Interviews

Ein Haus ohne Mauern bauen

Zu Ilse Aichingers 100. Geburtstag am 01. November 2021 hat Lektor Sascha Michel zwei Interviews zu ihrem Werk und seiner Gegenwärtigkeit geführt. Mit Andreas Dittrich spricht er über das Politische im Schreiben der Autorin und seine Suche nach den verstreuten Publikationen von Ilse Aichinger, die in »Aufruf zum Mißtrauen« versammelt sind.

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© Stefan Moses
Wann haben Sie Ilse Aichinger zum ersten Mal gelesen?

Datieren kann ich es nicht genau; es muss gegen Ende meines Philosophiestudiums gewesen sein. Aber an den Ort erinnere ich mich. Ich lief damals durch die frühsommerliche Wiener Innenstadt, als ich zufällig bei einem karitativen Büchermarkt im ersten Hof des Erzbischöflichen Palais gelandet bin. Es standen viele Kartons mit vielen Büchern darin herum und ich nahm – vielleicht wegen Otl Aichers subtiler Buchgestaltung – Aichingers Der Gefesselte in die Hand; genauer gesagt, las ich darin das Vorwort Das Erzählen in dieser Zeit. Ich weiß nicht, aus welcher Bibliothek dieses Buch kam, es war ein wenig vergilbt und nicht ganz ungelesen. Der Text beeindruckte mich sehr und ich nahm es mit. Die Unglaubwürdigkeit, genau an diesem Ort, unmittelbar neben der ehemaligen »Hilfsstelle für nichtarische Katholiken«, Aichinger zum ersten Mal zu lesen, habe ich erst sehr spät begriffen. – Ein oder zwei Jahre später, ich hatte mittlerweile Komparatistik zu studieren begonnen, bot Christine Ivanovic ein Seminar an, in dem es, kurz gesagt, darum ging, Orte im literarischen Werk Aichingers digital zu erfassen. Einige der Studierenden haben sich auch abseits dieser Veranstaltung getroffen und, sozusagen als Konsequenz der Unfassbarkeit von Aichingers Orten, das Ilse-Aichinger-Haus gegründet. Die Diskussionen, unter anderem darüber, wie einer Musealisierung von Literatur widerstanden werden kann, sind zu einem fundamentalen Teil des Hauses geworden. Erst kürzlich haben wir deshalb auch im Rahmen der derzeit monatlich stattfindenden, offenen Fensterlektüren Aichingers Boden unter unseren Füßen gelesen. In diesem Text ist der Boden, auf dem wir stehen, unsicher, erscheint ohne Gewähr. Es ist gar nicht so leicht, ein Haus ohne Mauern zu bauen.

 

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, sich auf die Suche nach Aichingers verstreuten Publikationen zu machen, und wie sah die Suche nach diesen über hundert weitgehend unbekannten Texten aus?

Es war nicht wirklich eine Idee; es entstand vielmehr aus einer Notwendigkeit. Im vorher erwähnten Seminar tauchte bald die methodische Frage nach dem Gegenstand der Untersuchung auf: Welche Texte von Aichinger schauen wir uns eigentlich an? Nur die Texte der Werkausgabe zu nehmen, hätte vieles, was besonders wertvoll für unsere Fragestellung gewesen wäre, ausgeschlossen: zum Beispiel die in den 1950er Jahren veröffentlichten Prosagedichte zu Wiener Orten, die später als Kurzschlüsse gesammelt publiziert wurden. Zunächst war es also notwendig, einen Überblick zu schaffen, welche Texte von Aichinger überhaupt vorliegen. Schon bei meinen ersten Recherchen bin ich auf einige Publikationen gestoßen, die in den bisherigen Bibliographien nicht verzeichnet waren. Daraus entstand, sozusagen aus einer einfachen Anfangsfrage, ein eigenes Projekt. Dank eines Stipendiums des Forschungsverbundes Marbach Weimar Wolfenbüttel konnte ich längere und umfassendere Recherchen anstellen, und es entstand das Digitale Ilse Aichinger Literaturverzeichnis, das den etwas wahnsinnigen Anspruch hat, alle Publikationen Aichingers bibliographisch aufzulisten – ein unabschließbares Unterfangen. Dafür war ich großteils in Marbach (Literaturarchiv), aber auch in Innsbruck (Zeitungsarchiv) und Wien (Literaturhaus). Neben den klassischen Wegen der Recherche – unter anderem über Bibliographien von Bibliographien und Bibliographien von Bibliographien von Bibliographien – habe ich erstaunlich viel im Internet finden können; vor allem in den breit angelegten Retrodigitalisierungsprojekten. Eine sehr strenge Suchmethode hatte ich dabei nie. Eher bin ich noch immer auf der Suche danach, wie ich eigentlich suchen könnte.

 

Was war der für Sie überraschendste Fund?

Was ist eine »Überraschung«? Radikal gedacht hat mich jeder Text überrascht – denn mit keinem hätte ich rechnen können, und manche der Texte überraschen noch immer, immer wieder. Verwundert war ich, dass der Text Reise nach England noch ziemlich unbekannt war. Christine Ivanovic und Thomas Wild haben erst kürzlich die, soweit ich weiß, ersten Lektüren dieses wichtigen Textes vorgelegt. Aber »überrascht«?

Unter dem Lemma »Überraschung« ist im Grimm‘schen Wörterbuch die »angenehme überraschung« eine Ausnahme; die Bedeutung bezieht sich dort überwiegend auf den »feindlichen überfall«. Als Herausgeber der Texte Aichingers muss ich bei dem Wort Überraschung auch an dessen ›böse‹ Bedeutung denken. In dem Reisebericht, wenn es denn einer ist, verwendet Aichinger nämlich ein Wort, das ich nicht verwenden würde, und ich habe mich längere Zeit damit beschäftigt, auch einen Kommentar dazu geschrieben, den ich dann nicht in das Buch aufgenommen habe, aber ich habe lange Zeit gehadert, wie ich damit umgehen soll. Es ist nicht der einzige Text, in dem sie dieses Wort benutzt. Wenn Thomas Wild über eine »Poetik unbedingter Gastfreundschaft« in Aichingers Schreiben nachdenkt – und damit eben jene Geste meint, auch die »Fremdsprache« in ihre Texte einzulassen, mit allen Konsequenzen, wie er schreibt –, dann muss gerade auch über diese, nicht erst heute als verletzend anerkannten Wörter nachgedacht werden. Ich meine damit zum Beispiel das »N-Wort«. – Aichinger lässt in einigen wenigen Fällen solche Wörter in ihre Texte ein, doch heißt das nicht, dass sie diese nur in ihrer gesellschaftlich normierten Bedeutung belässt. Wenn sie in Schattenspiele (2004) das Lied der »zehn kleinen Negerlein« in Bezug auf die acht Londoner Kinder auf dem Foto von Bill Brandt zitiert, dann höre ich darin keine Herabwürdigung, sondern die Befürchtung, dass sie »in dem Augenblick, auf den es ankommt«, verschwunden sein werden. Andererseits: Was macht der Begriff in Reise nach England aus dem Jahr 1949? – Man könnte viel mehr darüber sprechen, auch über andere Texte Aichingers (insbesondere Wisconsin und Apfelreis), und es sollten vielleicht nicht nur weiße Mitteleuropäer (wie ich) darüber sprechen.

 

»Niemand kann von mir verlangen, daß ich Zusammenhänge herstelle, solange sie vermeidbar sind«, schreibt Ilse Aichinger in ihrem Buch »Schlechte Wörter«. Sie wäre deshalb wahrscheinlich mit einer Sammlung »verstreuter« Publikationen sehr einverstanden gewesen. Dennoch die Frage an Sie: Gibst es so etwas wie Leitmotive, die sich durch das Buch ziehen? Oder gibt es so etwas wie eine »Haltung« Aichingers, die diese so unterschiedlichen Texte aus sechs Jahrzehnten miteinander verbindet?

Lange Zeit war das leitende Motto des Projekts eine Stelle aus dem Hörspiel Knöpfe. Darin verschwinden Tag für Tag Frauen, die in einer Knopffabrik arbeiten. Statt ihrer tauchen Knöpfe auf, die über die ganze Welt verstreut werden. Ann, die in der Knopffabrik arbeitet, will sie deshalb sammeln: »Und in unseren Händen wärmen, ehe sie verstreut sind. […] Vielleicht, daß dann der Berg hier, der so leuchtet, wie Tomaten nie leuchten würden, verschwindet und Jean wieder am Fenster lehnt«, heißt es dort. – Auch ein Literaturverzeichnis ähnelt einem solchen unwirklichen Berg: Es sind dort nur Referenzen auf Texte, aber nicht die Texte selbst zu finden. Wer sie lesen wollte, müsste sie sich teilweise recht mühsam beschaffen. Der Band Aufruf zum Mißtrauen folgt in gewisser, vielleicht naiver Weise der Idee, dass sie durch die Versammlung wieder gelesen werden können. Jede Leserin und jeder Leser wird dabei den einen oder anderen, je eigenen Faden finden können, der sich durch mehrere Texte zieht. So ähnlich, wie es Aichinger in ihrem Brief an eine Schulklasse beschrieben hat, der in dem Buch abgedruckt ist: Lesen als ein Übersetzen in die jeweils eigenen Fragen. Für mich ist einer dieser Fäden blutrot und im Subtext nahezu immer präsent: die Erinnerung an die ›verschwundenen‹ Freunde, Verwandten und Bekannten. Diese Erinnerung geschieht nicht als eine passive Rückblende, sondern steht inmitten der konkreten Gegenwart. Hier wird für mich die eminent politisch denkende und schreibende Ilse Aichinger deutlich, die das tagespolitische Geschehen ganz offenbar stets wachsam verfolgt hat.

 

Ilse Aichinger wird nicht zufällig von vielen Schriftsteller*innen der Gegenwart sehr geschätzt. Was macht für Sie die Gegenwärtigkeit Ilse Aichingers aus?

Neben Aichingers sprachlich assoziativen und historisch informierten Welten, ihren scharfen und präzise formulierten Gedanken würde ich jetzt nur einen Aspekt hervorheben wollen. Ich habe vorher das Wort »tagespolitisch« verwendet. Ich müsste es wohl zurücknehmen oder einklammern. Aichingers Stellungnahmen sind auf eine Weise gedacht und geschrieben, die sie über den einzelnen Tag heben und für andere Zeiten, andere Orte oder Situationen öffnen. Konkret denke ich da zum Beispiel an ihren Artikel aus dem Jahr 1992, den sie gegen die damaligen Angriffe auf Salman Rushdie geschrieben und dabei an das Schicksal ihrer Freunde, Verwandte und Bekannte erinnert hat. Sie gedenkt des Vergangenen darin nicht um des Erinnerns willen, sondern bedenkt das Gewesene mit Blick auf die Gegenwart. Der letzte Satz des Artikels lautet: »Wir sind nicht Salman Rushdies Kollegen. Wir sind Salman Rushdie.« Wenn die Redefreiheit eines einzelnen angegriffen wird, sind wir alle davon betroffen. Der Satz erinnert mich jedes Mal wieder an das Jahr 2015, wo in vielen verschiedenen Variationen gerufen wurde: »Je suis Charlie«. Vielleicht gibt es Momente der Anknüpfbarkeit an Aichinger, wo man sie sich nicht erwarten würde.

Die verstreuten Publikationen Ilse Aichingers

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