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Interview mit Emmanuelle Pirotte

Autorin Emmanuelle Pirotte
© Patrice NORMAND / Opale / Leemage / laif

Isabel Kupski: Sie sind Drehbuchautorin, »Heute leben wir« ist Ihr erster Roman. War der Schritt zum Romanschreiben ein schwieriger?

Emmanuelle Pirotte: Das war eine ganz neues Abenteuer. Sehr befreiend für mich. Beim Drehbuchschreiben ist man an eine feste erzählerische Form gebunden, die sehr rigide ist. Der Roman bietet viel mehr erzählerische Möglichkeiten, als Romanautor fühlt man sich viel freier. Es ist viel einfacher, sich in die Psyche der Figuren hineinzudenken, und man kann leichter die Erzählperspektive wechseln. Im Film muss das Seelenleben der Figuren über die Aktion erklärt werden.

Isabel Kupski: Sie haben zunächst das Drehbuch »Heute leben wir« geschrieben, und erst danach den Roman, hatten Sie überhaupt geplant, einen Roman zu schrieben?

Emmanuelle Pirotte: Nein, daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Ich schreibe seit Jahren Drehbücher (»Heute leben wir« zusammen mit meinem Mann Sylvestre Sbille), und ich habe mich nie als Romanautorin verstanden. Aber die Tatsache, dass ein Film sehr viel Zeit braucht, bis er endlich realisiert ist, brachte mich dazu, daraus einen Roman zu machen. Ich wollte diese Geschichte zum Leben erwecken, egal, in welcher Form. Mein Mann glaubt an mich und schenkte mir das nötige Vertrauen, um den Roman schreiben zu können.

 

Isabel Kupski: Die Geschichte spielt im Kriegswinter 1944 in den Ardennen, die die Deutschen besetzt haben, die Amerikaner rücken vor, die Nazizeit ist ein schwieriges historisches Kapitel. Warum haben Sie sich entschieden, gerade dieses Kapitel in Fiktion zu übertragen.

Emmanuelle Pirotte: Es war nicht unbedingt dieses historische Kapitel, das mich interessierte. Ich wollte die Geschichte eines versteckten Kindes erzählen, von denen es in Belgien viele gab, vor allem in Wollonien, und sowohl die Familie meines Mannes als auch meine spielten da eine Rolle. Seine Urgroßmutter ist eine »Gerechte unter den Völkern« (sie hat Juden und einem deutschen Widerstandskämpfer geholfen), meine Großeltern haben über zwei Jahre einen jüdischen Jungen versteckt. Diese Geschichten bestimmten unsere Kindheit, aber als wir das Drehbuch schreiben wollten, wussten wir nicht, aus welchem Blickwinkel wir uns diesem Thema nähern sollten. Einer unserer Freunde erzählte uns von der Operation Greif, bei der sich die deutschen Soldaten als Amerikaner verkleideten. Das haben wir dann recherchiert und dabei einen wunderbar dramatischen Nährboden für unsere Geschichte gefunden. So gab es überhaupt die Möglichkeit, die kleine jüdische Renée auf Matthias treffen zu lassen, auf ihren Henker, den die Geschichte für sie bereithielt. Ich wollte diesen Schockmoment herausarbeiten, diesen Moment des plötzlichen und unausweichlichen „von Angesicht zu Angesicht“, der in der Fiktion ziemlich tabu ist, auch heute noch.

Isabel Kupski: Hatten Sie für die bezaubernde 7-jährige Renée ein Vorbild?

Emmanuelle Pirotte: Nein, aber manchmal begegnet man im wahren Leben solchen außergewöhnlichen Kindern mit einem besonderen Charisma, zweifelsohne haben mich solche Kinder inspiriert. Natürlich habe ich auch zahlreiche Zeugnisse über versteckte Kinder gelesen. Die meisten sind allerdings das genaue Gegenteil von Renée: verschlossen, ängstlich, undurchschaubar. Renée ist eine Ausnahme. Sie ist so lebendig, so präsent in der Welt, dass sogar Matthias, für den nur das Nichts und der Tod logisch erscheinen, von ihr gefangen ist. Es gibt solche reifen, solche wachen Kinder. Renée ist nicht nur ein Phantasiegebilde. Und sie ist ein Symbol für das pulsierende Leben, das stärker ist als alles andere, das über die Vernichtung triumphiert. Man spürt aber auch, dass sich Renée und Matthias ähneln, sie haben viel gemeinsam. Sie sind hyper lebendig, stark, aber auch hart mit sich und den anderen.

Isabel Kupski: Matthias ist SS-Offizier, der sich aus unerfindlichen Gründen dafür entscheidet, das jüdische Mädchen Renée zu retten. Ein Wandel, der vor allem für deutsche Leser schwer vorstellbar ist, aber Matthias tut es, weil er ein Freigeist ist und letztlich unabhängig, er macht, was er will. Und dennoch hatte er sich zunächst der Nazidideologie verschrieben. Glauben Sie, dass der Mensch immer die Wahl hat?

Emmanuelle Pirotte: Das ist eine interessante Frage! Matthias rettet Renée, weil sie in ihm etwas wachruft, aber was das ist, bleibt für ihn ein Leben lang ein Rätsel. Aber es stimmt, dass er in dieser entscheidenden Sekunde seinen freien Willen entdeckt, eine Art absoluter Freiheit, rein und äußerst selten. Denn ich glaube, dass der Mensch nur sehr selten die Möglichkeit hat, seinem freien Willen zu folgen. Wir sind auf furchtbare Weise determiniert, von unserem sozialen, intellektuellen Umfeld konditioniert… Und auch wenn wir oft glauben, in unserem Leben frei zu entscheiden, werden wir in diesen Entscheidungen meist von äußeren Dingen bestimmt. Um zu Matthias zurückzukommen, er ist kein fanatischer Nazi. Er hat nicht das geringste Interesse an der Nazi-Ideologie. Er macht sich übrigens die ganze Zeit darüber lustig. Er hat sich von dieser Ideologie verführen lassen, weil sie ihm die Möglichkeit bot, zu brillieren, das Kampftier zu sein, das in ihm schlummerte. Matthias ist ein Egoist. In seinem Hochmut schmeichelt ihm genau das, was ihm die Nazi-Ideologie ermöglicht. Er tötet nicht aus ideologischen Gründen. Er ist kein Antisemit. Das interessiert ihn nicht. Er tötet, weil dies der tödliche Vertrag vorschreibt, den er in dem Moment abschließt, als er sich dem Krieg in Deutschland anschließt, insbesondere den SS-Truppen unter Skorzeny. Als also Renée auf der Bildfläche erscheint, muss er sich von seiner Todes-Logik befreien, das ist wahr, aber seine Logik ist nicht ideologisch. Ganz im Gegenteil. Er glaubt an nichts mehr. Matthias ist zynisch, aller Illusionen beraubt. Als ihn also Renées Blick trifft, ist das Einzige, was noch aufblitzen kann, seine Menschlichkeit. Nicht sein Mitleid oder seine Barmherzigkeit. Genau das eben nicht. Er ist von Renée magnetisiert, von ihrer Lebendigkeit, die sie ausstrahlt, ihrer Unverfrorenheit, ihrem Mut. Und so entscheidet er sich für das Leben und gegen den Tod. Also ja, jeder kann in sich den freien Willen entdecken.

Isabel Kupski: Mussten Sie viel für die Geschichte recherchieren?

Emmanuelle Pirotte: Sehr viel! Über die Jahre parallel zum Schreiben des Drehbuchs und dann auch noch während ich den Roman geschrieben habe.

Isabel Kupski: Im Roman werden ein paar wenige Sätze Wallonisch gesprochen. Sprechen Sie selbst diese Sprache?

Emmanuelle Pirotte: Ich spreche es schlecht, verstehe es aber ganz gut. Meine Großmutter, mit der wir zusammen gewohnt haben, als ich klein war, sprach es mit älteren Leuten. Diese Sprache hat meine Kindheit begleitet, sie ist sehr bildhaft, ironisch. Aber heute geht sie verloren.

Isabel Kupski: Glauben Sie, dass die Welt besser wäre, wenn man unabhängig von manchen Gesetzen handeln würde?

Emmanuelle Pirotte: Ich glaube, dass der Mensch ein großes Bedürfnis nach Regeln hat, sie sind beruhigend, der Mensch hat das Bedürfnis, einer Gruppe anzugehören. Er folgt aber auch dem Herdentrieb, das macht ihn oft dumm und gemein. Einzelne Menschen, die in der Lage sind, sich von der Gruppe zu distanzieren oder regeln zu durchbrechen, wenn sie ihnen verhängnisvoll erscheinen, finden ihre Freiheit. Diese „freien“ Menschen distanzieren sich selbstverständlich von Kriegen, von Konflikten. Der Krieg ist der Moment der Offenbarung. In der Gefahr, der Todesgefahr, ist man nackt, man ist ganz selbst, mutig oder feige, frei oder nicht.

Isabel Kupski: Für das jüdische Mädchen Renée ist der Nazi Matthias der Feind, aber sie glaubt an das Gute in ihm und rettet damit nicht nur sich selbst, sondern in gewisser Weise auch ihn. Gibt es so etwas im wirklichen Leben?

Emmanuelle Pirotte: Selbstverständlich. Die Liebe (ich weiß nicht, wie man es sonst nennen sollte) zwischen den beiden ist ein gewaltiges Gefühl, und die Liebe kann retten, verändern, heilen.

Isabel Kupski: »Heute leben wir« ist ein verstörendes, in seiner Brutalität teilweise hartes Buch, aber dann auch so bewegend, dass man vor Rührung (fast) weinen muss, hatten Sie beim Schreiben Angst, dass dieser Gegensatz unglaubwürdig erscheinen könnte?

Emmanuelle Pirotte: Nein, diese Frage habe ich mir gar nicht gestellt. Gerade in der Fiktion liebe ich solcher Art Kontraste, im Film wie in der Literatur. In der französischen Literatur finde ich diesen Kontrast nur selten. Ich schreibe ein bisschen das, was ich lesen möchte.

Isabel Kupski: Können Sie gleichzeitig an einem Drehbuch und an einem Roman arbeiten?

Emmanuelle Pirotte: Das fällt mir schwer.

Isabel Kupski: Auf den deutschen Leser hat »Heute leben wir« natürlich noch mal eine andere Wirkung, haben Sie beim Schreiben darüber nachgedacht?

Emmanuelle Pirotte: Zuallererst habe ich beim Schreiben nicht im Traum daran gedacht, dass ich das Glück haben würde, ins Deutsche übersetzt zu werden. Als es dann so weit war, habe ich über die Rezeption in Deutschland nachgedacht. Ich bin sehr ungeduldig, sogar ein bisschen beunruhigt. Ich hoffe, dass die Deutschen die Art schätzen werden, wie ich mich eines Stücks ihrer schmerzvollen Geschichte bemächtigt habe. Ich glaube nicht, dass es das verkörperte Böse gibt, das absolute Böse existiert nicht. Hinter den Taten, den Worten, den Ideen stecken immer Frauen und Männer, Menschen die zum Schlimmsten und seltener zum Guten fähig sind. Aber wenn das Gute, dieses Licht durchscheint, weicht auch ein bisschen das Grauen. Matthias ist fähig, dieses Licht aufscheinen zu lassen. Er weiß, dass er sich damit nicht rettet, nicht erlöst. Als Autor aber glaube ich, dass dies ein großer Sieg des Lebens über den Tod ist, und das ist enorm.

Isabel Kupski: Waren Sie schon einmal in Deutschland?

Emmanuelle Pirotte: Ja, immer wieder, und neulich war ich eine Nacht in der tollen Stadt Bremen, als ich auf dem Weg nach Dänemark war. Ich habe wunderbare Erinnerungen an meine Aufenthalte in Ihrem Land, die Leute sind sympathisch, die Orte reich an Geschichte und Kultur. Literarisch und filmisch habe ich mich dieses Jahr zweimal verliebt: in Hans Fallada, »Jeder stirbt für sich allein«, ein Meisterwerk von erstaunlicher Modernität, eine Reise auf den Grund der menschlichen Seele in einem kritischen Moment der Geschichte. Erschreckend, umwerfend, nie manichäisch. Und was für eine Sprache, scharf, lebendig, organisch! Und in den Film »Toni Erdmann«, den ich vor ein paar Tagen gesehen habe, auch ein Meisterwerk, ein bisschen im Stile des dänischen Films, den ich so sehr schätze, unkonventionell, frei, der ohne gefällig sein zu wollen mit einer seltenen Kraft in die menschliche Psyche abtaucht. Die langsame Befreiung von den Widersprüchen, dem sozialen und beruflichem Joch, wird ganz großartig in diesem Film gezeigt. Wir haben ja vorhin von Freiheit gesprochen. Dieser Film ist eine Ode an die Freiheit.

Isabel Kupski: Vielen Dank für das Gespräch!

Emmanuelle Pirotte: Mit Vergnügen! Und vielen Dank für Ihren Einsatz!

›Heute leben wir‹ ist der erste Roman von Emmanuelle Pirotte und war ein großer Publikumserfolg in Frankreich, außerdem wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Die Autorin wurde von der Geschichte ihrer Großeltern, die im Zweiten Weltkrieg ein jüdisches Kind versteckten, inspiriert. Die Filmrechte für ›Heute leben ...
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