Für mich war das Gespräch mit Hilbigs Mutter wichtig, das ich im Mai 2012 mit ihr in Meuselwitz führen konnte. Ich hatte mir konkrete, ihren Sohn betreffende Fragen notiert. Ich wollte z. B. von ihr wissen, wo sich der Bunker befand, den Hilbig in »Selbstvorstellung«, der Rede anlässlich seiner Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, erwähnt. Bereits als »Zwei- oder Dreijähriger« – so schreibt er – sei er »Hunderte Meter tief unter die Erde gefahren«. Doch Marianne Hilbig konnte sich nur sehr vage erinnern, wo sich in Meuselwitz dieser Schacht befand. Damals war mir bewusst geworden, dass ich, was das Erinnerungsvermögen der Zeitzeugen anbetraf, nicht zu viel erwarten durfte. Sie würden selbst beim besten Willen auf viele meiner Fragen nicht antworten können, weil inzwischen viel zu viel Zeit vergangen war. Verlässlicher war da der in der Berliner Akademie der Künste gelagerte Wolfgang-Hilbig-Nachlass.
Gänzlich unbekannt waren viele unveröffentlichte Manuskripte und Entwürfe, die ich im Nachlass gefunden habe. Durch die Kenntnis dieser Texte ergab sich ein in vielerlei Hinsicht präziseres Bild des Schriftstellers Wolfgang Hilbig. Eine Überraschung war aber auch, als ich entdeckte, dass Wolfgang Hilbig einen Doppelgänger hatte. Vor einigen Jahren waren Texte von Hilbig aufgetaucht, die Anfang der sechziger Jahre in der Betriebszeitung »Dein Werk« erschienen sind – der Tenor dieser Wortmeldungen war verstörend. Hilbig erwies sich in diesen Beiträgen als ein strammer Befürworter des SED-Kurses. Doch bei meiner Suche nach weiteren Texten zeigte sich, dass er diese Beiträge überhaupt nicht geschrieben hat. Es gab in der MAFA – dem VEB Maschinenfabrik Meuselwitz – noch einen anderen Wolfgang Hilbig, und dieser andere Hilbig war der Verfasser dieser linientreuen Pamphlete.
Zum ersten Mal ist Hilbig der Stasi 1962 aufgefallen. Er hatte als Soldat der NVA an seine Sportfreunde in seiner Heimatstadt Meuselwitz einen Brief geschrieben und darin berichtet, wie es ihm bei der Armee ergangen war. Das war eine äußerst kritische Darstellung. Hilbig wusste, dass dieser Brief die Stasi auf den Plan rufen würde. Es hat beinahe den Anschein, als hätte er gewollt, dass das MfS diesen Brief las. Seit dieser Zeit stand er im Visier der Stasi, die auch versucht hat, ihn als IM anzuwerben, ohne dabei erfolgreich gewesen zu sein. Die Stasi hat Gutachten zu seinen Texten anfertigen lassen und versucht, aus dem abwesenden einen anwesenden Autor zu machen.
Ja. Dass der Band »STIMME STIMME« 1983 in der DDR erscheinen konnte, war vom MfS beabsichtigt. Der Stasi war ein in der DDR verlegter Autor genehmer als ein Dissident, dessen Texte nur im Westen erschienen.