Interviews

Florian Illies über die Liebe in Zeiten des Hasses

In seinem neuen Buch »Liebe in Zeiten des Hasses« erweckt Florian Illies die 1930er Jahre in all ihren Facetten und Widersprüchen zum Leben und erzählt von den größten Liebespaaren der Kulturgeschichte. Im Gespräch mit unserer Verlegerin Siv Bublitz berichtet er von der Herausforderung und dem Reiz, ein ganzes Jahrzehnt literarisch zu fassen.

Der Autor Florian Illies in hellblauem Hemd und schwarzem Pullover vor einem blaugrauen, neutralen Hintergrund.
© Mathias Bothor
Das Buch fängt im Frühjahr 1929 an und geht bis 1939 – ein ganzes Jahrzehnt. In »1913« hast Du Dich mit einem Jahr auseinandergesetzt. Jetzt beschäftigst Du Dich mit einem Jahrzehnt, das tatsächlich eines der wirkungsmächtigsten unserer jüngeren Geschichte war. Wie bist Du darauf gekommen? Was hat Dich dazu bewogen, diese Epoche als Thema, als Stoff zu wählen?  

Ich habe mich eine lange Zeit immer mit den berühmten goldenen zwanziger Jahren beschäftigt und die Bücher und Debatten über die dreißiger Jahre verfolgt. In den zwanziger Jahren ging es sehr viel um die Lebensart, um den viel beschworenen Tanz auf dem Vulkan. Man hat eine sehr bunte Vorstellung von dieser Zeit. Die dreißiger Jahre fühlen sich eher wie ein Schwarz-Weiß-Film an. Man kennt die ganzen Fakten, die ganzen Gräueltaten der Nazis, die schrecklichen Gesetze, die erlassen wurden. In den Büchern und in den gesellschaftlichen Debatten ging es um die großen Fragen – um Schuld, um Verantwortung. Aber immer wieder, wenn ich mich damit beschäftigte und Tagebücher und Briefe aus diesen Jahren gelesen habe, habe ich mich gefragt, ob wir wirklich ein Gefühl dafür haben, wie diese 1930er Jahre vor allem im Alltag gewesen sind. Wie die Menschen eigentlich gelebt haben in dieser Diktatur. Wie ein Weiterleben in dieser Zeit möglich war. Ich hatte das Gefühl, was wir als Geschichtsbild abgespeichert haben, ist wirklich nur eine Variante dessen, was über diese Jahre gesagt werden kann. Ich glaube, wir alle kennen es aus unseren Familien. Wir hören Erzählungen über die dreißiger Jahre von den Großeltern, von den Urgroßeltern, die merkwürdig lückenhaft sind. Es gibt sehr viele Phasen, die  beschwiegen werden. Man weiß nicht wirklich, was da eigentlich passiert ist. Da gibt es ein Schweigen aus Scham, ein Schweigen aus Schuld, aber die wirkliche Lebendigkeit dieser schrecklichen zehn Jahre wird nie spürbar und das war etwas, was mich unglaublich fasziniert und interessiert hat. Ich habe lange nach einem Zugang gesucht, der sich jetzt im Titel widerspiegelt: Liebe. Liebe in Zeiten des Hasses. Ich nähere mich dieser Zeit über zwei der elementarsten Gefühle, die jeder von uns heute und eben auch die Menschen von damals – auch wenn sie Heroen sind – in sich tragen: die Sehnsucht und die Angst. Die Angst, weil es ein Leben unter dem Hakenkreuz war, eine existenzielle Gefährdung für die jüdischen Mitbürger und für alle anderen, auch wenn sie nicht jüdisch waren, eine Bedrohung, ein Zustand von permanenter Gefährdung. Und zugleich haben die Menschen trotzdem geliebt. Sie waren verliebt. Sie waren verzweifelt und hatten Angst. Sie haben sich gesehnt nach einer besseren Zukunft. Und genau über diese beiden Zugänge, diese Gefühlswelten von Sehnsucht und Angst, habe ich versucht, eine andere Erzählung dieses Jahrzehnts zu gewinnen. 

 

Magst Du sagen, wie Du deine Protagonist*innen gewählt hast? Vielleicht auch, wer die wichtigsten für Dich sind? Warum begegnen wir in Deinem Buch ausgerechnet diesen Personen?

Man kann sich vorstellen, man geht auf eine große Abendgesellschaft, ein großes Abendessen. Es sind sehr viele Personen im Raum, die ganzen berühmten Menschen. Da sitzen Heinz Rühmann, Hans Albers und Marlene Dietrich. Da sitzen Thomas Mann, Klaus Mann und Heinrich Mann. Gleichzeitig sitzt da aber auch Mascha Kaléko, an einem Tisch am Rande. Da sitzen Max Beckmann und Gottfried Benn. Weiter hinten am anderen Tisch sitzen die Surrealisten. Da sitzt Dalí. Da hinten knutschen Anaïs Nin und Henry Miller und auf den Tischen tanzt ein junger Herr, der von Gustaf Gründgens herunter gebeten wird. Man erlebt das alles und fragt sich: Was ist denn hier bitte los? Ich merkte dann beim Schreiben, dass es Menschen gibt, die sich einem entziehen. Thomas Mann ist einer, der sich in seinen Büchern verwirklicht, in seinen Romanen, der einen aber kaum an sich heranlässt. Währenddessen wurde mir der, den er am ausgestreckten Arm verhungern ließ – Klaus Mann, eine Figur, mit der ich mich bislang viel zu wenig beschäftigt habe – in dieser Abendgesellschaft plötzlich immer sympathischer. Ich las seine Tagebücher und war von Seite um Seite begeisterter, mit welcher Klarsicht er ab 1931 die Gefahr sieht, in die Deutschland rutscht. Wie er mit seiner Schwester Erika eigentlich dafür verantwortlich ist, dass Thomas Mann ins Exil geht und dort bleibt. Wie er seinen Vater zu dieser Haltung gegen Deutschland bewegt. Dass ich Klaus Mann zu einer Hauptfigur in diesem Buch gemacht habe, ist eine Entscheidung, die entstanden ist, weil ich ihm durch die Briefe und vor allem durch seine Tagebücher auf eine ganz besondere Weise nahe kommen konnte. 

Die Abendgesellschaft ist erstmal eine mondäne, große – und die Personen, die dann wirklich etwas erzählen können über diese Jahre, die zu den Hauptfiguren in meinem Buch werden, das sind vielleicht gar nicht die, an die ich am Anfang gedacht habe. Ich bin ein Autor, der sich immer überraschen und begeistern lassen möchte und der natürlich, wie jeder Autor, mit einem Bild in ein Buch und in die Zeit steigt und dann ganz überrascht ist, wohin ihn das Recherchieren, das Schreiben trägt. Was dann zusammenpasst und nicht zusammenpasst, das ist wirklich ein anderthalbjähriger großer Prozess gewesen. Indem ich die Liebespaare, die Menschen, über zehn Jahre begleite, kann ich gerade dadurch, wie sich die Zeiten in ihren Liebesgeschichten abbilden, unglaublich viel über die späten 1920er Jahre und diese 1930er Jahre in Deutschland und in Frankreich erzählen. 

 

Magst Du vielleicht noch etwas mehr über Deinen Schreibprozess erzählen? Wie hast Du Dich den Protagonist*innen und ihren Geschichten genähert?

Es wäre natürlich ökonomisch gewesen, die ganze Liebesgeschichte von Sartre und Simone de Beauvoir oder von Brecht bis 1939 zu erzählen. Ich habe sehr schnell gemerkt, dass ich dazu überhaupt nicht in der Lage bin, weil ich beim Schreiben komplett in dieser Zeit lebe. Ich kann nicht schon mit einem Liebespaar Berlin verlassen und ins Exil nach Dänemark gehen, während all die anderen noch dort sind, während die Figuren, die dann in mir sind, mit denen ich mich beschäftige, um ihr Leben bangen. Das heißt, mein Schreibprozess war wahnsinnig unökonomisch. Ich bin erst mit den Brechts, mit den Manns, mit Gottfried Benn, mit Ruth Landshoff, mit Josephine Baker den Weg bis 1933 gegangen. Dann bin ich mit ihnen allen durch 1933 gegangen. Das hat auch mein Schreiben verändert. Ganz unweigerlich schreibt man über das Jahr 1933 anders als über das Jahr 1929. Anschließend bin ich mit all diesen Paaren bis 1939 gegangen. Das Buch endet damit, dass der Krieg beginnt. Es ist also ein sehr organischer Prozess. Ich hatte manchmal das Gefühl, ich bin ganz in der Zeit versunken. Die Corona-Zeit war dafür sehr hilfreich. Ich bin während des ganzen Lockdowns in den Jahren 1929 bis 1939 gewesen. Wenn ich nicht manchmal zum Corona-Test hätte gehen müssen, hätte ich das Gefühl gehabt, ich bin ganz in der Vergangenheit. Das ist für mich das Wichtigste, um historisch zu erzählen, um ein historisches Bewusstsein zu wecken. Sich hineinbegeben in diese Widersprüchlichkeiten der Zeit – das war mein großes Ziel.

 

In „1913“ spielten Frauen keine große Rolle. In diesem Buch ist es vollkommen anders: Du erzählst von vielen Frauen, und sie stehen oft im Mittelpunkt des Geschehens. In der Folge der drei Kapitel geschieht ja auch etwas: Man hat das Gefühl, bei einer Entwicklung zuschauen zu können, die für Frauen in dieser Zeit in der Gesellschaft stattgefunden hat. Wie kommt es zu dieser Veränderung?

Wenn man sehr viel Literatur, Tagebücher und Zeitschriften aus der Zeit liest, versteht man irgendwann, wer die Männer waren in diesen frühen, mittleren und späten zwanziger Jahren. Das waren beinahe alles Männer, die aus dem ersten Weltkrieg zurückgekommen waren. Diese Männer waren fast alle seelisch und körperlich schwer verwundet und haben das meist nie mehr verwunden. Man hat also eine Generation von Männern, die in gewisser Weise handlungsunfähig ist. Parallel dazu gibt es eine Generation von Frauen, die mehr oder weniger gezwungen ist, die Geschäfte zu führen und es dann eben auch tatsächlich kann. Wir erleben einen Modernisierungsschub, eine gesellschaftliche Möglichkeit für Frauen. Die Frauen, über die ich schreibe, sind die erste Generation von Frauen, die arbeiten, die angestellt sind und die deshalb auch den Feierabend haben. Diese gesamte Berliner Kultur der späten 1920er Jahre hat sehr viel damit zu tun, dass alleinstehende Frauen in Cafés bedient werden. Und dass Frauen alleine oder mit Freundinnen abends ausgehen. Das ist eine wirkliche gesellschaftliche Revolution, die sich in einer ganz neuen Generation von Malerinnen, von Fotografinnen und von Schriftstellerinnen abbildet: Gabriele Tergit, Ruth Landshoff, Irmgard Keun, Vicki Baum. Das sind alles Figuren, die sich in diesem wunderbaren Zwischenfeld von Journalismus und Literatur bewegen. Da kommt ein ganz neues Zeitungs- und Zeitschriftengenre auf. Die Frauen fahren Auto, auch eine ganz wichtige Emanzipationsbewegung, die dann abgebildet wird in der Malerei bei Tamara de Lempicka. Oder Erika Mann, die ihre europaweiten Autoreisen macht. Das sind alles Frauen, die Protagonistinnen ihrer Zeit und deshalb auch Protagonistinnen meines Buches sind. Man merkt es sehr schnell: Die Frauen werden zu Handelnden statt Behandelten. Gretel Karplus, die eine enge Beziehung zu Walter Benjamin, zu Ernst Bloch und dann eben zu Theodor Adorno hat, leitet eine Lederwarenfabrik in Berlin. Véra von Nabokov arbeitet in einer Anwaltskanzlei. Mascha Kaléko ist eine Büroangestellte, die abends ihre Gedichte schreibt. Also ein vollkommen verändertes gesellschaftliches Bild – und das ist etwas, was ich in diesem Buch unbedingt abbilden will.

 

Bei dem Interview handelt es sich um das gekürzte Transkript eines Gesprächs, das Florian Illies und Siv Bublitz im Rahmen einer digitalen Veranstaltung geführt haben.

Florian Illies, der »große Geschichtenerzähler« (»Süddeutsche Zeitung«), verwandelt die Vergangenheit in seinen Büchern in lebendige Gegenwart. Er verwebt in seinem mitreißenden und humorvollen Stil kurze Miniaturen zu großen historischen Panoramen und Epochenporträts. Mit seinem Welterfolg »1913. Der Sommer des Jahrhunderts« begründete Illies ein neues Genre.

Illies, geboren 1971, studierte Kunstgeschichte in ...

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Florian Illies' virtuoses Epochengemälde

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