Liebe María Cecilia Barbetta, Dein erster Roman, »Änderungsschneiderei Los Milagros«, erzählte die Geschichte zweier junger Frauen in Argentinien, in Buenos Aires, die sich in eben dieser wundersamen Änderungsschneiderei begegnen. Wie erinnerst Du Dich heute an diesen Roman zurück?
Ich habe den Eindruck, dass der Kosmos rund um mein Debüt ziemlich weit weg von der heutigen Autorin liegt – jemandem, der ich zugegebenermaßen nicht geworden wäre, hätte ich dem damaligen Schreibimpuls nicht nachgegeben, der meinem Leben schließlich eine ungeahnte Kehrtwende verlieh.
Dein neuer Roman, »Nachtleuchten«, spielt gleichfalls in Buenos Aires, in dem Viertel Ballester, in dem Du aufgewachsen bist. Auch wenn Du Argentinien vor über 20 Jahren verlassen hast und seither in Berlin lebst, ist Dein Schreiben weiterhin dort beheimatet?
In der Tat, aber das ist bloß die eine Seite der Wahrheit, denn das Gefühl des Dort-beheimatet-Seins geht mit dem Einsetzen der deutschen Sprache einher, so dass Nähe und Distanz sich abwechseln und Kategorien wie das Eigene und das Fremde permanent verwischt werden. Wenn wir das Cover von »Nachtleuchten« als Ausgangspunkt der Reise nehmen, ist dieses Stadtviertel namens Ballester zunächst nur ein Ausschnitt auf einem Stadtplan, nichts als eine Oberfläche, aus der Vogelperspektive betrachtet: ein Muster aus Straßen, die sich kreuzen und parallel verlaufen, nichtssagende Wege, die erst beim Aufschlagen des Buches mit der deutschen Sprache als Vehikel befahrbar und dadurch lebendig werden.
Der Titel »Nachtleuchten« wirkt auf den ersten Blick rätselhaft. Was bedeutet er?
Das freut mich. Wenn es so ist, würde ich ihn ungern seiner rätselhaften Natur berauben. Ich verlasse mich stattdessen lieber auf die Leserin oder den Leser, auf die Komplizen eines jeden Autors, wie Julio Cortázar die Weggefährten nennt, die sich auf das Abenteuer der Lektüre einlassen, um das Mysterium, das der Literatur innewohnt, auf die Spur zu kommen.
Die Figuren, die wir in Deinem Roman kennenlernen, sind liebenswert und manchmal ein wenig skurril, wir schließen sie sofort ins Herz. Da ist Teresa, die eine fluoreszierende Plastikmadonna von Tür zu Tür trägt, es gibt die Männer der Autowerkstatt, die auf das große Los hoffen, den Friseur Celio und seine etwas sonderbare Mutter, die seit den vierziger Jahren Evita verehrt, und viele mehr. Wie sind diese Charaktere entstanden?
Ich finde sie nicht so skurril. Sie sind eigen, wie alle Menschen übrigens, sobald man sie näher kennenlernt. Für einige wenige dieser Charaktere gab es eine Entsprechung in der Wirklichkeit. Besser gesagt: Es gab eine Anekdote oder wach gebliebene Erinnerung aus meiner Kindheit oder Jugend, die darauf wartete, mithilfe einer lebhaften Phantasie ausgeschmückt zu werden. Es gab ein Gefühl, das sich intensivieren, einen geliebten Toten, der sich reanimieren ließ, um der Fiktion, die mir vorschwebte, Gestalt zu verleihen. Und da ich mein Argentinienleben überwiegend in Ballester verbracht habe, gab es eine große Sehnsucht als Motor des Ganzen.
Der Roman ist Deinen Großeltern gewidmet. Aber »Nachtleuchten« ist kein Familienroman. Oder in gewisser Weise doch?
Nein, ist er nicht. Es mag vielleicht seltsam anmuten, aber ich glaube, Nachleuchten ist in erster Linie ein Liebesroman – nicht im klassischen Sinne, obwohl die Handlung ohne Liebesgeschichten nicht auskommt. »Nachtleuchten« ist eine Liebeserklärung an all die Figuren, die darin vorkommen; es sind die einfachen Leute, eine bunte Nachbarschaft, der Priester, die progressive Nonne, der Zeitungsverkäufer, die Katzenliebhaberin, der Bäcker, der Friseur, die Tratschtante, ein bestimmtes Milieu, das ich gut kenne und in dem es den großen Helden nicht gibt. Mein Großvater war genauso wie Julio El Haddad im Roman Automechaniker. Deshalb ist die Männerwelt, um die der zweite Teil des Romans kreist, mir bestens vertraut. Der Liebesroman, der »Nachtleuchten« im Laufe der Jahre geworden ist, ist auch ein Lebensroman. Das ist keine literaturwissenschaftliche Kategorie, ist mir klar, aber vielleicht deshalb passt sie besonders gut in diesem Kontext. Die fiktiven Charaktere, die meinen Roman bevölkern, zeichnen sich dadurch aus, dass sie trotz der widrigen Umstände das Leben achten und lieben.
Was war für Dich der Auslöser, diesen Roman zu schreiben?
Als bekennende Liebhaberin der phantastischen Literatur wollte ich eine Geschichte erfinden und sie in eine Epoche der jüngsten argentinischen Historie einbinden, die ich, müsste ich sie mit einem Schlagwort versehen, als die Zeit bezeichnen würde, in der ›die Magie an der Macht‹ war. Mit Hilfe der Fiktion wollte ich die andere Seite des Magischen, sein dunkles Pendant, beleuchten. Der Roman ist die Momentaufnahme eines Landes, das von aufkeimenden Ängsten und Ahnungen geprägt wird und sich im Spannungsfeld zwischen Aberglauben, religiösen Werten und politischem Chaos befindet.
Der Roman spielt 1974/1975, am Vorabend der Militärdiktatur. Du erzählst davon, wie sich das Leben der Menschen in Ballester schleichend verändert. Kannst Du die besondere Atmosphäre dieser Zeit beschreiben?
Als der Roman einsetzt, ist der legendäre Juan Domingo Perón Staatsoberhaupt. Nach seinem Tod im zweiten Teil wird seine dritte Gattin, die in Deutschland weniger bekannte María Estela Martínez, Präsidentin. Es ist eine Periode, in der sich die Kämpfe zwischen dem rechten und linken Flügel des Peronismus verschärfen und paramilitärische Truppen auf Hexenjagd gehen. In der Innenstadt soll eine monumentale Grabstätte errichtet werden. Darin soll auch die einbalsamierte Leiche von Evita, Peróns zweiter Ehefrau, aufgebahrt werden, die die Putschisten von 1955 aus Angst vor ihrer auratischen Wirkung von der Bildfläche hatten verschwinden lassen und die nach einer knappen zwanzigjährigen Odyssee wieder in die Heimat zurückkehrt. Die neue Präsidentin, ambitioniert, doch der politischen Verantwortung nicht gewachsen, glaubt auf eine gefährliche Art und Weise, eine zweite Evita verkörpern zu können. Als überzeugte Spiritistin ist die Witwe von Juan Domingo Perón ein leichtes Opfer für einen skrupellosen Minister, der dem Okkultismus anhängt. Soviel zum historischen Hintergrund, vor dem die Geschichten in »Nachtleuchten« gedeihen und woraus sie sich speisen. Im Buch fungiert das überschaubare Stadtviertel Ballester als Brennglas des politischen Geschehens im Lande. Die besondere Atmosphäre, nach der Du fragst und worauf es mir ankam, ist im Roman und nur dort am besten eingefangen. Vielleicht hilft dieses Bild: Sie ist der Fisch im Wasser. Die Atmosphäre braucht den Erzählstrom, um sich zu entfalten. Es ging mir von Anbeginn an nicht um die tradierten Polaritäten, nicht um die Gegensätze des Guten und Bösen, nicht um die größten Helden und auch nicht um die größten Verbrecher der argentinischen Geschichte, sondern um die leisen Zwischentöne und die subtilen Verschiebungen. Um sie hörbar und spürbar werden zu lassen, habe ich mir Zeit genommen. Ich meine nicht die kurze Zeitspanne, in der der Roman spielt, sondern die vielen Jahre, die vergehen mussten, bis ich den Eindruck hatte, jetzt habe ich die Stimme und die Form gefunden, um über eine Zeit des Übergangs zu fabulieren, in der Ängste schleichend zur Normalität werden, um Dinge zwischen den Zeilen sichtbar werden zu lassen, die sich anders nicht gezeigt hätten und auch so schwer fassbar bleiben.
Ist der Roman für Dich eher ein historischer, oder wirken die Ereignisse der damaligen Zeit bis in die Gegenwart nach?
»Nachtleuchten« ist kein historischer Roman. Es ist eine fiktive Geschichte innerhalb eines historischen Rahmens; die Fakten aber sind Teil eines Kontinuums, Bestandteil der großen Geschichte, in der sich wiederum unser Leben abspielt.
Du hast einmal gesagt: »Es geht beim Erzählen in erster Linie darum, sich über Verbote hinwegzusetzen. Man muss zurückblicken, sich auf dem Weg immer wieder umschauen, nach den Geistern und den Toten, die sich in die Geschichte eines jeden Landes eingeschrieben haben. Nur dann lassen sie sich mit etwas Glück wieder ins Leben führen.« Geht es darum vor allem in Deinem Roman, die Verschwundenen im Erzählen wieder aufscheinen zu lassen?
Ich habe das in bezug auf die mythologische Figur des Orpheus gesagt, den Dichter und Sänger, der in die Unterwelt steigt, um die Nymphe Eurydike zu befreien, und dem untersagt wird, sich nach der Geliebten umzusehen. Mir erscheint aber genau das Übertreten dieses Verbots nicht nur richtig, sondern lebenswichtig. Der Blick zurück. Die Verschwundenen, die Desaparecidos, von denen du sprichst, sind in meinem Roman subkutan präsent, wie es nicht anders sein konnte, denn sie sind strenggenommen das tragische Resultat von dem, was noch kommen würde, die Opfer der darauffolgenden siebenjährigen Militärdiktatur, des barbarischen Regimes, das zwischen 1976 und 1983 in Argentinien wütete. In dieser finsteren Zeit brachte mein Land, das El Dorado der phantastischen Literatur, die schlimmsten Gespenster hervor, echte Ruhelose und Umherirrende, Verschleppte bei Nacht und Nebel, die nicht aufgetauchten Kinder und Enkelkinder, die von den Müttern und Großmüttern auf der Plaza de Mayo bis heute lebendig heraufbeschworen werden, Tote ohne Grab und ohne Datum, Betäubte, die aus Militärflugzeugen in den Río de la Plata geworfen wurden, Fantasmas aus Fleisch und Blut, die sich in die Seele eines ganzen Landes einschrieben. Dieses Panorama ist in »Nachtleuchten« präfiguriert. Doch mir ging es in erster Linie darum, eine andere Art von Verschwinden zum Thema zu machen. Ich wollte die Sprache ernst nehmen. Ich wollte ihre Grenzen austesten. Ich wollte mit den Mitteln, die die Sprache mir zur Verfügung stellt, in die Zeit zurückgehen. Ich wollte verschüttete Dinge, Orte, Menschen vor meinem geistigen Auge wieder lebendig machen und ihnen im wahrsten Sinne des Wortes Leben einhauchen. Schreiben als einen magischen Akt, der mir erlauben würde, die Vergangenheit auferstehen zu lassen und dabei Erfahrungen, die mir die Zeitläufte entrissen hatten, unter die Lupe zu nehmen. Auf diesem, meinem Weg hat mich lange die Frage beschäftigt: Darf ich ein Buch schreiben, das am Vorabend der Militärdiktatur spielt, auch wenn ich die Verschwundenen, die in Argentinien eine zentrale Rolle im politischen Diskurs einnehmen, nicht ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücke? Bin ich berechtigt, mich des gewichtigen Themenfeldes zu bemächtigen, auch wenn es in meinem Bekanntenkreis keine Desaparecidos gab? Das Wort Autozensur taucht nicht umsonst in »Nachtleuchten« auf, denn sie war eins meiner schlimmsten Phantasmen, bis ich verstanden habe, dass ich alles darf, weil Literatur, so wie ich sie verstehen möchte, in erster Linie Freiheit bedeutet, Freiheit großgeschrieben, würde Álvaro Fatini sagen, gäbe es diese Romanfigur wirklich. Erst nachdem dieser innere Kampf ausgefochten war, konnte ich das tun, was mir von Anbeginn an vorschwebte: Dank der Macht der Sprache den Versuch unternehmen, Figuren zu beatmen, die jenseits der blutigen Auseinandersetzungen ihre unspektakulären Alltagskämpfe bestreiten und im zunehmend schwer Lebbaren ein ehrbares Leben führen.
Hast Du beim Schreiben das deutsche Publikum vor Augen gehabt? Hättest Du den Roman für argentinische Leser anders geschrieben?
Nicht das deutsche Publikum, sondern die deutsche Sprache – ihre Grenzen, vor allem aber ihre unendlichen Freiheiten, ihre spielerische Leichtigkeit, um mich an den Stellen, an denen es eng, schwierig oder schmerzhaft wurde, von ihr tragen zu lassen.
Du schreibst auf Deutsch. Hättest Du den Roman auf Spanisch anders geschrieben?
Auf Spanisch hätte ich den Roman gar nicht geschrieben. Nur so, wie er da liegt und darauf wartet, in die Freiheit entlassen, das heißt, gelesen zu werden.
Welche Rolle spielt die Kunst für Deine Bücher? In der »Änderungsschneiderei Los Milagros« wirken der Text und die zahlreichen Bilder zusammen. In »Nachtleuchten« gibt es ein paar Abbildungen, einige Kunstwerke werden erzählend eingeflochten, und im Hintergrund sind Künstler, Marcel Duchamp beispielsweise, sehr präsent.
Dreiunddreißig. Die Zahl ist im Roman magisch konnotiert. Ich wollte dreiunddreißig Bilder einbeziehen, aber dann habe ich das Konzept verworfen. Geblieben ist bloß die Erinnerung daran. Geblieben sind Anklänge an Bilder, Filme und Kunstwerke. Wer sucht, der findet: einen mehr oder weniger gut versteckten René Magritte, einen Federico Fellini, einen Joseph Beuys, einen André Breton, einen Julio Cortázar, einen Samuel Beckett, einen Julio Jaramillo, einen Luc-Olivier Merson, einen David Lynch und eine Rebekah del Río, um nur einige der Künstler aus den unterschiedlichen Sparten zu nennen, die im Text aufleuchten. Manche Referenzen sind offensichtlich, weil sie kursiv gesetzt sind, andere sind als Idee in der Geschichte eingeflochten, im Erzählkorpus eingegangen bzw. darin verschwunden; andere Namen wie Sigmar Polke und Jonathan Monk geistern in Form von Assoziationsketten in meinem Kopf herum, wenn ich den Text laut vorlese oder im Sinne von John Cage schweige. Denn Leerstellen gibt es in »Nachtleuchten« zuhauf. Was Marcel Duchamp betrifft, bin ich überzeugt, keiner, der den Roman liest, würde je auf ihn kommen, wenn er nicht wüsste, dass ich ihn verehre. Von dem Macher des Großen Glases, dem Theoretiker und Verfechter des Inframince, leihe ich mir den Begriff der vierten Dimension, um den letzten Teil des Buches zu benennen, der ursprünglich der Eintritt in die Bilderwelt jenseits des Geschriebenen hätte sein sollen.
Du hast viele Jahre an diesem Roman gearbeitet. Was war das Schwerste und was das Schönste in dieser Zeit des Schreibens?
Das Schwerste war, die eigenen Vorbehalte über Bord zu werfen. Das Schönste war der Moment, in dem die Erkenntnis und das befreiende Gefühl in mir aufkeimten, dass es vollbracht ist.
Das Gespräch führte Petra Gropp