir August von Goethe auch als jemanden vorstellen, der auf Händen läuft und Rad schlägt?

Ich trenne meine Bücher nicht in einerseits historische Werke und andererseits Romane. Die literarische Annäherung an Menschen, die existiert haben, kommt nicht ohne Imagination aus, und die sogenannte »freie« Erfindung kommt nicht ohne die Realität aus. Die Frage stellt sich mir anders, nämlich eher so: Wieviel Freiheiten kann ich mir nehmen mit einem Menschen, der gelebt hat? Ist er mir nun ausgeliefert? Kann ich mit ihm machen, was ich will? Ich denke, nein. Ich denke, wir schulden den Gelebt-Habenden etwas, was sich vielleicht so zusammenfassen lässt: Wir dürfen sie nicht für unsere Zwecke, seien es literarische oder ideologische, missbrauchen, wir müssen uns bemühen, ihnen gerecht zu werden. Mit einer Figur wie Kirio, die zwar ein reales Vorbild hat, sich von diesem aber weit entfernt, brauche ich mich nicht um diese Form von Wahrheit zu kümmern. Noch nicht einmal um Wahrscheinlichkeit muss ich mich bemühen: Es geht um einen Menschen, der Wunder vollbringt!

Kirio erinnert mich an Eichendorffs Taugenichts, an Märchenfiguren wie Hans im Glück oder an den Helden eines  Schelmenromans. Vor allem aber ist er, du hast es bereits erwähnt, ein merkwürdiger Heiliger und dein Roman der Versuch, an die Tradition der Heiligenlegende anzuknüpfen. Wie bist du auf die Idee gekommen, ausgerechnet eine Heiligengeschichte zu erzählen?

Als ich Chestertons Biographie des Heiligen Franziskus las, begann ich mir zu überlegen, ob es heute noch so etwas wie einen Heiligen geben könnte und, wenn ja, wie ein solcher aussehen könnte. Die christliche Religion hat in unserer Gegend der Welt an Bedeutung verloren, die wenigsten Deutschen oder Franzosen sind gläubige, praktizierende Christen, die allermeisten von ihnen sind es nur noch im kulturellen Sinn, durch Prägungen. Für ihr soziales Engagement spricht die Kirche manchmal noch Leute heilig, Mutter Teresa z.B., was in ihrem Fall nicht ganz unumstritten ist. Ich hatte das Gefühl, die Heiligkeit, wenn es sie denn noch gäbe, müsste woanders zu suchen sein, sie müsste ein anderes Gesicht haben als diese verhärmte, ungütig wirkende Gestalt.
Auch wenn die Kirche weiterhin Leute heilig spricht: Die Zeit der Heiligen ist vorbei, sie ist mit einer bestimmten Form naiver Gläubigkeit verschwunden. Die Heiligkeit eines Heutigen – und ein solcher ist Kirio – muss wohl in Anführungszeichen gesetzt werden. In diesen Anführungszeichen lebt das Wort »Heiliger« oder »Heilige« auch heute noch in der Sprache fort, und in einem ähnlichen Sinne verwende ich es auch. Es ist nicht das erste Mal, dass ich Wörter in ihrer umgangssprachlichen, statt in ihrer althergebrachten Bedeutung verwende. Als ich das Buch ›August‹ ein »Trauerspiel« nannte, war das mehr im umgangssprachlichen als im eigentlichen Sinn gemeint: etwa so, wie man von einem Vorgang sagt: Na, das ist vielleicht ein Trauerspiel. Ich nenne Kirio einen Heiligen, aber vielleicht eher, wie man von einem »seltsamen Heiligen« spricht. Und doch bleibt ihm etwas von dem ursprünglichen, innerhalb der christlichen Religion zu findenden Heiligen: Er tut das Gute. Aber anders als Mutter Teresa strebt er nicht nach Heiligkeit dabei, er strebt noch nicht mal nach dem Guten: Er ist gut. Er kann nicht anders. Er folgt keinen Dogmen und keinen Riten, sondern einfach seiner arglosen, in gewisser Weise unschuldigen Natur.

Hattest du – über Chesterton hinaus – literarische Vorbilder?

Vorbilder würde bedeuten, dass ich jemandem nachgeeifert hätte. Man kann beim Schreiben keine Vorbilder gebrauchen, man muss schon seinen eigenen Weg gehen oder vielmehr sich erschreiben. Mehrere meiner Bücher sind aber von anderen Büchern angestoßen, auf den Weg gebracht worden. Bei diesem hier ist es die bereits erwähnte Chesterton-Biographie gewesen. Und natürlich stütze ich mich auf eine alte literarische Form, die seit über einem Jahrhundert in Vergessenheit geraten ist: die Heiligenvita. Ich habe die ›Legenda aurea‹ von Jacobus de Voragine gelesen, eine Sammlung von Heiligenlegenden aus dem Mittelalter, und einige Bücher über den Heiligen Franziskus. Im Grunde habe ich darin aber weniger ein Wissen gesucht als vielmehr Anregungen. Wenn man zu viel weiß über ein Thema, bevor man anfängt zu schreiben, erstickt man die Phantasie, scheint mir.

Woher kommt eigentlich der Name Kirio?

Kirio ist der Name eines unbekannten bretonischen Heiligen. Nicht, dass mein Buch die Geschichte dieses Heiligen erzählen würde. Ich habe nur den Namen übernommen, und zwar zunächst einmal ganz einfach, weil er mir gefiel. Zugleich schien er mir zu meiner Figur zu passen: Ich höre darin ihre verschiedenen Facetten anklingen (was der Leser aber nicht unbedingt mithören muss): In »Kirio« steckt sowohl das französische »qui rit« (der lacht, der Lachende) als auch Kyrie oder Kyrios, also das Göttliche, Übermenschliche. Es ist eine seltene Mischung; genau die Mischung eben, die für die Figur charakteristisch ist.

Wenn von ›normalen‹ Heiligen erzählt wird, geht es nicht so vergnügt wie in deinem Roman, sondern streng geregelt zur Sache: Schön chronologisch wird erst einmal von der Kindheit und Jugend des Heiligen erzählt, von frühen Merkwürdigkeiten und den Unterschieden zu anderen Heranwachsenden, dann folgen Berichte über das Leben als Heiliger, über Wunder und die Abwehr irgendwelcher Versuchungen, über Visionen, Heilungen und Missionierungen, schließlich die Erzählung von Tod und Weiterleben. Bei allen Freiheiten, die du dir nimmst: Wie streng bist du diesen Stationen gefolgt?

Es ist lustig, dass du dem streng geregelten traditionellen Heiligenleben meinen vergnügten Roman gegenüberstellst, denn im Grunde folge ich ja fast in allem der Vorgehensweise der klassischen Heiligenvita, wie du sie beschreibst, und das auch noch chronologisch: Es beginnt mit Kirios Kindheit, vielmehr beginnt es noch vor seiner Kindheit mit der Verkündigung seiner Geburt (bei mir allerdings über das Telefon), es geht weiter mit seiner Jugend und Schulzeit und schon sehr früh mit den von ihm vollbrachten Wundern und Rettungen. Eine der Abweichungen ist, dass Kirio nicht missionarisch tätig wird, ganz einfach deshalb, weil er keine Religion hat, die er verbreiten will, er ist ja gewissermaßen ein religionsloser Heiliger. Darin besteht natürlich die größte ›Abweichung‹. Aber ansonsten bin ich mehr oder weniger den Stationen eines ›gewöhnlichen‹ Heiligenlebens gefolgt. Auch wenn das Ergebnis dann bei mir trotzdem ein bisschen anders aussieht.

Versuchungen haben seit Adam und Eva mit Frauen zu tun. Kirios erotische Erfahrung in der Prisca-Episode wird aber nicht gerade als Versuchung erzählt, und Askese als heiliges Gegenkonzept dazu passt überhaupt nicht zu einer Figur wie Kirio. Wie hält es der Heilige Kirio denn mit den Frauen?

Kirio scheint keinerlei Moralvorstellungen zu gehorchen, schon gar keinen katholischen. Außereheliche Sexualität stellt für ihn kein Verbot dar. Das Buch erzählt davon, wie er als Halbwüchsiger die fleischliche Liebe entdeckt, und zwar mit einer älteren Frau namens Prisca, und wie sich da gewissermaßen ein Schlund öffnet, in dem er für längere Zeit verschwindet. Es kommt ja tatsächlich vor, dass die Liebe einen auffrisst, dass man für nichts anderes mehr lebt und offen ist. Weibliche Liebe – und wahrscheinlich männliche auch – kann etwas Erstickendes haben, und die Lust kann irgendwann umschlagen in einen Fluchtreflex. Nichts wie weg! Ähnliches geschieht mit Kirio. Er spürt irgendwann die Gefahr, die in der Vereinnahmung durch eine begehrte Frau liegt, und macht sich auf und davon. Er widersteht also keineswegs der Versuchung, wie es ein ›normaler‹ oder ›wirklicher‹ Heiliger täte, sondern stürzt kopfüber in den Schlund der Lust bis zum Moment der Übersättigung. Sein Weg zur Abstinenz führt nicht über das Verbot, aber das Ergebnis ist ein ähnliches.

Zwei wichtige Eigenschaften verbinden Kirio mit einem Heiligen wie Franz von Assisi: Kirio hat kein Verhältnis zum Geld, und er spricht mit Pflanzen und Tieren. Gibt es das auch bei anderen Heiligen und was ist dir an diesen beiden Eigenschaften wichtig?

Chesterton beschreibt Franziskus nicht nur als einen Humanisten, sondern auch als einen Humoristen, und damit meint er »einen Menschen, der immer guter Laute ist, der seinen eigenen Weg geht und tut, was niemand anderes getan hätte«. Das ist etwas, was Kirio mit ihm gemeinsam hat.
Die Eigenschaften, von denen du sprichst, haben einen gemeinsamen Ausgangspunkt: Von einem bestimmten Moment seines Lebens an sieht Franz von Assisi die Welt, als würde er (oder sie) auf dem Kopf stehen. Die Dinge verkehren sich in ihr Gegenteil: aus Armut wird Reichtum, aus Macht wird Schwäche, aus Schmerz wird Freude. Aus Tieren und Pflanzen, ja, sogar aus den Elementen, aus dem Feuer und dem Wasser, werden Schwestern und Brüder, er spürt eine Vertrautheit zu ihnen, die uns völlig abgeht. Nichts ist anrührender und auf eine liebenswürdige Weise komischer als die Art, wie Franziskus sich an die Vögel wendet: Er bittet sie sehr freundlich, eine Weile still zu sein, er entschuldigt sich bei ihnen quasi für die Störung, aber sie singen so laut, dass er gar nicht mehr Gott preisen kann. Übrigens gibt es einen sehr schönen Film von Rossellini, ›Francesco, giullare di Dio‹, der unter anderem diese Episode erzählt. Chesterton zufolge ist Franziskus in dieser Hinsicht das Gegenteil eines Pantheisten: Er nennt nicht die Natur seine Mutter, sondern er nennt einen bestimmten Esel seinen Bruder, und eine bestimmte Schwalbe seine Schwester. »Die Natur« existierte für ihn im Grunde gar nicht.
Chesterton beschreibt ihn folgendermaßen: »Bevor er etwas tut oder sagt, ist es unvorstellbar. Wenn er es erst einmal gesagt oder getan hat, findet man einfach, dass es zu ihm passt.« So ähnlich habe ich mir auch Kirio gedacht.
Auch von Franziskus' umgekehrter Sicht auf die Dinge habe ich etwas beibehalten bei Kirio, und das sogar ganz konkret, indem ich jemanden aus ihm gemacht habe, der die Welt schon dadurch auf den Kopf stellt, dass er gerne auf den Händen geht. Auch seine Freude an den Erscheinungen dieser Welt teilt er mit dem großen Heiligen.

Kirio ist – by the way – auch Künstler: Er lebt von seinem Flötenspiel auf der Straße. Warum ist dein Heiliger ein durch halb Frankreich ziehender Straßenmusiker?
   
Warum nicht?

Auffällig an deinem Roman ist natürlich das Spielerische und Poetisch-Musikalische. Die Art, wie du erzählst. Das Episodische und das Witzige im Sinne des französischen »Esprit«. Manches Wort steht da zum Beispiel nur um des Reims willen. Von Who bis Uhu wird immer wieder mit u-Klängen gespielt. Und auf der Ebene der Erzählinstanz(en) herrscht eine muntere Polyphonie. Was hat es mit diesem Spielerischen auf sich, das scheinbar so gar nicht zur Tradition der Heiligenlegende passt?

Die Hauptfigur ist ein Spieler, ein ernster Spieler sozusagen, und sein Charakter konnte nicht ohne Einfluss auf den Ton der Erzählung bleiben. Kirio zeichnet sich aus durch Schnelligkeit, Wendigkeit, plötzliches Verschwinden und Wiederauftauchen. All das schlägt sich auch in der Erzählweise nieder. Das ganze Ding musste ein schnelles Tempo haben.
Hinzu kommt, dass sich ein Rätsel durch das ganze Buch zieht, das sich um die Person des Erzählers dreht. Um die Person des Haupterzählers vielmehr, denn es kommen auch noch andere Stimmen zu Wort, Leute, die Kirio gekannt haben, die Zeugen seiner Handlungen waren, (so wie auch Heiligenviten auf den Berichten von Zeitzeugen beruhen). Das Besondere an der Erzählerstimme ist, dass nicht nur der Leser zunächst nicht weiß, wem sie gehört, sondern dass auch ich nicht genau weiß, wem sie gehört – außer mir, der Autorin, selbst, aber nur insofern, als in gewisser Weise alle Stimmen eines Romans dem Autor gehören. Ich habe allerdings ein paar Vermutungen, um wen es sich hier handeln könnte: Wir haben es offensichtlich mit jemandem zu tun, der sehr gut informiert ist und überall gleichzeitig zugegen sein kann, der Überblick hat und einigen Handlungsspielraum. Da kommt man natürlich auf Gedanken ... aber ich weiß es tatsächlich nicht genau und bitte den Leser, mir bei der Lösung dieses Rätsels zu helfen.
Die Struktur des Buches ist so, dass abwechselnd ein Kapitel eine Episode aus Kirios Leben erzählt und das nächste dem Rätsel der Erzählerstimme nachspürt, wobei die Trennung keine strikte ist. Die Titel der Kapitel, die von Kirios Leben erzählen, fangen allesamt mit »Wie« an: z.B. »Wie Kirio den Schatten der Welt sah«. In den Titeln der übrigen Kapitel, in denen nach dem Erzähler gesucht wird, steckt immer irgendwo das Wort »who«, also die Frage »wer?«, die allerdings auch andere orthographische Formen annehmen kann: Hu! Uhu, Juhu usw.
Du meinst, das passt nicht zur Tradition der Heiligenlegende? Die Erneuerung der Tradition geht eben nicht ab ohne einige Brüche.

Könnte man sagen, dass dein Roman selbst so frei und arglos sein will wie sein Held? Ich denke da vor allem an den furiosen Schluss, der sich wirklich alle Freiheiten des Erzählens nimmt, einschließlich des Sprungs in einen Kaninchenbau wie bei ›Alice im Wunderland‹, und der nicht zufällig ins Hanau der Brüder Grimm führt.

Es ist ein Buch, das einen Heiligen als Hauptfigur und womöglich eine überirdische Instanz zum Erzähler hat, wie sollte es da in den strikten Grenzen des sogenannten Wirklichen oder Wahrscheinlichen einzusperren sein? So ganz ohne Arg wie Kirio bin ich allerdings leider nicht, ich stehe vor ihm, ähnlich wie vielleicht der Leser, und wundere mich, dass nichts von dem, was er erlebte, seiner Einfalt und Unschuld etwas anhaben konnte.
Ein Buch ist eine Welt für sich, da gelten andere Regeln als außerhalb. Warum sollte ein Autor dazu verdammt sein, die Wirklichkeit zu verdoppeln? Ich schaffe eine zweite Wirklichkeit – so wie jeder besondere Blick auf die Welt eine eigene Wirklichkeit schafft –, und zwar eine, die meiner Figur und ihren Besonderheiten angemessen ist. Wollen wir doch mal sehen, wer sich am Ende durchsetzt!

A propos Wirklichkeit: Auf den ersten Blick unterläuft dein Roman ja jede Forderung nach Aktualität oder gar politischer Relevanz. Wenn man aber genauer hinschaut, stellt der Text nicht nur hochaktuelle Fragen, sondern entwirft mit einer Figur wie Kirio sogar so etwas wie die Vorstellung eines besseren Lebens. Dieses Leben wäre im Sinne Kirios auf jeden Fall unvereinbar mit jeder Form von missionarischem Fundamentalismus. Es entzöge sich komplett jedem Karriere- und Machtdenken und könnte wunderbar klar kommen mit ungewissen, beweglichen Identitäten. Vor allem aber scheint mir auch die von dir gewählte Form des episodischen Erzählens politischer zu sein, als man zunächst denkt. Der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke hat zum Beispiel darauf hingewiesen, dass sich das heutige Europa angesichts alter und wiederkehrender nationaler Großerzählungen durch sein episodisches Erzählen auszeichnen könnte: leise, kleinteilig, pathosarm. Liegt also womöglich gerade im Leichtfüßig-Episodischen, im Spielerischen und Arglosen die politische Aktualität deines Romans?

Romane, literarische Werke sind nicht dazu da, die politische Aktualität zu illustrieren, jedenfalls nicht meiner Auffassung nach. Mein ganzes Schreiben ist von Grund auf un-aktuell; es käme mir nicht in den Sinn, unmittelbar, sagen wir, auf die erstarkenden Populismen oder die sogenannte Migrantenkrise zu reagieren. Ich habe das Gefühl, du willst mich nun doch noch, sozusagen durch die germanistische Hintertür, für die politische Aktualität vereinnahmen. Dagegen wehre ich mich. Was ›Kirio‹ angeht, so ist gerade das Episodische des Buches absolut nichts Aktuelles, es kommt geradewegs aus der uralten Form der Heiligenvita, in der nie das ganze Leben eines Menschen, sondern bestimmte bedeutsame Episoden daraus erzählt werden. Die ersten Heiligengeschichten sind an die zweitausend Jahre alt. Du siehst, wie aktuell diese Form also ist! Auch das Spielerische, Heitere scheint mir keineswegs aus der Gegenwart zu stammen. Es gibt da eine lange Tradition, zu deren Vorvätern unter anderem Laurence Sterne gehört.
Das Aktuelle ist mir schon insofern zuwider, als es morgen, vielmehr eigentlich heute Abend schon, nicht mehr aktuell sein wird. Wenn man als Schreibender nicht etwas über die Tagesaktualität hinaus Reichendes wenigstens anstrebt, kann man das Schreiben eigentlich auch gleich lassen, finde ich. Das heißt natürlich nicht, dass ›Kirio‹ nicht in der Gegenwart verankert wäre. Ich lebe in einem Land (in Frankreich), in dem es vietnamesische Metzgerinnen und nigerianische Obdachlose gibt. Es ist also kein Wunder, dass solche Leute irgendwie auch in meinen Roman hineinfinden. Ich will nur sagen: Wer Statements zur politischen Situation erwartet oder die Fiktionalisierung aktueller Zustände, sollte besser die Nase erst gar nicht in dieses Buch stecken. Mir ging es um andere Fragen; um die Frage nach dem Guten im Menschen, von der ich vorher schon sprach, unter anderem. Es wäre schön – ich würde es mir erhoffen –, wenn diese Vision eines ungewöhnlichen, ungewöhnlich guten Menschen vielleicht auch und gerade in unserer heutigen Situation von Bedeutung sein, wenn sie eine Anziehungskraft ausüben könnte. In einer Zeit, in der das Wort »Gutmensch« als Schimpfwort dient, wird eine solche Vision, so scheint mir, dringend gebraucht. (Oh, jetzt ist mir doch noch ein bisschen Aktualität reingerutscht.)

Noch eine allerletzte Frage: Wie bewahrt man sich in Zeiten wie diesen den für dein Buch so wichtigen Humor?

Jeden Morgen den Saft dreier gepresster Zitronen zu sich nehmen.


Interview: Sascha Michel, Lektor S. Fischer Verlag

Anne Weber

Anne Weber

Anne Weber, geboren 1964 in Offenbach, lebt als Autorin und Übersetzerin in Paris. Zuletzt erschienen bei S. Fischer »Kirio«, »Ahnen«, »Tal der Herrlichkeiten«, »August« und »Luft und Liebe«. Ihr Werk wurde unter anderem mit dem Heimito-von-Doderer-Preis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literaturpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis ausgezeichnet. 2020 wurde sie zur Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim ernannt und erhielt den Deutschen Buchpreis. Ihre Bücher schreibt Anne Weber auf Deutsch und Französisch.