Interviews

Die Gläserne Decke ist keine Legende

Im Gespräch mit Laetitia Colombani erfahren wir, wer sie zu ihrem Roman inspiriert hat, wie sie über die Globalisierung denkt und warum ihre Bewunderung den Frauen weltweit gilt.

»Der Zopf« spielt in Italien, Kanada und Indien. Waren Sie schon mal in all diesen Ländern?
Ja, ich war in allen drei Ländern, aber »nur« als Touristin. In Indien hatte ich das Glück, einer Frau zu begegnen, die Smita hieß (ich würdige sie in meinem Roman, indem ich die Heldin des indischen Erzählstrangs nach ihr benannt habe) und mir Mumbai und Umgebung gezeigt hat. Sie ist der Grund, warum ich mehr über das Land wissen wollte, über seine Kultur und Gesellschaft. Nach dieser Reise habe ich mich intensiver mit Indien befasst und viel recherchiert, ich habe Erstaunliches und Erschütterndes erfahren. Bei den Recherchen für meinen Roman habe ich unzählige Berichte und Dokumentationen zu Indien gelesen und angesehen, über die Kaste der Unberührbaren recherchiert, die Lebensbedingungen der Frauen, die Tempel, die Rattenfänger, die, die Latrinen säubern… Ich habe Reportagen zu Italien gesehen, zu Sizilien, über die Präparierung von Haaren, die Tradition der Cascatura, über Familienbetriebe dort… Von den drei Ländern kenne ich Kanada am besten, ich habe dort mehrere Freunde und besuche sie regelmäßig.

Die Haare sind das große verbindende Thema des Romans. Haare stehen für vieles. Das weibliche Haar bedeutet Verführung. Verliert eine Frau ihr Haar durch eine Krankheit, verliert die Frau auch ein entscheidendes Merkmal ihrer weiblichen Identität. Wie kamen Sie auf das Thema Haare?
Vor ungefähr zehn Jahren hat mir meine Mutter von einer Fernsehreportage erzählt, die von der indischen Tradition berichtete, das eigene Haar einem Gott zu opfern, danach wollte ich mehr über diesen Brauch erfahren. Und vor zwei Jahren erkrankte eine Freundin an Krebs und bat mich, mit ihr eine Perücke auszusuchen, so kam das Thema Haare schlagartig zu mir zurück. Ich hatte eine Art Flash, eine plötzliche Inspiration: Drei Frauen irgendwo auf der Welt, die nicht voneinander wissen, aber durch diesen intimen Gegenstand, die Haare, verbunden sind. Ich habe mich sofort an die Arbeit gemacht.

Ihr Roman ist eine Hymne auf den Mut aller Frauen, aber zugleich auch ein Appell: Frauen dieser Welt, befreit Euch von ungerechten Machtstrukturen. Was gab den Anstoß für diese Botschaft?
Mir fiel auf, dass ich die Frauen um mich herum sehr bewundere. Ihren Mut! Es sind starke Frauen, tiefgründige, großzügige und unglaublich belastbare Frauen. Meine Freundinnen sind für mich eine Quelle der Inspiration. Sie im »Zopf« zu würdigen hat sich mir ganz einfach aufgedrängt.

Autorin Laetitia Colombani mit Freundinnen
Privat

Den drei Frauen im »Zopf« gelingt es, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen und ihrem Leben eine Wendung zu geben. Die meisten Menschen bleiben in ihren vorgegebenen Bahnen, egal wie schlimm diese sind. Warum fällt es dem Menschen so schwer, etwas zu verändern?
Ich glaube, dass alles, was neu ist, Angst macht. Das Bestehende gibt Sicherheit. Smita, Giulia und Sarah setzen alles für ein neues Leben aufs Spiel, für sie ist es aber ein lebenswichtiger Einsatz: wenn sie überleben wollen, müssen sie kämpfen. Alle drei werden mit einer dramatischen Situation konfrontiert, der sie nicht ausweichen können. Sarah erfährt, dass sie Krebs hat, Giulias Vater, der das Familienunternehmen führte, stirbt, Smita muss mit ansehen, wie ihre Tochter (so wie sie selbst) gedemütigt wird. Aber das Leben stellt uns ja nicht immer vor ähnlich extreme Herausforderungen – zum Glück!

In Ländern wie Indien wird die Frau ganz eindeutig unterdrückt, das sehen wir in Ihrem Roman auch bei Smita. Aber in den westlichen Ländern wie Kanada und Italien, sollte man meinen, ist die Gleichberechtigung weit vorangeschritten. Gibt es in dieser Hinsicht noch viel zu tun?
Ich glaube, dass wir in der Hinsicht noch einen langen Weg vor uns haben! Hinter der vermeintlichen Gleichberechtigung in den Industrieländern verbirgt sich eine schreiende Ungerechtigkeit, die nicht offensichtlich ist, was ich an Hand von Sarah erzählen wollte. Die Gläserne Decke ist keine Legende, sondern ein Fakt, mit dem sich quasi alle berufstätigen Frauen konfrontiert sehen. Neulich habe ich eine Studie des Weltwirtschaftsforums gelesen, die besagt, dass sich die Gehälter von Frauen und Männern erst im Jahre 2186 angeglichen haben werden. Neben dieser Ungerechtigkeit gibt es natürlich noch andere.

Die Lebensbedingungen der drei Frauen im »Zopf« sind extrem unterschiedlich, aber dennoch bringen Sie sie zusammen. Warum?
Sie zusammenzubringen hat mir erlaubt, die Unterschiede hervorzuheben, und gleichzeitig das, was sie verbindet. Augenscheinlich haben Smita, Giulia und Sarah nichts gemein, sie leben auf verschiedenen Kontinenten, leben weder in derselben Kultur noch Religion. Sie sprechen nicht dieselbe Sprache, leben auf sozialem unterschiedlichen Niveau, und ihre jeweiligen familiären Situationen sind auch sehr verschieden. Sie gehören nicht demselben gesellschaftlichen Gefüge an, aber dennoch steckt jede von ihnen in einer Rolle fest, die man ihr zugeschrieben hat. Das, was sie über die Unterschiede hinaus verbindet, ist ihr Lebenswille, ihre Energie, die ihnen erlaubt, eine gewisse Freiheit zu erkämpfen, »Widerstand« zu leisten, sich zu emanzipieren.

Autorin Laetitia Colombani mit Freundinnen
Privat

Stimmt es, dass Haare einer der teuersten Rohstoffe der Welt sind? Dass Haare, besonders aus Indien, in der westlichen Kosmetikindustrie hoch gehandelt werden?
Haare stehen hoch im Kurs. David Gold ist mit Great Length einer der Marktführer weltweit, für ihn sind Haare »schwarzes Gold«. Indische Haare kosten zwischen 200 und 400 US-Dollar das Kilo! Die längsten Haare sind die teuersten. Im Westen sind manche Frauen bereit, € 1000,- für Extensions zu zahlen. Echthaarperücken sind ebenso teuer. Dieser Markt brummt.

Globalisierung ist ein heikles Thema, es gibt viele Gegner. Im »Zopf« wird der Kreislauf der Ware rund um die Welt aber durchaus positiv dargestellt. Alle drei Frauen profitieren davon: Für Smita ist das Opfer ihrer Haare ein lebenswichtiger Schritt, Giulia kann in Palermo das Familienunternehmen dank der Haare aus Indien retten, und Sarah findet dank der Perücke aus Palermo (gemacht aus indischem Haar) wieder Lebensmut. Wie denken Sie über die Globalisierung?
Die Globalisierung hat seine Vor- und Nachteile, sie ist das, was wir daraus machen. Ich persönlich wollte die Globalisierung positiv darstellen, Hoffnung in die Sache bringen. Noch vor einem Jahrhundert war es undenkbar, dass die Haare einer Inderin in die Hände einer Sizilianerin gelangen, um bei einer Kanadierin zu landen! Die Globalisierung verbindet uns auch miteinander. Ich wünsche mir eine gewisse Solidarität zwischen den Menschen. Diese Idee treibt mich um.

Die Haarpräparation ist ein sehr kompliziertes Verfahren, die Depigmentation, das Färben usw. Hatten Sie Vorkenntnisse oder mussten Sie sich ganz neu in dieses Thema einarbeiten?
Ich musste mich sehr in diese Technik einarbeiten, man ist nicht auf Anhieb Haarspezialistin! Ich habe Reportagen über sizilianische Handwerksbetriebe gelesen, in denen die Haare per Hand präpariert werden. Ich habe eine Perückenmacherin in Paris aufgesucht. Sie hat mir die Techniken gezeigt, die Handgriffe, das Werkzeug, all die Instrumente. Das war unglaublich faszinierend! Das ist eine sehr kleinteilige Arbeit, die in jedem Moment höchste Konzentration erfordert.

Es ist erstaunlich, wie leichtfüßig Ihr Roman daherkommt, er ist beste Unterhaltung. Aber es wird schnell klar, dass sich unter der »leichten« Erzähloberfläche verschiedene, sehr komplexe Themenbereiche befinden. Das ist ziemlich beeindruckend. Was war zuerst da: die Geschichte der drei Frauen oder die Themen (das unmenschliche Kastensystem in Indien, die Vereinbarkeit von Karriere und Familie, die Selbstausbeutung der modernen Frau, die Akzeptanz von Krankheit in unserer leistungsorientierten Gesellschaft usw.)?
Mein Hauptinteresse galt zu allererst der Frau an sich, ich bin eine Frau, und ich habe eine Tochter, die eine Frau sein wird. Seit ihrer Geburt hat sich mein Blick auf die Welt verändert, auch meine Art, wie ich über Frauen spreche und über sie denke. Ich habe ein gesteigertes Interesse zu sehen, wie Frauen unter unterschiedlichen Bedingungen in den verschiedenen Welten leben. Ich glaube, mein Leben reicht nicht aus, um dieses Thema erschöpfend zu betrachten. In einem meiner nächsten Romane wird der Fokus wieder auf der Frau liegen.

Bücherstapel von Der Zopf
Privat

Sie sind Schauspielerin und Regisseurin, »Der Zopf« ist Ihr erster Roman, und wie man hört, wird er verfilmt, werden Sie selbst das Drehbuch schreiben?
Das Vorhaben hängt derzeit noch in der Schwebe, ich habe einige Angebote von Produzenten bekommen. Vielleicht schreibe ich selbst das Drehbuch, und vielleicht mache ich auch selbst den Film, wer weiß.

Wo können Sie am besten schreiben, im Café oder zu Hause, in Bordeaux, wo Sie geboren wurden, oder in Paris?
Den »Zopf« habe ich in Bordeaux angefangen zu schreiben, im Haus meiner Familie, in meinem ehemaligen Zimmer. Dann habe ich in Paris in meinem Chambre de Bonne weitergeschrieben, das sich über meiner Wohnung befindet, in einem dieser ehemaligen Dienstbotenzimmer, die fast alle Wohnungen in Paris haben. Es ist nicht besonders groß, aber ich liebe dieses Zimmer ganz besonders, es eignet sich perfekt zum Schreiben. Da ich gewöhnlich beim Schreiben laut mitspreche, kann ich ja schlecht in einem Café oder einem anderen öffentlichen Raum schreiben. Ich muss in meiner Blase sein, ganz für mich.

Laetitia Colombani

Laetitia Colombani

Laetitia Colombani wurde 1976 in Bordeaux geboren, sie ist Filmschauspielerin und Regisseurin. Ihr erster Roman »Der Zopf« stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und wurde verfilmt. Für ihren zweiten Roman »Das Haus der Frauen« recherchierte Colombani im »Palais de la Femme« in Paris, einem Wohnheim für Frauen in Not. »Das Haus der Frauen« ist der erste Roman über Blanche Peyron, die 1926 unter widrigsten Umständen eines der ersten Frauenhäuser begründete. Die Idee für ihren dritten Roman »Das Mädchen mit dem Drachen« fand Laetitia Colombani in Indien, in einer Schule für Dalits, während der Vorbereitungen zur Verfilmung von »Der Zopf«. Laetitia Colombani lebt in Paris.