Was steckt hinter Ihrer Hauptfigur Paul Goullet?
Der Name Goullet kommt aus meiner Familie. Ein Teil meiner Familie väterlicherseits heißt Goullet. Die kamen vor Jahrhunderten aus Frankreich und diese Linie ist dann ausgestorben, die gibt’s nicht mehr. Ich hatte einen Patenonkel, der lebte von 1878-1964 in Stuttgart und war Richter und Dichter. Ihm, an den ich mich noch sehr lebhaft erinnere, ist dieses Buch auch gewidmet. Er hat für seine lyrischen Ergüsse das Pseudonym Paul Goullet genommen. Und deswegen war dieser Name mir irgendwie immer im Kopf, weil er so exotisch war und so Französisch. Als ich dann anfing, dieses Buch zu schreiben und mir überlegt habe, wie verorte ich den, wo lebt er, in welcher Zeit lebt er, wie heißt er, habe ich mir sofort gedacht: der muss Paul Goullet heißen. Und darüber wanderten meine Gedanken zu diesem kleinen Haus meiner Großeltern, eine alte Villa von Efeu umrankt, in der ich meine Kindheit verbrachte. Und dann kam eine Zutat zur anderen und irgendwann hat sich dann diese Figur im Jahre 2033 Stück für Stück ergeben, wurde dann immer plastischer und irgendwann fing sie an zu laufen. Das ergab sich aber alles, ich hatte nichts geplant. Das baute sich irgendwie so automatisch aus Erinnerungen zusammen und wurde dann dieser junge Mann, der in der nahen Zukunft groß wird, in einer Welt, die er nicht versteht, mit der er hadert und er findet sich selbst nicht, findet sich auch in der Familie nicht. Er sieht auch, dass seine Familie ganz anders aussieht als er. Er ist fremd, in einer Welt, die er nicht begreift. Und irgendwann macht er sich auf die Suche nach sich selbst. Er entdeckt im verschlossenen Arbeitszimmer seines toten Großvaters, der eine große Rolle in diesem Roman spielt, verschiedene verstörende Fotografien, Bilder und Zeichnungen, unter anderem das Replikat eines Gemäldes von Gustave Courbets »Der Ursprung der Welt« und glaubt in diesem nackten Frauentorso den Körper seiner Mutter zu erkennen, die aber schon verschwand, als er sechs Jahre alt war, und er weiß auch nicht, was aus ihr geworden ist, weil alle schweigen. Er kriegt dann irgendwann raus, dass die Mutter sich mit Schlaftabletten umgebracht hat, da war er sechs. Und jetzt will er das Original dieses Bildes sehen und reist nach Frankreich, im Jahr 2033, um im Musée D’Orsay dieses Bild zu sehen. Und damit begibt er sich auf die Spur seiner Familie und seiner selbst. Auf einem Flohmarkt in Paris findet er ein Fotoalbum, das ihn selber zeigt, dutzendfach, das aus den 1920ern stammt und dann geht eine Geschichte los, die in den Abgrund der Geschichte seiner Familie führt und letztendlich in Südfrankreich endet.
Ein sehr prägnanter Satz im Roman ist: »Nichts war in Ordnung, Goullet verstand die Welt weniger denn je.« Haben Sie das Gefühl, dass Sie den Zeitgeist beschreiben? Ein Gefühl, das schon jetzt und nicht erst 2033 real ist?
Es ist ja nichts anderes als eine bedrängende Gegenwart. Ich schaue mir an, was jetzt passiert. Wenn man das dann noch ein bisschen weiterspinnt und sich die Zukunft vorstellt: Was könnte denn dann sein? Das kann auch alles anders laufen und ich hoffe auch, dass es anders läuft, aber ich habe die Befürchtung, dass es noch wesentlich schlechter sein wird, als ich es mir jetzt vorstelle. Es ist das Unbehagen, das viele von uns spüren, in einer Welt, die wir immer weniger verstehen. Die virtuellen Welten werden immer stärker, die sozialen Netzwerke. Es baut sich eine Welt der Künstlichkeit auf, die im Wesentlichen nicht nur dazu gedacht ist, dass die Kommunikation besser und leichter ist, sondern uns seelisch und vor allen Dingen finanziell auszuräumen. Und es sind lauter solche Dinge, die ich unangenehm finde. Und dieser junge Mann auch. Dazu kommt in der Zukunft noch etwas, das sich ja jetzt schon andeutet: Es ergeben sich unglaubliche Kontroll- und Durchleuchtungsmöglichkeiten, die jetzt anfangen wirkungsmächtig zu werden, die sich aber in der Zukunft natürlich exponentiell verstärken werden. Und wir müssen wirklich aufpassen, dass das Buch »1984« von Orwell nicht eine Biedermeier-Lektüre war, die von der Wirklichkeit bei weitem in den Schatten gestellt wird. Diese Ängste und Gefühle hab ich versucht in einem Buch zu beschreiben, das eigentlich modern ist, eigentlich unsere Welt beschreibt und eher die Sehnsucht nach einer heilen Welt ausdrückt, von der Goullet vermutet, dass sie in der Vergangenheit liegt, als noch alles überschaubarer war. Aber auch bei diesem Gang nach hinten muss er feststellen, dass alles Abgrund ist. Dass er auf keinem sicheren Grund läuft, weil der nicht da ist. Unsere Existenz ist extrem zerbrechlich und extrem bedroht, und das war sie schon immer.
Ein weiteres Zitat aus Ihrem Buch lautet: »Der Traum ist kein abseitiger Spuk, sondern die eigentliche Wirklichkeit.« Träume und Visionen sind in die Erzählung eingebettet. Wie meinen Sie das: Ist der Traum die eigentliche Wirklichkeit?
Ich lebe ganz stark in meinen Phantasien und diesen Welten, die ich mir zusammenbaue, in dem ich bestimmte Dinge der Wirklichkeit ignoriere und umgehe. Eine ganz andere Welt, in der ich mich viel wohler fühle, sind meine Träume, und das wird auch meine Wirklichkeit, so wie auch diese virtuellen Welten, diese versetzen Wirklichkeiten, ja auch auf einmal für viele Menschen viel wirklicher sind, als die Wirklichkeit von damals, die wir mit unseren eigenen Augen sehen und mit unseren Händen greifen können. Meine Träume sind für mich viel realer als diese sogenannte »Wirklichkeit«, die wir haben; das ist ganz stark. Das Buch ist der Versuch, eine Handlung auszuträumen. Eine Geschichte aus Erinnerungen, faktischen Handlungen und Visionen zusammenzusetzen. Es gibt dieses berühmte Shakespeare Zitat aus »The Tempest« (Der Sturm): »Our revels now are ended. These our actors, as I fortold you, were all spirits and are melted into air, into thin air. (...) And, like this insubstantial pageant faded, leave not a rack behind. We are such stuff as dreams are made on, and our little life is rounded with a sleep.« Es umgibt alles ein Schlaf. In der Mitte ist irgendetwas, wie wenn man kurz aufwacht, die Augen aufmacht und man erblickt etwas, das man nicht so ganz versteht, um dann wieder zurückzusinken in den Schlaf. Ich kann nicht genau sagen, was ich damit meine, es ist etwas, das größer ist, das sich vielleicht nicht in Worte fassen lässt, aber wir sind viel tiefer als wir glauben. Wir kommen aus ganz anderen Dimensionen und schwirren auch in ganz andere wieder ab und was wir jetzt hier auf dieser Erde erleben ist sehr merkwürdig. Das ist auch wunderbar, es ist ein Wunder und auch schön, aber es ist auch sehr zerbrechlich und sehr kurzlebig und dann ist es vorbei, wie wenn es nie gewesen wäre. Warum? Keine Ahnung.