1. Was kann Geschichte als Wissenschaft leisten, welche Funktionen hat die Geschichte (einerseits als Wissenschaft, andererseits als Bezug auf das Vergangene) heute?
Geschichtswissenschaft sollte in meinen Augen vor allem einen Erklärungsanspruch haben: Sicher muss sie nicht die ganz große Weltgeschichte erklären, das kann sie nicht. Aber sie kann und muss auf einer etwas kleineren Skala den Anspruch haben, Zusammenhänge, Ursachen und Gründe aufzuzeigen, die erklären, warum die Verhältnisse so geworden sind, wie sie sind. Sie kann auch das Handeln von Menschen in einer konkreten historischen Situation erklären, was allerdings kein geringer Anspruch ist. Das bedeutet nicht, dass Geschichtswissenschaft Handlungen und Verhältnisse legitimieren soll, mit anderen Worten, eine Legitimationswissenschaft sein sollte, wie sie dies seit dem 19. Jahrhundert für lange Zeit war. Geschichtswissenschaft soll machtkritisch sein, Vergessenes wieder sichtbar machen und gegenüber dem Bestehenden, dem selbstverständlich So-Seienden, die historische Erfahrung anderer Denk- und Handlungsmöglichkeiten einbringen. Ich meine, es ist sogar eine zentrale Aufgabe der Geschichtswissenschaft, jene Machtkonstellationen sichtbar zu machen, die dafür verantwortlich sind, dass sich bestimmte Deutungen und Sichtweisen als hegemonial durchgesetzt haben. Was heute für »wahr«, »richtig«, »normal« und »wertvoll« gehalten wird, fiel nicht vom Himmel. Zweifellos kann Geschichtswissenschaft damit auch ziemlich störend sein, weil es vermeintliche Erfolgs- und Fortschrittsgeschichten konterkariert. Ein Beispiel dafür wäre der Einspruch gegen die wunderbare Erzählung vom Siegeszug des Humanitarismus und der Menschenrechte als einer Geschichte des unaufhaltsamen, ungebrochenen Fortschritts von Menschlichkeit und Empathie: Wir müssen zeigen, dass die Geschichte des Humanitarismus immer auch eine Geschichte von Machtverhältnissen war und ist, eine Geschichte der Definitionsmacht darüber, wessen Leid überhaupt in den Blick gerät und wer wann wieviel Hilfe verdient. Außerdem war diese Geschichte seit dem 19. Jahrhundert auch von stetig neuen Grenzziehungen zwischen den »Zivilisierten« und den »Anderen« geprägt. Derartige Überlegenheitserzählungen sollte Geschichtswissenschaft nicht nur freilegen, sondern ihnen auch entgegentreten, ebenso wie den damit verbundenen selbstgefälligen Fortschrittsgewissheiten.
2. Was fasziniert Sie an der Arbeit der Historikerin, warum sind Sie Historikerin geworden? Was wollen Sie als Historikerin mit der Geschichte erreichen oder beitragen?
Ich bin eher durch Zufall Historikerin geworden. Was mich an der Arbeit der Historikerin fasziniert, ist aber nicht zufällig: Mich interessiert das Komplizierte, das Komplexe, das Zusammenspiel von vielen unterschiedlichen Faktoren, von menschlichen Interaktionen. Das Geflecht dieser Interaktionen und Deutungen macht genau das aus, was wir Gesellschaft nennen. Daher ist für mich die Analyse von Sprache und Sprechweisen wichtig; mich fasziniert die historische Bedingtheit und Veränderbarkeit von Wahrnehmungs- und Deutungsmöglichkeiten. Das genaue Sezieren von Sprechweisen kann unendlich viel freilegen und sichtbar machen – weit mehr jedenfalls, als die etablierten Erzählungen üblicherweise zu sehen erlauben. Geschichtswissenschaft ist daher für mich eine Form der Kritik, wie schon angedeutet: Sie kritisiert vorherrschende Erzählweisen (bis hin zu Mythen) und stört mit ihren intellektuellen Instrumenten liebgewonnene Gewissheiten. Sie hilft, aus dem schmalen Wahrnehmungshorizont der Gegenwart herauszutreten und sich nicht für den Nabel der Welt(geschichte) zu halten; sie hilft, das eigene Gewordensein und die eigene Relativität zu begreifen.
3. Wieso mischen sich so wenige HistorikerInnen in das Zeitgeschehen und in aktuelle Debatten ein? Kann die Vergangenheit uns überhaupt etwas über die Gegenwart lehren oder zur Analyse aktueller Probleme beitragen?
Ich denke, es ist eine Überlegung wert, ob es nicht eine gewisse Medienlogik gibt, die hier eine Rolle spielt. Journalisten neigen dazu, sich auf die immer gleichen Autoren zu konzentrieren, von denen sie wissen, dass sie zusagen und schnell liefern, und die sich insofern als »zuverlässige Bank« erwiesen haben. Zudem erwarten Medien eben oft, dass man aktuelle Entwicklungen umstandslos zu historischen Begebenheiten in Beziehung setzen kann, selbst wenn man auf dem betreffenden Gebiet gar kein Experte ist. Dem Denk- und Arbeitsstil von Historikerinnen und Historikern entspricht das nicht unbedingt. Trotzdem ist das sicher nicht der einzige Grund: Vielen Historikern und Historikerinnen fällt es tatsächlich schwer, ihre Forschung und ihre Fragestellungen mit aktuellen Problemen zu verknüpfen und ihre Überlegungen in einem medientauglichen Format zu veröffentlichen. Das ist bedauerlich. Ich bin daher als Herausgeberin und Autorin an einem Online-Projekt beteiligt, das Geistes- bzw. Kulturwissenschaftlern als eine Plattform dienen soll, um sich in öffentliche Debatten einzuschalten (www.geschichtedergegenwart.de). Wir machen dabei zwar auch die Erfahrung, dass es schwierig sein kann, Forschungsthemen der Geschichtswissenschaft mit aktuellen Fragen zu verknüpfen. Aber ich bin dezidiert der Meinung, dass man mit geschichtswissenschaftlichen Denkwerkzeugen gegenwartsbezogen und kreativ-intervenierend in die Öffentlichkeit hineinwirken kann und soll.
4. Welche Rolle spielt für Sie Narrativität in der Geschichtswissenschaft?
Das ist keine einfache Frage. Und zwar deshalb nicht, weil es darauf keine einfache, keine klare Antwort geben kann: Geschichtswissenschaft bewegt sich meines Erachtens auf einer Schnittfläche zwischen dem Theoretischen und dem Narrativen. Es hat mittlerweile diverse Versuche gegeben, Theorien zur Strukturierung historischer Erzählungen im Fach zu etablieren. Ich sage bewusst »Versuche«, weil sich keines dieser Angebote wirklich umfassend durchgesetzt hat. Trotzdem wäre es in meinen Augen falsch, deshalb Theorie oder theoretische Ansätze über Bord zu werfen. Diejenigen Historiker, die behaupten, nur erzählen zu wollen, »wie es eigentlich gewesen« ist, reflektieren ihre eigenen Vorannahmen entweder nicht oder machen sie für die Leser nicht sichtbar. Ich bin überzeugt davon, dass gute Bücher nur dann geschrieben werden können, wenn sie eine leitende Fragestellung haben und sich die Autoren an einem Problem ›abarbeiten‹. Letztlich sind es dann immer theoretische Konzepte, die unsere Fragestellungen anleiten – und das ist gut so, weil solche analytischen Zugriffe weiterführen als ein »bloßes« Erzählen. Die Erklärungskraft des reinen Erzählens ist zwar nicht geringzuschätzen, aber sie bleibt hinter den Möglichkeiten von theoriegeleiteten Fragestellungen und Ansätzen zurück. Man kann den Bogen aber auch überspannen. Geschichte ist zu komplex, zu vielfältig, zu sehr von Singularitäten geprägt, als dass wir sie umfassend mit Hilfe von Theorien modellieren könnten. Der historische Zusammenhang, den wir möglichst plausibel rekonstruieren und entfalten wollen, lässt sich letztlich doch nur erzählerisch erfassen und darstellen. Theorien liefern dazu Anregungen, aber am Ende des Tages erzählen wir immer eine Geschichte, und idealerweise eine, in der die Geschichten der zeitgenössischen Akteure ihren Platz haben.
5. Was wünschen Sie sich von einem historischen Sachbuch? Welches historische Sachbuch hat Sie zuletzt besonders beeindruckt und warum?
Ich wünsche mir, dass historische Sachbücher mutig sind: entweder indem sie ein neues Thema setzen oder indem sie neue Einsichten in ein scheinbar schon bekanntes Thema liefern, weil es ihnen gelingt, unseren Blick auf ein Ereignis oder ein Phänomen zu verändern. Die Lektüre eines historischen Sachbuchs ist für mich dann ein Vergnügen, wenn das Buch zum Nachdenken anregt, wenn es Fragen aufwirft. Es kann an der Komposition des Buches liegen, das Aspekte zusammenführt, die sonst nicht zusammengedacht werden; oder daran, dass Erzählstrategien eingesetzt werden, die scheinbar spielerisch die »kleinen« Geschichten zeitgenössischer Akteure mit politischen, sozialen oder ökonomischen Entwicklungen in Zusammenhang bringen und dabei etwas sichtbar machen, was im vorherrschenden »Masternarrativ« untergeht – etwas, was die Leser vielleicht sogar verstört, weil Menschen und ihre Geschichte(n) widersprüchlich sein können, genauso wie geschichtliche Ereignisse und Situationen.
Meines Erachtens ist Ian Buruma mit seinem Buch ›’45 – Die Welt am Wendepunkt‹ vieles davon ausgesprochen gut gelungen. Buruma verschiebt allein schon dadurch bisherige Perspektiven und Denkhorizonte, weil er sich nicht nur auf das Kriegsende und die Nachkriegszeit eines Landes oder eines Kontinents konzentriert, sondern verschiedene Weltregionen in den Blick nimmt: Südostasien, (West-)Europa und die USA. Zudem scheut sich Buruma nicht, auf Verbindungslinien hinzuweisen, die das Ende des Zweiten Weltkriegs mit der Gegenwart verknüpfen. Dabei gelingt es ihm meisterhaft, seinen Zoom auf die Nachkriegszeit so einzustellen, dass er nicht nur diverse Ereignisse und Entwicklungen jener Zeit schildern, sondern auch zeitgenössische Perspektiven und sogar die eigene Familiengeschichte einflechten kann. Es ist ein immens kenntnisreiches Buch, eine vortreffliche Synthese – ein Buch, das an vielen Stellen vorführt, wie analytisches Erzählen gekonnt funktioniert.