1. Das von Ihnen herausgegebene Buch ›95 Anschläge. Thesen für die Zukunft‹ wird am 23. Februar 2017 erscheinen. Wie ist das Projekt entstanden und wie kam es zu der Zusammenarbeit von der EKHN Stiftung mit dem Literaturhaus?
Friederike v. Bünau: Luthers Thesenanschlag, 500 Jahre Reformation waren Anlass für dieses Projekt. Beide Institutionen haben vor einigen Jahren schon einmal eine kleine Veranstaltungsreihe mit dem Titel »Religionen sind Gedichte« initiiert. Dadurch bestand der Kontakt. Uns verbindet ja die Bedeutung, die wir dem Wort beimessen. Das Wort als etwas zu begreifen, das einen Anspruch setzt, bestenfalls einen Anstoß gibt, nicht moralisch oder dogmatisch ist. Das Wort, das sich einlassen will auf ein Gespräch über Themen des Lebens, der Gegenwart und der Zukunft. Das passt auch zur Reformation. Ihrem Geist entspricht es, dass ganz unterschiedliche Menschen das Jubiläum zum Anlass nehmen können, ihre eigenen Thesen zu formulieren. So ergab sich fast natürlich die Idee, ein Buch und Veranstaltungsprojekt dieser Art gemeinsam auf den Weg zu bringen.
2. Die Beiträger sind sehr unterschiedlich und kommen aus ganz verschiedenen Bereichen. Nach welchen Kriterien haben Sie die Beiträger ausgewählt?
Hauke Hückstädt: Es ist uns wichtig, eine Bestandsaufnahme der Erwartungen für die Zukunft zu machen. Die sollte vielstimmig sein und möglichst viel Deutschland abbilden. Also war es uns wichtig, Handwerk, Leistungssport und Bundeswehr wenigstens graduell ebenso vertreten zu sehen wie die klassischen Ressorts Politik, Wirtschaft, Finanzen, Kunst und Kultur sowie Gesellschaft, Religion, Medizin und Architektur. Es geht darum, zu zeigen, wie viel reformatorische Kraft heute in uns steckt, was unser derzeitiger »Überzeugungshaushalt« bereithält – um einen Begriff zu wählen, den Henning Ziebritzki, einer der Kuratoren des Buches eingebracht hat.
3. Sie sagen es, an der Projektphase sind neben den Herausgebern auch sieben Kuratoren beteiligt. Welche Rolle kommt Ihnen zu?
Friederike von Bünau: Die sieben Kuratoren heben, tragen und rahmen das Projekt. Sie stehen für die Vielstimmigkeit des Buches und repräsentieren Bereiche wie Theologie, Literatur, Wirtschaft, Naturwissenschaft, Gesellschaftskritik und Medien. Neben Henning Ziebritzki konnten wir Andreas Barner, Johann Hinrich Claussen, Ines Geipel, Michael Krüger, Harald Lesch und Juli Zeh gewinnen. Sie alle haben eine These samt Erklärung beigesteuert und außerdem mehrere Beiträger für das Buch vorgeschlagen und eingeladen.
4. Worin bestanden die Herausforderungen bei diesem besonderen Projekt?
Friederike v. Bünau: Die Ansprache von 95 Beiträgern ist keine Kleinigkeit und erfordert viel Koordination. Neben der Menge der Autoren waren es auch die Inhalte, die wir im Auge behalten mussten. Zu viele Dopplungen und Überschneidungen wollten wir vermeiden, sowohl Elementares wie Glaube, Schuld, Sterben als auch gesellschaftlich aktuelle Themen wie Europa, Einwanderung, Energie abdecken. Es sollte ein gut lesbares, gleichermaßen anregendes und vielstimmiges Buch werden.
5. Das Projekt ist mehr als nur das Buch. Was ist von Ihrer Seite noch geplant?
Hauke Hückstädt: Eine christliche und, wenn man so möchte, eine weltliche Institution, die Stiftung der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau und das Literaturhaus Frankfurt, haben sich zusammengetan. Aber eben auch der bedeutendste Frankfurter Verlag sowie zwei Medienpartner aus Frankfurt, nämlich Chrismon und hr2-kultur. Es ist ein richtiger Frankfurter Wurfpfeil, mitten auf die Gemütlichkeitsblase, in der wir zwar unsere Gegenwart gerade so zu fassen kriegen, aber noch kaum 20, 40 oder 100 Jahre vorausschauen. Und um die Frage genauer zu beantworten: ja, es ist von Anbeginn als eine Buchunternehmung und als ein Veranstaltungsprojekt geplant gewesen. Es ist ein Buch für den Buchhandel mit mindestens 95 Anschlussmöglichkeiten, aber es ist auch ein Streitbuch. Es soll Lesungen und Debatten im gesamten Lutherdeutsch-Sprachraum geben. Ich meine, inzwischen sind mindestens in Rostock, Lüneburg, Limburg, Sachsen-Anhalt, Bad Homburg, Koblenz und Leipzig erste Veranstalter in Position gegangen.
6. Die Zeichnung für den Umschlag stammt von Christoph Niemann. Inwieweit waren Sie als Herausgeber in die Gestaltung eingebunden?
Hauke Hückstädt: Der Verlag hat uns großes Vertrauen entgegengebracht. Wir finden es natürlich richtig, ein Buch und sein Wirken wie seine Verbreitung als Ganzes zu betreuen, aufzufassen. Dazu gehört maßgeblich der Umschlag. Früh wussten wir den Titel, »95 Anschläge«. Und wir wussten, die Gestaltung sollte das Motivgeflecht Reformation aufgreifen und mit dem Projekt verbinden. Wir wussten nicht genau was, aber wir ahnten, wer es am ehesten könnte. So beschrieb ich dem Künstler und Graphiker Christoph Niemann, worum es uns geht und welchen Dreh der Umschlag beibringen könnte. Und dann kam dieser gute Entwurf. Niemann hat in gewisser Hinsicht die 96te These geliefert: Der Thesenanschlag Luthers, das Hämmern auf der Tastatur der Gegenwart, das Gold der Erkenntnis und unsere gekrümmte Verzweiflung mit all diesen schiefen Nägeln ist in Niemanns Emblem enthalten.
7. Was ist denn Ihre eigene These für die Zukunft?
Hauke Hückstädt: Als Herausgeber haben wir darüber nicht nachzudenken. Es ist unser Ziel, eine repräsentative Auswahl derer zu versammeln, von denen wir etwas erwarten dürfen. Aber in diesen Monaten habe ich oft gedacht, dass es an Vertrauen mangelt. Wir vertrauen zu wenig, uns selbst, einander und anderen. Eine Periode des Misstrauens. Und parallel dazu dachte ich immer an die Autobahn. Dieses umhegte Nationalmonument. Dort scheint noch ein Hort des Vertrauens zu sein. Absurd. Dort bewegen wir uns in kleinen rasenden Kapseln, ahnen nicht, wer vor, neben, hinter uns rast, geschweige denn uns doppelt so schnell entgegen kommt und wähnen uns doch vertraut und in Sicherheit und fahren dicht auf und blinken nicht und telefonieren und spielen mit unseren Leben – und die Werbung sagt uns, es sei eine Spur von Freiheit, Vorsprung und Freude dabei. Darüber könnte man nachdenken.
Friederike v. Bünau: Viele Anstöße wünsche ich mir, dieser oder auch anderer Art, heute, morgen und übermorgen. Zu gesellschaftlichen, theologischen, generationsbezogenen und den vielen anderen Themen, die gerade von Bedeutung sind. Stiftungen haben die Unabhängigkeit und finanziellen Mittel, solche zu befördern. Und ich wünsche mir mehr »Geschichten des Gelingens«, um einen Begriff des Soziologen Harald Welzers aufzugreifen. Freiheit und Verantwortung, auch im Sinne Martin Luthers, zusammenzudenken und zu leben für unsere demokratische Gesellschaft.