Marion Brasch
Woher kennt ihr euch?
Judith Hermann
Oh, wir kennen uns gar nicht. Unsere Wege haben sich manchmal gekreuzt, wir waren häufig in einem Raum, aber wir kennen uns nicht wirklich…
Flake
Wenn du einen Freund hattest, der einen roten Wartburg hatte, dann kenne ich den.
Judith Hermann
Mein Freund hatte keinen roten Wartburg.
Flake
Dann war das jemand anderes.
Judith Hermann
Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt »Sommerhaus, später« (1998) wurde eine außerordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband »Nichts als Gespenster«. Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien »Alice«, fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, »Aller Liebe Anfang«. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. 2016 erschienen die Erzählungen »Lettipark«. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin.
Marion Brasch
Jetzt sitzen wir im Babylon. Geht ihr hier manchmal ins Kino?
Judith Hermann
Selten, eigentlich ist das nicht mein Kino. Obwohl, das stimmt nicht ganz, ich habe hier die Verfilmung meines zweiten Buches ›Nichts als Gespenster‹ gesehen. Als der Film fertig war, durfte ich ihn mir ansehen und das erste Mal wollte ich ihn auf jeden Fall allein sehen. Ich hatte die Produktionsfirma gefragt, ob sie mir eine DVD schicken würden, und die Produktionsfirma hatte gemahnt, das sei ein Kinofilm und also würden sie mir gerne ermöglichen, ihn im Kino zu sehen. Und das war dann hier, mittags um 12 Uhr. Sie haben aufgeschlossen, und ich durfte rein, allein hier sitzen und den Film sehen. Das war ziemlich bewegend. Es gab zwei Stellen, an denen ich rausgehen musste, und dann stand ich allein und verlegen im Foyer herum und wartete darauf, dass diese schreckliche Szene vorbei sein würde. Als der Film zu Ende war und ich hinaus auf die Straße trat, ins Helle, wusste ich gar nicht mehr, was mein Leben ist – was ist wirklich gewesen und was war Film. Das war ein seltsamer Zustand. Ich durfte danach mein Kind vom Kindergarten abholen und ich weiß noch, wie dankbar ich für diese normale, alltägliche Handlung gewesen bin – sie hat mich in die Wirklichkeit zurückgeholt.
Marion Brasch
Marion Brasch
Marion Brasch wurde 1961 in Berlin geboren. Nach dem Abitur arbeitete die gelernte Schriftsetzerin in einer Druckerei, bei verschiedenen Verlagen und beim Komponistenverband der DDR. 1987 begann sie als Musikredakteurin beim Jugendsender »DT64« und ist heute als freie Rundfunkjournalistin und -moderatorin bei »Radio eins« (RBB) tätig. Ihr erster Roman ›Ab jetzt ist Ruhe‹ erschien 2012, ihr zweiter Roman ›Wunderlich fährt nach Norden‹ ist 2014 erschienen.
Flake, du bist hier in der Gegend groß geworden. Warst du öfter hier im Kino?
Flake
Ja. Aber immer nur, weil die anderen hingegangen sind. Zu Ostzeiten war das was Besonderes hier, da liefen die Filme aus dem Westen. ›Jules und Jim‹ hab ich hier gesehen. Da stand jemand oben, der versucht hat, den Film ins Deutsche zu übersetzen, konnte das aber nicht richtig. Ich habe nicht im Geringsten verstanden, um was es ging. Ich habe hier viele Filme gesehen, die ich nicht verstanden habe, aber ich saß tapfer drin und habe mir alles angeguckt, weil die anderen das auch getan haben.
Marion Brasch
Und heute? Was schaust du für Filme?
Flake
Ich schaue keine Filme.
Marion Brasch
Warum nicht?
Flake
Weil ich danach so ein komisches Gefühl habe, als ob ich was gegessen hätte, das ist dann drinnen. Beim Film kommt etwas auf mich zu, gegen das ich mich nicht wehren kann, ich kann nur zuschauen.
Marion Brasch
Anders als bei Büchern.
Flake
Ja, denn ein Buch lese ich mir selber, ich habe dann ein Bild vor Augen, das ich selbst entstehen lasse. Ich sehe auch nicht fern, wir sind sowieso ohne Fernseher aufgewachsen, meine Eltern wollten keinen. Nach der Wende hatte ich dann einen Fernseher und habe wie ein Drogenkranker ›Barbara Salesch‹ oder ›Tutti Frutti‹ gesehen. Ich habe mir alles angeschaut, weil ich jetzt durfte, aber nach einem Vierteljahr fand ich das so bekloppt, dass ich gar nichts mehr geschaut und den Fernseher weggestellt habe. Ich schaue auch nicht im Flugzeug oder sonst wo, weil mir die Zeit dann so weggenommen wird und ich mich so fremdbestimmt fühle beim Filme schauen. Das will ich nicht.
Judith Hermann
Ich bin als Kind viel ins Kino gegangen. In Neukölln gab es am Ende unserer Straße das Ili-Kino – ein ganz kleines Kino, in dem der Filmvorführer auch Kartenabreißer und Ofenheizer war, und in dem noch geraucht werden durfte. Mein Vater hat mich häufig hingeschickt, wenn er mich loswerden wollte, er hat gesagt »Geh ins Kino«, mir ein Fünfmarkstück gegeben und ich bin losgegangen. Ganz egal, was lief, ich hab’s mir angesehen. Dadurch habe ich auch Filme gesehen, die vielleicht ein bisschen zu früh für mich waren. Aber es war eindrücklich, als Kind allein in ›Spiel mir das Lied vom Tod‹ zu gehen oder in ›Paris, Texas‹ oder in dieses große Roadmovie mit Jack Nicholson als Anwalt und Peter Fonda … was so schrecklich endet.
Flake
›Easy Rider‹.
Judith Hermann
›Easy Rider‹, genau. Der Film hat mich als Kind fertiggemacht. Ich fand ihn toll und ich hab ihn nicht verstanden und dieses Nichtverstehen und randvoll mit Bildern und Fragen nach Hause gehen – das war eine sehr schöne Kinoerfahrung. Und vielleicht gehe ich deshalb auch heute immer noch am liebsten am Nachmittag ins Kino, und immer noch am liebsten allein. Ich möchte mit dem Film allein bleiben. Und nachmittags bist du oft die Einzige im Kino und kannst der Welt abhandenkommen. Es hat ein bisschen was Illegales, was Verbotenes, es ist wie Schule schwänzen.
Marion Brasch
Flake, du hast gesagt, dass du lieber liest. Was waren deine ersten Bücher?
Flake
Erich Kästner, ›Emil und die Detektive‹. Und als ich dann gemerkt habe, dass der noch mehr solche Bücher geschrieben hat, war ich auch hin und weg. Pünktchen und Anton und so, das war der Wahnsinn. Und dann hab ich diesen Russen gelesen, Alexander Wolkow: ›Die sieben unterirdischen Könige‹, ›Der schlaue Urfin und seine Holzsoldaten‹ und so. Ich hatte das Glück, dass meine Eltern eine Bibliothek hatten, und habe wahllos Bücher gelesen, die ich nicht im Geringsten verstanden habe. Aber irgendetwas blieb doch hängen. Jack London, solche Abenteuersachen – und Eilis Dillon, diese Irin. Also völlig bunt. Ich hab alles gelesen, was da war, und drei Viertel davon habe ich nicht verstanden.
Marion Brasch
Und später?
Flake
Später hab ich mir dann Bücher von Freunden geborgt, das waren eigentlich nur Westbücher. Von Kurt Vonnegut und Graham Greene war ich völlig begeistert oder von den Krimis von Per Wahlöö. Irgendwann habe ich auch Bücher entdeckt, die aus verschiedenen Blickwinkeln geschrieben waren oder mit unterschiedlichen Zeitebenen, das fand ich gut. Und natürlich haben wir uns Bukowski besorgt.
Marion Brasch
Und erstmal die Stellen gesucht …
Flake
Ja, da stand »Scheiße« und »Ficken« drin, und das habe ich mit dreizehn durchgearbeitet. Ich bin immer noch beeindruckt davon, wie Bukowski geschrieben hat. Ich wusste ja gar nicht, dass so etwas im Buch geschrieben werden darf, ich dachte, der Typ ist verrückt. Dass man so etwas Versautes schreiben darf, hat mich völlig weggehauen.
Marion Brasch
Wie war das bei dir, Judith? Wie hast du das Lesen für dich entdeckt?
Judith Hermann
Das weiß ich gar nicht mehr so genau, weil das so früh war, ich habe Lesen gelernt, bevor ich in die Schule kam. Ich war keine gute Schülerin, aber ich konnte lesen, und das war eine ganze Weile ein Problem, weil ich immerzu im Unterricht unter der Bank gelesen habe, weil ich mich weggelesen habe aus der wirklichen Welt. Und Lesen ist für mich bis heute fast wichtiger als Schreiben. Wenn ich wählen müsste, dann würde ich mich fürs Lesen entscheiden.
Marion Brasch
Und was waren das für Bücher am Anfang?
Judith Hermann
Jack London habe ich auch gern gelesen, und ›Ivanhoe‹, alles von Karl May, griechische Sagen, Geschichten von Poe, nicht unbedingt Mädchenbücher, eher Abenteuerliteratur. Dann gab es Enid Blyton, ›Das Schiff der Abenteuer‹, ›Das Tal der Abenteuer‹, ›Der Berg der Abenteuer‹. Aber die erste richtig innige persönliche Beziehung hatte ich mit einem Buch von Judith Kerr, ›Als Hitler das rosa Kaninchen stahl‹, ich glaube, da war ich acht Jahre alt. Es gab neulich ein Gespräch mit meinem Sohn zu seinem sechzehnten Geburtstag, er bewegt sich zu meinem Leidwesen gerade vom Lesen weg und ich habe ihn trotzdem gefragt: »Könntest du dir bitte auch ein Buch zum Geburtstag wünschen?« Er hat lange nachgedacht und schließlich gesagt: »Ich möchte dieses Buch, das Papa an die Wand geschmissen hat.« Sein Vater kommt aus dem Osten. Er war kurz vor dem Mauerfall bei der Armee in Eggesin, das muss ziemlich schrecklich gewesen sein, und da las er Jack Kerouacs ›On the Road‹, und als er es zu Ende gelesen hatte, hat er es an die Wand geschmissen.
Marion Brasch
Warum?
Judith Hermann
Weil er es so großartig fand und weil er es zugleich gehasst hat, weil er überhaupt nicht wusste, in dieser Kaserne in Eggesin, wohin mit all den Bildern über die große Freiheit, wohin mit seiner Sehnsucht danach. Und mein Sohn, der sich ansonsten bisher nicht so für unsere Biographien interessiert hat, fand die Geschichte gut und hat sich also dieses Buch gewünscht.
Marion Brasch
Du bist in Westberlin aufgewachsen und in den 90ern in den Osten gezogen, warum?
Judith Hermann
Letztlich wegen einer Liebesgeschichte, wegen meines damaligen Freundes – weil sich relativ schnell und auf schöne Art mein ganzes soziales Leben hierher verlagert hat. Ich habe in der Husemannstraße als Kellnerin gearbeitet und in der Berliner Journalistenschule am Alexanderplatz eine Ausbildung gemacht, meine neuen Freunde nach dem Mauerfall kamen alle aus dem Osten und haben hier gewohnt, und dann bin ich auch hierher gezogen.
Marion Brasch
Flake, du bist aus dem Prenzlauer Berg nie weggezogen. Hättest du dir nach 1989 vorstellen können, in den Westteil der Stadt zu ziehen?
Flake
Ich wäre nie auf die Idee gekommen. Wenn meine Freundin das gewollt hätte, wäre ich stumpf mitgezogen, aber das stand nie zur Debatte. Und ich musste und wollte auch nichts verlassen.
Marion Brasch
Es sind mehr Leute aus dem Westen in den Osten gezogen als umgekehrt. Warum eigentlich?
Flake
Der Westen war schon so fertig. Da war alles geordnet und sortiert, da wusste man genau, was passiert. Die Gesetze waren klar. Im Osten war alles komplett offen und eine Zeitlang völlig gesetzlos. Da wollten wir nicht wegziehen, das wollten wir miterleben und auch mitgestalten. Im Westen waren alle Wege asphaltiert und alles war schon so abgezirkelt.
Marion Brasch
Hat diese Offenheit dich auch angezogen, Judith?
Judith Hermann
Ja, das Unaufgeräumte hat mich angezogen. Aber auch das Graue und Triste – das entsprach vielleicht meiner Vorstellung von Romantik. Das Verlassene und Verlorene, alles war wie aus der Zeit gefallen und wartete auf irgendetwas. Und diesen Zustand der Erwartung fand ich ziemlich schön. Es war eindeutig so, dass die Party in Westberlin 1989 vorbei war, dass man da nicht bleiben konnte – es war gut, in den Osten gehen zu können und zu einem Teil dessen zu werden, was da passieren durfte.
Marion Brasch
Das ist jetzt lange her. Wie ist das überhaupt, wenn ihr euch anschaut, wer ihr früher wart? Ist das so, als würde man sich alte Fotos ansehen?
Flake
Mir ist das sehr nahe. Ich finde mich auch auf alten Fotos gut, weil ich mich daran erinnere, wie ich da war. Ich finde nicht, dass ich da blöd aussehe, was auch daran liegt, dass ich nie versucht habe, auf der Höhe der Zeit zu sein. Und wenn ich mir die Musik anhöre, die wir damals mit Feeling B und so gemacht haben, ist das vielleicht anstrengend, aber auch liebenswert und ein Teil von mir. In der Zeit war das genau das, was ich gefühlt habe.
Judith Hermann
Also wenn ich mir alte Fotos angucke, staune ich darüber, dass ich das überhaupt gewesen sein soll. Dass ich dieses Buch geschrieben, an dieser oder jener Geschichte gesessen habe – ich weiß faktisch, dass es so gewesen ist, aber ich kann es nicht richtig verstehen, ich kann mich nicht wirklich erinnern.
Marion Brasch
Was heißt das?
Judith Hermann
Das Schreiben ist vorbei, aber wenn du etwas aufgeschrieben hast, dann hast du es aufgehoben, die Geschichten, die Bücher sind da, obwohl die Jahre nicht mehr da sind. ›Sommerhaus‹, später ist für mich ein Buch über eben genau diese Zeit, diese Mitte der Neunziger, und diese Zeit ist mehr als vorbei, aber das Buch ist übriggeblieben. Wie eine Schneekugel: Du kannst hineinsehen, aber du kommst nicht mehr ran. Und das finde ich manchmal seltsam.
Flake
Ich habe ein Babybild von mir, da liege auf einer Decke und schreie. Da könnte ich meinen Kindern auch irgendein anderes Bild zeigen. Es ist doch egal, wie ich aussah damals, ein Baby ist immer ein Baby. Ich kann gar nicht sagen, ob ich das bin. Insofern braucht man Babys eigentlich nicht zu fotografieren.
Judith Hermann
Ich sehe auch lieber das Kind im Hier und Heute. Aber bei uns Zuhause hängt ein Foto von meinem Sohn, als er ganz klein war, das ich sehr gerne ansehe. Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie er da ausgesehen hat und was aus diesem kleinen Gesicht mit den schwarzen Knopfaugen geworden ist. Ähnlich wie mit dem Schreiben – ich weiß, dass er so war, aber ich erinnere mich nicht mehr wirklich daran.
Marion Brasch
Wie stellt ihr euch euer Leben in zehn Jahren vor?
Judith Hermann
Ich wäre gerne nicht mehr in Berlin. Ich wäre gerne auf dem Land. Ich denke gerade oft darüber nach – mein Sohn ist langsam groß genug, um allein zu sein, und unser beider Verhältnis zu Berlin ist ganz und gar entgegengesetzt. Seines ist absolut innig, er liebt Berlin und er ist stolz darauf, ein Berliner zu sein, und er findet diese berlinerische Energie so schön und wichtig. Und mir geht das alles doch ziemlich auf den Wecker, und ich möchte aufs Land und ans Meer, ich möchte richtig weit weg.
Flake
Ich habe ein bisschen Angst davor, an die Zukunft zu denken, das Altern geht mir eigentlich schon schnell genug.
Judith Hermann
Ja, plötzlich geht es so schnell, oder?
Flake
Ich bin jetzt schon in einem Alter, wo ich versuche, die Zeit irgendwie zu strecken. Ich plane nicht mehr, denn ich will nirgendwo hin. Ich will mich nicht verändern. Eigentlich liegt das Glück für mich wirklich im Alltag und darin, dass ich jeden Tag das mache, was mir Spaß macht, und die Kinder habe und die Familie. Und das will ich einfach bewahren und gar nicht daran denken, wie die Zeit vergeht, oder dass sie vergeht – oder dass es irgendwo hingeht.