Als passioniertem Leser alter Zeitungen sind mir, auch bei Recherchen für meine früheren Bücher, die oft skurrilen »Kleinen Meldungen« aufgefallen. Vor fünfzehn Jahren kam mir eine über einen entsprungenen Löwen oder Tiger in Karlsruhe oder Baden unter, dann eine über einen Freitod in Wien, beide um 1900, beide tragikomisch skurril. Mit solchen alten Kurzartikeln wäre ein tolles Buch zu machen, dachte ich. Und als ich für »Die Würze der Kürze« recherchierte, suchte ich beide und suchte und suchte – und vermochte sie nicht zu finden. Dafür stieß ich auf »In Kujavien ist ein Bauer, welcher auf Storch- und Gänseeiern gesessen, verbrannt worden«. Und auf Vampire, die sich »ganz vernünftig aufführen«…
Sie sind seit Beginn des Pressewesens schräge Einblicke in den Tratsch der jeweiligen Zeit und zeigen uns Heutigen, was die Menschen einer Epoche bewegte, welche Ängste und welche Sensationslust. Sie können zum Schreien komisch, zum Weinen tragisch und zum Staunen skurril sein.
Tatsächlich saß ich in Lesesälen von Bibliotheken. Sowohl mit den Büchern, die ich für die Kontexte, zum Verständnis der Entwicklungen des Genres in Verbindung mit der Entwicklung der Presse und der Gesellschaft brauchte, als auch mit dicken Bänden alter Zeitungen, mit denen ich mich in die Vergangenheit begab. Die meisten Zeitungen jedoch habe ich im Internet gelesen, auf den digitalen Seiten der British Library, der Library of Congress, der Bibliothèque Nationale… die Adressen sind in der Bibliographie der »Würze der Kürze« zu finden. So vermag man zu Hause stundenlang ins Jahr 1648 oder 1815 zu versinken.
Sie erzählen knapp das Lächerliche und das Erschütternde persönlicher Schicksale, Erd- und Kometenbewegungen, große und kleine Gauner, Nichtigkeiten und Unerklärliches… Eine Themenvielfalt seit Anfang des Zeitungswesens um 1600, jedoch meist gebunden an das, was die Gesellschaft einer Epoche besonders relevant schien: zum Beispiel im 19. Jahrhundert die enorme Veränderung durch die Dampfmaschine und dazu die Eisenbahnunfälle. So ersteht in einem bestimmten Duktus das »Leben und Treiben« einer Gesellschaft – mein Einleitungskapitel dreht sich eben um so ein »Leben und Treiben« und die Kritik (von Karl Kraus oder Poldi Beck) an Genre und Duktus.
Der Mensch braucht Material für den Tratsch. Das leisten die kleinen Meldungen vom Anfang des Pressewesens an. Zudem dienten sie oft dazu, einen freien Platz im Blatt zu füllen. Mit den Veränderungen durch die Industrielle Revolution begann die Ordnung der Ausgaben in Rubriken, und da bekamen die Überschrift »Faits Divers«, »Vermischte Meldungen«, »Miscellaneos« und damit ihren leichter auffindbaren Platz. Zugleich wurden die Zeitungen stärker kommerzialisiert, vor allem Sensationen förderten den Verkauf – und für Sensationen waren die kleinen Meldungen immer gut.
Kleist hat das Genre literarisiert, mit seiner ungemein präzisen Sprachkunst versehen. Und Fénéon hat die »nouvelles en trois lignes« zu faszinierenden, mitunter subversiven Kleinoden gestaltet; er schuf Mini-Novellen über die Ängste, die Gewalttätigkeiten, die Unsicherheiten und Begierden seiner Epoche – völlig ohne das übliche Pathos.
Twitter ist eine aktuelle Form des Genres; nur dass jeder und jede schreibt, liest, urteilt. Der Charakter ändert sich insofern, als es praktisch keine Grenzen, weder Privatheit noch Intimität, gibt. Allerdings hätte »Dead body discovered in cemetery« durchaus in einer Zeitung des 17. Jahrhunderts stehen können.
So ist es. Aber Meldungen waren ja schwerer überprüfbar als heute. 1804 schrieb August Ludwig Schlözer: »Stumpf ist der Mensch, der keine Zeitung liest«; noch stumpfer derjenige, der eine Nachricht für wahr hält, bloß weil sie in der Zeitung steht.