Das Café Gagarin ist in Prenzlauer Berg. Ich bin zehn Minuten zu früh und setze mich an einen Platz am Fenster. Gerade als ich mein Notizbuch aus der Tasche hole, öffnet sich die Tür des Cafés und Marion Brasch kommt lächelnd auf mich zu. Wir bestellen Kaffee und reden über ihren Roman »Lieber Woanders«.
Deine Geschichte ist auf eine besondere Art und Weise erzählt. Zwei Perspektiven, zwei Figuren: Der personale Erzähler hüpft von Alex zu Toni und wieder zurück. War das eine bewusste Entscheidung gegen eine »einseitige« Erzählung? Und stellst du damit die These auf, dass jede Geschichte mehr als eine Seite hat?
Das mit den zwei Perspektiven ist einfach so passiert. Ich wusste, es gibt diese zwei Menschen, die sich schon mal begegnet sind und sie werden wieder aufeinandertreffen, so wie es am Anfang des Romans vom Erzähler schon angedeutet wird. Alles Weitere geschah dann im Schreibprozess.
Also hast du erst die eine Perspektive niedergeschrieben und dann die zweite?
Nein, ich habe den Text chronologisch geschrieben. Das ging für mich gar nicht anders. Ich wollte mit den beiden immer »auf Augenhöhe bleiben« und trotzdem der Chef sein, wenn ich beginne, mich zu langweilen.
In »Lieber Woanders« gibt es Passagen, die sich direkt an den Leser richten. Das ist eine besondere Form – wie kam es dazu?
Ich hatte Spaß daran, die Linie zwischen Fiktion und Realität verschwimmen zu lassen. Im Theater oder im Film spricht man von der Vierten Wand, die durchbrochen wird – das fand ich toll, um die Handlung um eine Ebene zu erweitern und den Leser in gewisser Weise auch zum Komplizen zu machen.
Alex ist fasziniert von der Idee von Paralleluniversen und dass es einen »selbst in unendlich vielen Varianten« gibt. Er stellt auch für sich fest, dass dieses Wissen nur etwas nützte, wenn man sich selbst besuchen könnte. Würdest du gerne eine andere Variante von dir kennenlernen?
Ja, diese Theorie wird von der Wissenschaft ernsthaft diskutiert, und der Gedanke, dass es unendlich viele Paralleluniversen gibt und somit auch Universen, die ähnlich sind, wie das unsere, ist doch wirklich faszinierend. Die genauen physikalischen Voraussetzungen kenne ich nicht, aber es ist spannend, mit dem Gedanken zu spielen. Also ja, wenn es die Möglichkeit gäbe, würde ich eine andere Variante von mir durchaus mal kennenlernen wollen.
Ein weiteres Konzept, mit dem Alex sich beschäftigt, ist das Konzept der Zeit. Er sagt: »Die Zeit liegt doch gewissermaßen in der Natur« (S.140). Stimmst du dem zu?
Im Roman spricht Alex an der Stelle mit einem Mann, der diese Aussage sofort und auch ein wenig amüsiert hinterfragt. Das, was wir Zeit nennen, ist eine Kategorie, die wir erfunden haben, um uns zurechtzufinden, sie ist also »menschengemacht«. Und wie wir Zeit empfinden, ist auch immer subjektiv. Eine Minute kann sich wie Stunden anfühlen, Tage oder Wochen können nur so vorbeirauschen. Auch faszinierend. Und das Schöne an Literatur ist ja, dass man solche Ideen, Fragen und Möglichkeiten in den Raum werfen kann, ohne eine Antwort darauf zu geben zu müssen.
Wie ist für dich das Verhältnis zwischen Zufall und Schuld?
Ich weiß nicht, ob es da ein messbares Verhältnis gibt. Dinge passieren. Mal spielt der Zufall eine Rolle, mal werden sie selbst herbeigeführt. Und hinterher sucht man nach Erklärungen oder spielt den Konjunktiv durch. Aber: »Hätte hätte Fahrradkette«. Natürlich spielt Kausalität eine große Rolle, alles hängt mit allem zusammen, aber der Zufall entschuldigt Schuld nicht unbedingt. Und aus Zufall wird eben oft Schicksal. Interessant finde ich, dass Schicksal meist negativ konnotiert ist: Wir sprechen vom »Schicksalsschlag«, wenn etwas Schlimmes geschieht. Und passiert etwas Schönes, ist es ein »glücklicher Zufall«. Da ist die deutsche Sprache schon sehr besonders.
Wärst du manchmal gerne »Lieber Woanders«?
Das ist lustig, der Titel kommt gar nicht von mir. Mein Lektor Roland Spahr hat ihn vorgeschlagen, weil diese Worte bei beiden Figuren in sehr unterschiedlichen Situationen eine Rolle spielen. Sie beschreiben einen Zustand, aus dem sich Toni und Alex herauswünschen. Das Gefühl kennt vermutlich jeder, ich auch. Und es ist nicht unbedingt an einen Ort gebunden. Als wir den Titel gefunden hatten, erinnerte ich mich sofort an ein Gedicht meines Bruders Thomas, der diesen Zustand so unglaublich schön in einem Gedicht beschreibt:
Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber
wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
wo ich sterbe, da will ich nicht hin
bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.
Zum Schluss eine Frage in eigener Sache: Was hörst du gerade?
Ich höre in der Regel das, worüber ich gerade schreibe oder recherchiere. Im Moment ist es die Platte »Room 29« von Chilly Gonzales und Jarvis Cocker.
Das Gespräch führte Sophie Priester.