Interviews

»Die Phantasie lässt sich nicht dirigieren«

Mit den beiden Romanen ›Roter Flieder‹ und ›Schwarzer Flieder‹ hat Reinhard Kaiser-Mühlecker ein großes Familienepos geschrieben. Im Gespräch mit Hans-Gerd Koch gibt er darüber Auskunft, wie die Bücher entstanden sind und was Schreiben für ihn bedeutet.

Erst ›Roter Flieder‹, dann ›Schwarzer Flieder‹, plant man so etwas bereits bei den Vorüberlegungen zu einem Romanprojekt, oder merkt man irgendwann, wenn das erste Buch fertig ist, dass noch nicht alles erzählt ist?

Mein Vorhaben war von Anfang an, die Geschichte bis in die unmittelbare Gegenwart zu erzählen. Dass es zwei Bücher werden sollten, beschloss ich während der Arbeit an ›Roter Flieder‹. Obwohl sie nahtlos zusammenhängen, liegt zugleich eine Kluft zwischen ihnen – epische Breite hier, Knappheit, Konzentriertheit dort. Vergangenheit und Jetztzeit. So groß ist diese Kluft, dass man die beiden Romane auch völlig unabhängig voneinander lesen kann.

Deine Romane spielen alle entweder ganz im ländlichen Oberösterreich, oder die Protagonisten haben zumindest ihre Wurzeln dort. Es ist die Region, aus der Du stammst, trotzdem die Frage: Warum?

Es ist nicht so, dass ich meine Romane irgendwo ansiedeln würde. Meine Sprache und jene Gegend gehören für mich fundamental zusammen. Sowohl meine Erinnerung als auch meine Phantasie sind dort zu Hause. Anders gesagt: Ich würde vielleicht nicht schreiben, stammte ich von wo anders her.

Heißt das, dass auch Deine Träume meistens dort angesiedelt sind?

Ich weiß nicht, nein, eher nicht. Der letzte, an den ich mich erinnere, spielte in einem Wald – welcher Wald? Ich weiß es nicht.

Welche Rolle spielen Träume für Dein Schreiben?

Ich lese Traumszenen immer mit besonderem Interesse, für meine Arbeit spielen Träume aber kaum eine Rolle.

Hast Du einen Lieblingsort?

Keinen Lieblingsort, nein. Freilich gibt es viele, die mich beschäftigen.

Was bedeutet Dir dein Schreiben?

Das Schreiben ist meine Arbeit. Suchen und Finden und Suchen. Frage und Antwort und Frage.

Gibt es bei Dir eine saubere Trennung zwischen Arbeit und Freizeit? Arbeitet der Kopf nicht weiter, auch wenn Du nicht schreibst?

So ganz klar ist die Linie nicht, aber man kann sich ein wenig trainieren, um sie klarer zu machen.

Eine Frage, die mich als Editionswissenschaftler interessiert, ist natürlich, wie schreibst Du? Mit der Hand, mit dem Computer oder der Schreibmaschine? Hinterlässt der Autor Reinhard Kaiser-Mühlecker etwas für ein Archiv?

Meistens schreibe ich auf dem Computer, aber nicht immer; mein Stück ›Die Therapie‹ und ›Schwarzer Flieder‹ etwa habe ich mit der Hand geschrieben. Diese Manuskripte und andere liegen irgendwo herum – ich bin kein großer Archivar.

Denkst Du, die Schreibtechnik hat Einfluss auf das Erzählen?

Das glaube ich nicht. Vielleicht zögert man am Anfang des Tages ein wenig mehr, wenn man mit der Hand schreibt, aber sobald die ersten Sätze geschrieben sind, spielt das alles keine Rolle mehr. Die Sprache, die Bilder leiten, nicht die Technik.

Was zeichnet in Deinen Augen einen guten Erzähler aus?

Der Erzähler muss durchdrungen sein von dem, wovon er schreibt. Es ist dann für mich fast ganz gleichgültig, wovon er schreibt. Recherche oder Begeisterung – das allein reicht nicht aus. Er selbst muss sein, was er schreibt.

Welche Rolle spielt der künftige Leser dabei? Wie wichtig ist er Dir?

Natürlich wünsche ich mir, dass viele Leute meine Bücher lesen und etwas damit anfangen können. Aber ich phantasiere sie nicht herbei: Beim Schreiben besteht das Publikum nur aus mir.

Würdest Du mir zustimmen, wenn ich behaupte, dass Schreiben sehr viel mit Freiheit zu tun hat, Freiheit, eine Welt nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten, aber auch Befreiung von Dingen, die den Schreibenden bedrängen und an denen er vielleicht seine Protagonisten sich abarbeiten lässt?

Die Freiheit, die ich darin sehe, ist folgende: Den Zumutungen, denen die meisten »normal« Berufstätigen ausgesetzt sind, entkomme ich; kein Fremder verlangt Rechenschaft darüber, was ich mit meinem Tag anfange. Aber die Freiheit beim Gestalten ist endlich, die Phantasie lässt sich nicht dirigieren. Und Befreiung von Dingen, die einen bedrängen, wäre vielleicht gerade das Umgekehrte: nicht darüber zu schreiben. Vielleicht aber soll man sagen: man wandelt um.

Geht es in ›Roter Flieder‹ auch um Freiheit oder Befreiung?

In dem Buch geht es um so vieles, aber ja, vielleicht auch um Freiheit und Befreiung, ob es sie nun gibt oder nicht, ob sie nun gelingt oder nicht.

Du kommst vom Land, hast Agrarwissenschaft studiert und nicht den heute häufig üblichen (und im Feuilleton gerade gern kritisierten) Weg über ein Schreibinstitut gewählt. Inzwischen bist Du längst ein arrivierter Autor. Aber wie hast Du den literarischen Betrieb erlebt und empfunden, als Du plötzlich mit dem ersten Buch im Fokus der Aufmerksamkeit standst?

Jedenfalls nicht als das Schlangennest, als das es gerne bezeichnet wird. Man trifft ja zunächst nur einzelne Menschen und kann nichts Ganzes erkennen. Mir ist allerdings immer noch, als sei das alles sehr weit weg von mir und als würde ich es lediglich vom Hörensagen kennen.

Reinhard Kaiser-Mühlecker

Reinhard Kaiser-Mühlecker

Reinhard Kaiser-Mühlecker wurde 1982 in Kirchdorf an der Krems geboren und wuchs in Eberstalzell, Oberösterreich, auf. Er studierte in Wien und betreibt eine Landwirtschaft. »Ich sehe es als eine Art Verpflichtung an, die Welt, die ich kenne, erfahrbar zu machen – einem, der sie nicht kennt.« Sein Debütroman »Der lange Gang über die Stationen« erschien 2008, anschließend die Romane »Magdalenaberg«, »Wiedersehen in Fiumicino«, »Roter Flieder«, »Schwarzer Flieder« sowie »Zeichnungen. Drei Erzählungen«. Der Roman »Fremde Seele, dunkler Wald« stand 2016 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. 2019 erschien der Roman »Enteignung«. Für sein Werk wurde Reinhard Kaiser-Mühlecker mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Der Roman »Wilderer« wurde mit dem Bayerischen Buchpreis 2022 ausgezeichnet und war für den Deutschen Buchpreis und den Österreichischen Buchpreis nominiert. Für seinen Roman »Brennende Felder« erhielt Reinhard Kaiser-Mühlecker den Österreichischen Buchpreis 2024.


Literaturpreise:

Österreichischer Buchpreis 2024 für »Brennende Felder«
Bayerischer Buchpreis 2022 für »Wilderer« 
Preis des Wirtschaftsclubs Stuttgart 2022 für »Wilderer« 
Nominierung Prix du Meilleur livre étranger 2021 für »Roter Flieder«
Longlist Prix Médicis étranger 2021 für »Roter Flieder« 
Literaturpreis der Österreichischen Industrie – Anton Wildgans 2020
Comburg-Stipendium 2015
Adalbert-Stifter-Stipendium 2014
Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2014
outstanding artist award 2013
Kunstpreis Berlin für Literatur 2013
Buch.Preis 2009
Stipendium des Literarischen Colloqiums Berlin 2009
Aufenthaltsstipendium im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf 2009
Österreichisches Staatsstipendium für Literatur 2008
Hermann-Lenz-Stipendium 2008
Stipendium des Herrenhauses Edenkoben 2007
Literaturförderpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung 2007
Werkstattstipendium der Jürgen-Ponto-Stiftung 2006

Hans-Gerd Koch

Der Herausgeber: Hans-Gerd Koch, geboren 1954, ist seit 1981 an der Kafka-Forschungsstelle an der Bergischen Universität/Gesamthochschule Wuppertal tätig. Er ist Mitherausgeber der Kritischen Ausgabe der Werke Franz Kafkas, in deren Rahmen er die ›Tagebücher‹, die ›Drucke zu Lebzeiten‹ sowie die Briefbände ediert hat. Außerdem ist Hans-Gerd Koch Herausgeber der Taschenbuch-Edition von Kafkas Werken in der Fassung der Handschrift.