»Leben habe ich nicht gelernt« hat Wolfgang Hilbig in einem Interview mit dem Spiegel im Jahr 2002 gesagt. Haben Sie auch diesen Eindruck bekommen?
Hilbig hat sein Leben ganz bewusst in den Dienst der Literatur gestellt. Grundlage seines Schreibens war sein Leben. Ihm war am Beginn seines Schriftstellerdaseins bewusst, dass er erst lernen musste, dieses Leben in Literatur zu übersetzen. Man könnte fast soweit gehen und behaupten, dass er bei dieser Hinwendung zur Literatur dem Leben weniger Aufmerksamkeit schenkte und deshalb nie lernte, wie man lebt. Das Schreiben rangierte für ihn stets an erster Stelle. Alles, was ihn vom Schreiben abhielt, alle Unterbrechungen, die ihn daran hinderten, Texte zu verfassen, waren ihm verhasst. Er war getrieben von dem Gefühl, bereits zu viel Zeit verloren zu haben, in der er nicht geschrieben hat, nicht schreiben konnte. Verglichen mit anderen Leben war das Leben, das Wolfgang Hilbig geführt hat, kein »normales« Leben. Er hat in seinem Leben andere Prioritäten gesetzt. In der außerhalb der Literatur existierenden Welt war er ein Fremder.
Welche Bedeutung wird man Wolfgang Hilbig innerhalb der Literaturgeschichte zusprechen? Wo ist sein Platz, und wo wird sein Platz sein?
Es mag übertrieben klingen, wenn ich behaupte: Wolfgang Hilbig hat Weltliteratur geschrieben, aber dieser Überzeugung bin ich. Man muss seinen Namen in einem Atemzug mit den ganz Großen der Literatur des 20. Jahrhunderts nennen. Zu Recht ist er als »Hölderlin aus Sachsen« bezeichnet worden, ist seine Lyrik von seinen schreibenden Kollegen mit der von Georg Trakl verglichen worden. Dennoch bleibt Hilbig weiterhin ein Autor, der von einer breiten Leserschaft erst noch zu entdecken ist. Hilbig war ein Sprachkünstler, dessen Prosatexte in ihrer Präzision und sprachlichen Schönheit an Kleist erinnern. Selbst banale Dinge wusste er in eine Sprache zu übersetzen, die höchsten literarischen Ansprüchen genügt. Deshalb haben ihn besonders seine Kollegen so außerordentlich geschätzt – er war eine literarische Ausnahmeerscheinung.
Vieles an Wolfgang Hilbig kommt einem rätselhaft vor und schwer begreiflich, z. B. die Entfaltung seiner Schreibbegabung in einer völlig literaturfeindlichen Welt. Hat sich dieses Rätsel für Sie bei der Arbeit an Ihrem Buch gelöst, oder ist es bei näherer Betrachtung noch größer geworden?
Gelöst hat sich das Rätsel für mich nicht. Engste Freunde von Hilbig haben sich stets gefragt, woher seine Schreibbegabung angesichts der Voraussetzungen in seinem Elternhaus gekommen ist. Auch Hilbig selbst hat auf diese Frage keine ihn befriedigende Antwort gefunden. Bereits sehr früh hatte er den Entschluss gefasst, Schriftsteller werden zu wollen. Deshalb hat er immer wieder erfundene Geschichten aufgeschrieben und sich so im Schreiben geübt. Arbeit an der Sprache war ihm wichtig. Je mehr er schrieb, desto besser wurde er. Zunächst hat er sich an den Romantikern orientiert, insbesondere an E. T. A. Hoffmann. Einer von den früh vollendeten Dichtern war Hilbig nicht.
Gibt es etwas, das Sie Wolfgang Hilbig gern selbst gefragt hätten?
Beim Schreiben der Biographie hatte ich stets das Gefühl, Wolfgang Hilbig würde mir über die Schulter schauen. Angesichts dieser Nähe habe ich versucht, ihn auf Distanz zu halten – so gut es ging. Er war da, mischte sich aber nicht ein, gab keine Hinweise – er überließ mir das Kommando. Ein von ihm diktiertes Buch wäre eine andere Biographie geworden. Aber Hilbig schwieg. Ich habe versucht, mich diesem Autor zu nähern, ein Bild von ihm zu entwerfen. Die dabei verwendeten Bausteine mussten belastbar sein, es sollte keinen Platz geben für Vermutungen und für unbewiesene Behauptungen. Vielmehr sollte jederzeit nachvollziehbar sein, von welcher Position aus ich schreibe.
Was hätte Wolfgang Hilbig zu Ihrer Biographie gesagt?
Zu gern hätte ich von ihm eine Antwort auf diese Frage bekommen.