Interviews

Fünf Fragen an Andreas Rödder

Zum diesjährigen Historikertag stellen wir fünf renommierten HistorikerInnen Fragen zur Geschichte und ihrer Wirkung. Das letzte Interview haben wir mit Andreas Rödder geführt, hier lesen Sie seine Antworten.

1. Was kann Geschichte als Wissenschaft leisten, welche Funktion hat die Geschichte (einerseits als Wissenschaft, andererseits als Bezug auf das Vergangene) heute?

Geschichte als Wissenschaft sollte andere Sichtweisen erschließen statt eigene Perspektiven zu verabsolutieren und kann damit im besten Sinne die Gegenwart relativieren. Insbesondere die gegenwartsnahe Geschichtsschreibung sollte den Anspruch verfolgen, gegenüber tagesaktuellen Aufgeregtheiten einen Schritt zurückzutreten und mit diesem Abstand zu fragen, was an der Gegenwart eigentlich wirklich neu ist und wo ältere Muster zu erkennen sind. Dieser Bedarf ist vor allem seit 2008 spürbar gewachsen, denn mit dem Ende der politisch-kulturellen Vorherrschaft des marktliberalen Paradigmas und angesichts der unerwarteten internationalen Krisen ist eine Art von parametrischer Verunsicherung eingetreten, die das voreilige Postulat vom »Ende der Geschichte« zur Makulatur gemacht hat und stattdessen nach historischer Rückversicherung fragt.
Was die Geschichtswissenschaft in diesem Zusammenhang beitragen kann, sind Erklärungen in einem größeren Zusammenhang und die Sensibilität für unterschiedliche Perspektiven und Uneindeutigkeiten. Gerade die Skepsis gegenüber vermeintlich eindeutigen Lösungen und selbstgewissen Prognosen ist Teil des Erfahrungsschatzes, den sie der Gegenwart vermitteln und mit dem sie zur ihrer Orientierung beitragen kann.

2. Was fasziniert Sie an der Arbeit des Historikers, warum sind Sie Historiker geworden? Was wollen Sie als Historiker mit der Geschichte erreichen oder beitragen?

Die Vorstellung, dass es die Überzeugungskraft des Arguments sein soll, die zählt, nicht Vorurteile, Geld oder soziale Macht – mit Bourdieu gesprochen: »intellektuelle Autonomie« –, das hat mich von Beginn meines Studiums an für das Prinzip Wissenschaft begeistert, zusammen mit der Aussicht, mir immer neue Horizonte zu erschließen. Meine gesellschaftlich-politischen Interessen haben diese Neigungen dann von der mediävistischen Germanistik, wo ich meinen ersten Interessenschwerpunkt hatte, zur neuesten Geschichte gelenkt. Ich selbst habe Geschichtswissenschaft nie mit missionarischem Anspruch betrieben, verstehe meine Arbeit aber, auf der Grundlage intellektueller Autonomie (die übrigens ein politisches Urteil keineswegs ausschließt), auch als Beitrag zur – wenn ich das so sagen darf – gesellschaftlich-politischen Selbstaufklärung, jedenfalls zur Debatte und Meinungsbildung.

3. Wieso mischen sich so wenige HistorikerInnen in das Zeitgeschehen und in aktuelle Debatten ein? Kann die Vergangenheit uns überhaupt etwas über die Gegenwart lehren oder zur Analyse aktueller Probleme beitragen?

Grundsatzdebatten zum Selbstverständnis der Bundesrepublik sind immer wieder Historikerdebatten gewesen, und auch die Debatten über den Ersten Weltkrieg um 2014 (samt der damit verbundenen Auflagenhöhen) waren einmal mehr Beleg für die öffentliche Bedeutung der Geschichtswissenschaft. Überhaupt liegt die politische Intervention, von der borussischen Geschichtsschreibung bis zur Bielefelder Gesellschaftsgeschichte der 1970er Jahre, in der DNA des Faches, wobei ihm polarisierende parteiische Aufladungen nicht gut getan haben. Zugleich ist in der Tat eine Tendenz der Fachcommunity zum Rückzug auf sich selbst zu beobachten, der verschiedene Gründe hat: wissenschaftliche Autonomie, ein kulturgeschichtlicher Habitus, der sich in der Dekonstruktion von Realität genügt, ein durch eigene Sprachspiele geschützter akademischer Raum, und nicht zuletzt wissenschaftsinterne Anreizsysteme, die Drittmittel zum zentralen Indikator von Erfolg gemacht haben. Die Einwerbung von Drittmitteln erfolgt aber innerhalb eines selbstreferentiellen Systems, das mit der Öffentlichkeit nicht kommuniziert – und der Drittmittelkönig ist der Öffentlichkeit zumeist unbekannt.
Eine solche selbstbezügliche, Drittmittel einwerbende Wissenschaft verfehlt nach meiner Einschätzung jedoch ein legitimes öffentliches Interesse an verständlicher und fundierter historischer Information. Dabei kann die Geschichtswissenschaft mit ihrem Selbstverständnis der intellektuellen Autonomie nicht Lieferant von tagesaktuellem Anwendungswissen sein. Dass sie weder verlässliche Prognosen noch historische Automatismen zur Gegenwartsdebatte beisteuern kann, aus denen sich technisch lernen ließe, macht vielmehr ihre programmatische Stärke aus. Die Zukunft wird aller historischen Erfahrung zufolge doppelt anders: anders als die Gegenwart und anders als wir sie heute erwarten. Und daraus erwächst ein doppeltes historisch fundiertes Plädoyer: für Offenheit statt verkürzter Selbstgewissheiten sowie für die Toleranz von Widersprüchlichkeit. Denn was der Mensch auch tut, es schafft stets unvorhergesehene neue Probleme.

4. Welche Rolle spielt für Sie Narrativität in der Geschichtswissenschaft?

Die Sehnsucht nach Narrativität steckt ja schon im Begriff: »Geschichte« – und in seiner doppelten Bedeutung von »Erzählung« und »Gegenstand« liegt zugleich das Dilemma. Denn schon um die Jahrhundertwende ist das Korrespondenzverhältnis zwischen Sprache und Wahrheit zerbrochen, aber noch der avancierteste Dekontruktivismus ist nicht nur auf sprachliche Vermittlung angewiesen, sondern hat selbst neue Narrative geschaffen. Zugleich gerät das chronologisch-lineare Prinzip der Narration in einen Konflikt mit stärker netzwerkartigen, wurzelförmigen Denkformen, die mit dem digitalen Zeitalter zuzunehmen scheinen. Und doch bleibt die Sehnsucht nach der Geschichte, allerorten.
Dieses Dilemma und in die Begrenztheit historischer Wissenschaftlichkeit, die immer an sprachliche Vorverständnisse gebunden bleibt und die nichtsdestoweniger einen Mehrwert an Erkenntnis schafft, muss akzeptiert und anerkannt werden. Das kann aber nicht nur entspannend wirken, sondern zugleich die Möglichkeit eines pragmatisch-reflektierten Umgangs eröffnen. Wenn ich den Eindruck habe, eine analytische Erkenntnis zutreffend – und auch schön – formuliert zu haben, dann ist das für mich einer der größten Glücksmomente beim Schreiben. Über eine gelungene Formulierung kann ich mich freuen wie ein Kind – auch als Leser, denn der Aha-Effekt erreicht mich immer über die sprachliche Vermittlung. Narrativität ist die gestalterische Komponente der Geschichtsschreibung – und diese Verbindung aus analytischen und ästhetischen Elementen macht für mich ihren entscheidenden Reiz aus.

5. Was wünschen Sie sich von einem historischen Sachbuch? Welches historische Sachbuch hat Sie zuletzt besonders beeindruckt und warum?

Ich liebe intellektuell unabhängige und analytisch originelle Bücher, die überraschende Perspektiven eröffnen und gut geschrieben sind. Mein eigener Anspruch ist, auf unverhandelbar solidem wissenschaftlichem Fundament mit neuen Argumenten und Sichtweisen ein breites interessiertes Publikum zu erreichen – und möglichst die Königsdisziplin zu schaffen: eben jenen schon erwähnten Aha-Effekt zu erzeugen.
Aus diesen Gründen lauten meine letzten Favoriten (dass sie zu drei Fünfteln englische Titel sind, sollte der deutschen Geschichtswissenschaft ebenso zu denken geben wie als Ansporn dienen):

 

  • Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt 2005.
  • Philipp Blom, Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914. München 2009.
  • Neil Caplan, The Israel-Palestine Conflict. Contested Histories. Chichester 2010.
  • Nouriel Roubini/ Stephen Mihm, Crisis Economics. A Crash Course in the Future of Finance. New York 2010.
  • Christopher Clark, The Sleepwalkers. How the World went to War in 1914. London 2012.
Andreas Rödder

Andreas Rödder

Andreas Rödder, geboren 1967, zählt zu den bedeutendsten deutschen Historikern. Auf brillante Weise macht er Geschichte für ein Verständnis unserer unmittelbaren Gegenwart fruchtbar. Seine Beiträge finden umfassende nationale wie internationale Resonanz. Seit 2005 ist er Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zuletzt erschien »21.0 – Eine kurze Geschichte der Gegenwart«, das mehrere Wochen auf der SPIEGEL-Bestsellerliste stand.