Liebe Carmen, dein neuer Roman spielt am und auf dem Meer und erzählt von einer unglaublichen Fahrt von vier brasilianischen Fischern auf einem Floß, Anfang der 40er Jahre – als kurz darauf der berühmte Regisseur Orson Welles die Fahrt verfilmen will, verunglückt der Anführer der Fischer bei den Dreharbeiten. Wie kamst du zu dieser Geschichte?
Vor ein paar Jahren saß ich in einem Motorboot, das aus der Bucht von Rio hinausfuhr. Ein Freund fuhr mit ein paar Leuten zu einer nahe gelegenen Insel, um Filmarbeiten zu machen und hatte mich mitgenommen. Vorne am Bug saß ein Mann neben einer Frau, er erzählte ihr, Orson Welles hätte genau an dieser Stelle, die wir gerade passierten, einmal eine Filmszene gedreht, dabei habe eine Welle den Hauptdarsteller, einen Fischer, ins Meer gerissen. Weil ich ganz hinten im Boot saß und der Motor so laut war, habe ich nur Fetzen der Geschichte mitbekommen. Aber das, was ich gehört habe, hat mich nicht mehr losgelassen.
Als Welles im Dezember 1941 den Artikel im ›Time Magazine‹ über die Floßfahrt der Fischer las, schien er offenbar sofort gewusst zu haben: Das ist es, darüber will ich einen Film machen. Ging es dir auch so? Hast du auch sofort gedacht: Darüber will ich meinen zweiten Roman schreiben?
So wie Orson Welles im Roman mit offenem Mund vor der Zeitung sitzt, so saß ich hinten im Boot mit offenem Mund. Mich hat diese Geschichte tief berührt, und ich wusste, es gibt darin etwas, das muss entdeckt werden, das muss in die Welt. Es war nur klar, dass ich keinen Historienroman schreiben will. Der Erzähler ist auf seiner eigenen Reise, er sucht etwas ganz Bestimmtes. Die Geschichte vom Fischer und Orson Welles ist für ihn der Auslöser, die Form der Suche.
Dein erster Roman »Mal Aria« wird von der Mücke erzählt, die die Hauptfigur des Romans gestochen hat und als Einzige von diesem Stich weiß. War dieser außergewöhnliche Erzähler noch präsent, als du deinen neuen Roman begonnen hast?
Diese Mücke war ja für mich kein Kunstgriff, sondern etwas ganz Naheliegendes. Ich hatte im Jahr 2003 eine Malaria-Erkrankung, die dreizehn Tage lang unbehandelt blieb. Ab einem gewissen Augenblick war mir klar, dass es knapp wird, wenn mir jetzt nicht noch jemand hilft. Es war eine der größten und extremsten Erfahrungen meines Lebens, und ich musste das erzählen. Aber ich wollte keine Leidensgeschichte, sondern etwas Neues daraus schaffen. Also bin ich in Dialog getreten, mit demjenigen, der das getan hat. Das war mein Gegenüber. Man kann das auch als eine Versöhnung mit der Mücke sehen, die mir fast den Tod gebracht hat. Heute bin ich ihr dankbar für diese Erfahrung.
Wie hat sich diese Erfahrung auf dein Schreiben ausgewirkt?
Das weiß ich nicht genau. Ich weiß nur, ich suche das Wesentliche. Das will ich erzählen. Ich schreibe in dem Wissen, dass es jederzeit vorbei sein kann. Und mich ziehen die grundsätzlichen Fragen an. Die Wahrheit, das ist doch der Boden unter unseren Füßen.
Durch die erzählerischen Möglichkeiten deines neuen Romans kannst du uns Leserinnen und Lesern nicht nur den hinter tausend Masken verborgenen Hollywood-Regisseur Orson Welles näherbringen, sondern vor allem von einem unbekannten Fischer erzählen, der diese wahnsinnige Idee hatte, mit seinen drei Freunden zum brasilianischen Präsidenten zu segeln, um für ihr Recht zu kämpfen – über 2000 Kilometer in 61 Tagen. Wer ist dieser Jacaré für dich?
Ein Mensch, für den das Einfache noch nicht kompliziert ist. Der einen instinktiven Zugang zu der höheren Macht hat, der er sich jeden Tag auf seinem Floß unterordnet. Er steht fest in der Welt, obwohl er auf wackeligem Meer steht. Er weiß, was er zu tun hat. Der Mut kommt aus der Notwendigkeit. Das Vertrauen aus seinem Glauben, dass am Ende das Gute überlegen sein wird. Das alles scheint so aus der Zeit gefallen und wird sich doch nie ändern. Darauf wird es am Ende ankommen.
Würdest du sagen, dass Jacarés Tod Orson Welles die Augen öffnet?
Ich würde sagen, dass es ihm das Herz öffnet.
»Ich will, dass ihr es genau so macht, wie es war«, sagt Orson Welles in deinem Roman immer wieder zu Jacaré bei den Dreharbeiten, woran denkst du bei diesem Satz?
Wir begeben uns auf so viele Irrwege bei dem Versuch, uns der Wahrheit anzunähern. Einer davon ist, möglichst realistisch zu sein. »Ich will, dass ihr es genau so macht, wie es war«, das heißt doch auch, da möchte jemand unbedingt wahr zur Wahrheit sein. Die Wahrheit braucht aber niemanden, der wahr zu ihr ist. Weil sie selbst die Wahrheit ist. Wir leben in einem Übermaß an Wahrheitskonstruktionen, von Fake- und Post-truth bis zur Lüge als sogenanntem Gegenteil. Das sind Konzepte, Eiskratzer an der Wahrheit, wir schaben ein bisschen das Eis an der Scheibe weg. Warum gehen wir nicht mal in die andere Richtung, an die Quelle, und fragen uns: Woher kommt sie? Wofür gibt es sie? Was ist sie überhaupt?
Erkennt Orson Welles, dass dieses unbedingte Festhalten am Realismus möglicherweise mitverantwortlich ist für den Tod von Jacaré?
Jacaré hatte alles gewonnen. Und dann reißt ihn eine Welle ins Meer, als er noch mal zeigen will, wie sie es gemacht haben. Der Held stirbt beim Imitieren seiner Heldentat. Das ist so tragisch. Aber wir dürfen eben nicht in der Tragik stehen bleiben. Wie kommen wir heraus, höher hinaus? Orson Welles zeigt es uns. Die Geschichte von ihm und dem Fischer kennt kaum jemand, warum nicht, ist ein Rätsel. Sie war vielleicht eine der Schlüsselstellen seines Lebens. Und sie ist ein Schatz, weil es so viel in ihr zu entdecken gibt.
Dein Roman jedenfalls ist das Gegenteil von Dokumentarfilm-Realismus. Im Unterschied zu dem anfangs in den Betrieb verstrickten Starregisseur, der seinen Film über Südamerika fertig kriegen will, ›weiß‹ dein Text, dass Jacarés Geschichte unbedingt anders erzählt werden muss. Was dieses ›andere‹ Erzählen auszeichnet, ist einerseits eine große Einfachheit und Klarheit, die an poetische Formen wie Märchen und Parabel erinnert, andererseits eine Entschiedenheit und Emphase, wie wir sie von großen Reden und Predigten kennen. War dieser Erzählton von Anfang an da?
Nein, er fehlte. Ich wollte den Roman schon seit ein paar Jahren schreiben, der Ton war aber nicht da, es ist wie bei einem Apfel, man kann zu ihm auch nicht sagen: »Wachs' schneller!« Mehrmals hätte ich das Buch fast aufgegeben, weil sich der Ton nicht einstellen wollte. Schreiben konnte ich das Buch kurioserweise erst, als ich mein drittes Kind erwartete, dem ging eine Entscheidung voraus, aber schreiben konnte ich erst in dieser Zeit. Als ich fertig war, druckte ich es aus, legte es auf den Tisch, am nächsten Tag wurde meine Tochter geboren, an meinem Geburtstag. Eine unglaubliche Erfahrung, diese Gleichzeitigkeit.
Orson Welles findet einen neuen Ton für seinen Film, den er nach Jacarés Tod doch noch dreht. Was macht dieses Unglück mit ihm? Wie wirkt es in seinem Film auf uns zurück?
Kurz nachdem ich in diesem Boot saß, lief zufällig »It’s all true« in einem Kino in Rio. Da habe ich noch mal gestaunt. Orson Welles erzählt nichts, dabei alles. Die Geschichte dahinter ist nicht sichtbar, aber in jeder einzelnen Schicht spürbar. Das Buch verbindet sich auch wieder mit dem Film, es fließt hin und her, auf und ab, wie Wasser, es ist nicht zu Ende.
Was formal auffällt in deinem Roman, ist zum Beispiel das Aufbrechen der üblichen Satzstruktur, immer wieder, mitten im Satz, das Setzen von Punkten. Hast du das beim Schreiben bewusst gemacht oder ist das einfach so passiert, als Folge des einmal gefundenen Tons?
Es kann fließen, und es kann mittendrin anhalten. Vorbei sein. Eine neue Richtung nehmen. Wie das entsteht? Ich kann das nicht auseinandernehmen, in Einzelteile zerlegen. Es ist wie bei Musik. Die Noten sagen nichts über das Ganze aus.
Wer spricht da eigentlich? Wer ist dieses »Ich«, das sofort einen persönlichen Ton in die Erzählung bringt?
Du glaubst wirklich, das könnte ich jetzt einfach so hier verraten? Vielleicht weiß ich es nicht einmal genau. Jeder sollte das Recht haben, seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Beim Schreiben ist für mich nur wichtig, dass dieses Ich etwas zu sagen hat. Wenn ich das nicht spüre, höre ich sofort auf. Und das Ich ist ein Verbundensein, empathisch mit seinen Figuren. Man muss fühlen, was man schreibt.
Wo und wie schreibst du?
Zurückgezogen. Fern von der Welt, wobei das überall sein kann. Innerhalb von zwei Jahren hat sich mein Leben komplett auf den Kopf gestellt. Ich lebe jetzt in einem Holzhäuschen mit wildem Garten in Genf. Vorher war ich Mutter einer Tochter, jetzt habe ich vier Kinder. Dazu einen Mann, der auf Bäumen arbeitet und eine ganz neue Perspektive in mein Leben bringt. Trotzdem schreibe ich immer noch insulär. Mein Mann spricht kein Deutsch, nur Französisch, und kann meine Bücher nicht lesen. Da gibt es immer dieses Geheimnis. Er weiß eigentlich gar nicht, mit wem er es zu tun hat! Man kann das schade finden, es kann auch eine Einladung sein, mehr zu entdecken.
Dein Roman ist auch eine Liebesgeschichte zwischen Jacaré und seiner Frau Josefina. Was haben diese beiden für eine Beziehung?
Eine, in der die Ferne, das Unwägbare, eine große Rolle spielt, auch deshalb sind sie sich so nah. Es ist eine tiefe und wahre Liebe. Als Jacaré nicht mehr mit seinem Floß am Horizont auftaucht, verändert sich für Josefina alles, die Welt hat eine andere Farbe.
»Wie eng sie ihre Welt machten, während ihm die Natur in jedem Augenblick versicherte, wie weit sie war«, heißt es an einer Stelle in deinem Roman. Und genau dieses Gefühl vermittelt für mich auch dein Text: Wie eng wir alle unsere Welt machen, und wie weit und offen die Welt doch sein kann, wenn man so handelt wie Jacaré. Welche Rolle spielt die Natur – die Mücke, der Urwald, das Meer – für diese Weite?
Sie ist die Weite. Aber wir sind das auch. Wir haben nur diese falsche Wahrnehmung: ›Ich hier, dort die Natur‹. Als wäre sie eine andere Person. Ein Mückenstich führt unsere angebliche Trennung von der Natur ad absurdum – enger als durch Blut kann man schließlich nicht verbunden sein.
Es gibt für mich eine Schlüsselszene in deinem Roman: Sie erzählt von einem Betrug von Jacarés Frau Josefina, der Schmerz, den Jacaré darüber spürt, wird zu einem Schatten auf seinem Floß, was geschieht da genau?
Was ist denn mit diesem Schatten? Gehört er wirklich zu Jacarés Leben oder führt er ein Eigenleben? Ist er im Meer oder auf dem Floß, und wer bestimmt das? Wir sollten nicht zu viel verraten!
Es gibt für mich noch eine andere Schlüsselszene: Als ein Cousin im Meer ertrinkt, soll sich Jacaré als Kind die Tränen abwischen. Jacaré versteht das nicht, und genau dieses Wischen, dieses Sich-keine-Blöße-Geben, dieses Schlucken und Verdrängen will Jacaré als Erwachsener nicht mehr mitmachen. Wenn es für den Mut zu handeln Klarheit braucht, braucht es dann für die Klarheit womöglich die Tränen?
Oft geht es nicht anders. Aber es geht auch um unser Fremdbestimmtsein, bis in die kleinste Geste hinein, dass wir nicht ehrlich mit uns sind, uns oft selbst nicht kennen. Oder nicht genug kennen wollen.
Wenn ich heute, im Jahr 2017, die Geschichte von Jacarés Aufbruch und großer Fahrt zum Präsidenten lese, kann ich gar nicht anders, als diese Geschichte auch politisch zu verstehen. Steckt in deinem Roman auch eine Geschichte über unser eigenes Unbehagen und die Notwendigkeit, endlich etwas zu tun?
Was können, was sollen wir tun? Schreien, Protestieren, ja, aber es ist nicht immer das. Wenn man sich das Beispiel der Fischer anschaut. Sie setzen sehr viel aufs Spiel, aber es ist ein leiser Aufstand. Es ist vollkommen integres Handeln, in seiner ganzen stillen Größe. Es entfaltet dadurch seine Kraft. Zeigen, wer man ist. Geben, was man hat. Wenn jeder von uns nur das tun würde, wo könnten wir dann sein?
Interview: Sascha Michel