Sie haben kürzlich gesagt, Sie hätten der Erzählkunst eine Zeitlang nichts mehr zugetraut, seien jetzt aber wieder bester Dinge, was den Roman angeht. Woher rührt dieser Umschwung?
Nehmen wir die Geschichte. Ich habe in den siebziger Jahren bis in die achtziger Jahre hinein Romane geschrieben, die unveröffentlicht geblieben sind. Damals wurde die Emanzipation von den männlichen Achtundsechzigern selbst als überholt angesehen. Plötzlich ging es den neuen Eliten darum, wieder zu der alten Ordnung zwischen Mann und Frau zurückzukehren, in der aber die Frauen ihre alten Rechte verloren hatten und keine neuen gewonnen. Noch nicht. Das war so, als hätte man die Frauenbewegung wie ein Fieber endlich ausgestanden.
Dann waren das aber andererseits die Zeiten, in denen die Wahrheit über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust in aller Wucht öffentlich wurde und die gesellschaftliche Verhandlung über die Geschichte erst wirklich begann. Wir mussten feststellen, dass die Welt nicht stehen blieb vor Trauer über diese Wahrheit. Aber die Eindeutigkeit dieser Wahrheit löste am Ende alle anderen Eindeutigkeiten auf. Auch die Eindeutigkeit einer auktorialen Autorposition wurde von dieser Wahrheit hinweggefegt. Die Rückkehr zur ersten Moderne in einem Wien, in dem auch das meiste an zeitgenössischer Kunst der sechziger und siebziger Jahre in Sexismen sich reaktionär gerierte, war da nur teilweise eine Möglichkeit. Ich hatte mich in meiner Dissertation mit einer strukturalen Dramentheorie beschäftigt. Das Kunstwerk Theaterschauspiel bot die Möglichkeit, sich mit dem Verlust der Eindeutigkeit auseinanderzusetzen. Das war dann in den achtziger Jahren, die gesellschaftlich ein Stillstand waren, während die Wirtschaft die Politik zu dominieren begann. Seit dem Ende des Kalten Kriegs sind wir wieder offenkundig Mächten ausgeliefert, gegen die eine Gegenwehr darin liegt, den Faden der Erzählung zu spinnen und die Fragmentierung des Lebens in der Kontinuität dieses Erzählens zu einer Erkennbarkeit zusammenzufügen. Es wäre entsetzlich, ein Ganzes in einer Erzählung zu behaupten. Lüge wäre das und faschistisch. Aber die gelebt werden müssenden Splitter so zu schreiben, dass die Fragmentierung der Leben offenkundig wird, das ist notwendig. Das ist es auch, was die Literatur, was der Roman kann. Das kann kein anderes Medium. Darin ist der Roman dann unverzichtbares Medium der Politisierung der Realität der Zersplitterung der Leben zwischen der Frage, wie gelebt werden soll, und der Wirklichkeit, wie gelebt werden kann. Darin ist der Roman auch die Erinnerung daran, dass es andere gibt und dass Solidarität eine Möglichkeit ist.
Wie sieht Ihr Schreibprozess aus? Wie viel Recherche benötigen Sie, um zu Erkenntnissen vorzudringen? Oder passiert das im Schreiben selbst?
Also. Ich muss nicht noch perversere Formen von Tortur und Mord inszenieren, als es sie in der Wirklichkeit schon gibt. Da ist die Wirklichkeit im ausreichenden Maße schrecklich. Umgekehrt hat der Leser ein Recht auf die Wirklichkeit der Wirklichkeit, von der sollte man dann schon sehr genau wissen.
Das klingt, als käme das einer ethischen Verpflichtung gleich.
Ich kann nicht eine schönere Welt entwerfen, als sie ist. Das ist die Entscheidung innerhalb meiner eigenen Ästhetik. Das ginge nicht, das wäre ein Verrat, und damit würde direkt das metaphysische Geraune einsetzen. Daher muss ich solche Verhörszenen wie in »Die Schmerzmacherin.« exakt recherchieren. Sie dürfen nicht verschwiegen, aber auch nicht für die Ökonomie des eigenen Erzählens verwendet werden.
In welchem Verhältnis stehen dann Ihre Figuren zu diesen Wirklichkeitsfacetten?
Eine Figur wie Amy in »Die Schmerzmacherin.« ist tatsächlich das Ergebnis der Recherche. Sie ist das Produkt meiner Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und den einzelnen Lebensgeschichten meiner Figuren. In »Die Schmerzmacherin.« sollte zunächst Cindy die Hauptperson sein. Das wäre dann ein ganz anderer Roman geworden. Grundsätzlich gilt: Jede meiner Figuren hat einen Roman in sich. Ich kenne deren Leben komplett. Wirklich alle Figuren verfügen über eine konkrete Lebensgeschichte. Selbst eine Figur wie Heinz, der innerhalb des Romans selbst kaum auftritt. Es genügt aber, dass ich diese Geschichte weiß, dass ich sie bis in die letzte Verästelung kenne.
Welche Folgen hat das, wenn jede Figur einen Roman in sich trägt?
Wenn Cindy ihrerseits einen Roman in sich trägt, funktioniert das mit »gut« und »böse« nicht mehr. Die einfachen Schemata und Oppositionen lösen sich innerhalb der Komplexität auf und greifen nicht mehr. Das gilt nicht nur für Cindy, sondern ebenfalls für eine Figur wie Amy. Wenn Amy beispielsweise auf dem Sportplatz in England zum Teil der schreienden Masse wird, erlebt sie eine Art Heldenplatzsituation. Da zeigt sich das Potential, zu kippen, sich in die bestehende Machtstruktur einzufinden. Warum sie dem widersteht? Von ihrer Familiengeschichte wird im Roman ja viel erzählt, und es scheint doch möglich, dass sie ihre Familienverschneidung als einen versteckten, nicht gewussten Auftrag in sich trägt. Weil man sich schon fragen muss, warum macht sie alles so, wie sie es tut. Warum behält sie ihre Skrupel, warum foltert sie, wenn schon nicht brutal, dann doch zumindest aus pragmatischen Motiven? Wegen ihrer gebrochenen Vergangenheit? Ihre Vergangenheit rettet sie. Sie ist zugleich aber dafür zuständig, dass Amy Staatsmündel und Sozialfall bleibt, dass nichts aus ihr wird. Daraus wird weder gut oder böse. Man lebt in diesem osmotischen Hin und Her, das das Potential für beides in sich birgt. Dasselbe gilt für eine Person wie Ingo, der sich ja Gino nennt. Der ist vielleicht sogar die interessanteste Figur. Aber dennoch weiß die Leserin nicht viel von ihm. Letztlich nicht einmal das Geschlecht. Oder warum Gino sich da offenbar mit Cindy einlässt.
Warum fiel Ihre Wahl dann auf Amy?
In »Die Schmerzmacherin.« geht es um Eintrittsverbote und -gebote in die Sphären der Macht, in eine solch undurchschaubare Institution wie eine private Sicherheitsfirma. Ein Thema, an dem ich seit 15 Jahren arbeite. Solche Thematiken anhand einer privaten Sicherheitsfirma durchzuspielen erwies sich dann als gesellschaftlich und politisch hochbrisant. Warum? Man spielt als Einzelner immer in der eigenen Zeit mit wie ein Solist in einem Orchester. – Darüber hinaus wollte ich niemanden, der sich in diesem Betrieb so muskulös bewegt. Auch diese englische Frau, die dann während Amys Zeit im Ausbildungscamp auftritt, die war es nicht. Die konnte nicht die Hauptfigur sein, bei und mit der wir in die feinste Verästelung vordringen. Vielmehr musste es die Nachkommin der Familie Mahler sein. Und damit etwas Österreichischeres.
Auf diese Weise gibt es eine kulturelle Verbindung. Wie es gegenwärtig ist, das kann ich mir überall vorstellen. Aber nur hier in Wien kann ich mir sowohl vorstellen, wie es ist, als auch, wie es war und wie es kommen könnte. Das ginge vielleicht noch in Berlin, in London oder New York, wo ich viel Zeit verbringe. Und ich schon sagen würde, dass ich einen geschulten Blick habe. Aber letztlich weiß ich dort nicht so detailliert um alles wie hier, nicht so intuitiv sicher. Deshalb ist das ein eigener ästhetischer Kosmos, dem ich treu bleiben sollte. Selbst wenn ich auf das Jetzt schaue, bewährt es sich, dem eigenen ästhetischen Universum treu zu bleiben. Wenn ich als Wienerin nach Königs Wusterhausen reise, würde ich das Andere zwar sehen, aber nie, was dem zu eigen ist. Denn im Kleinstädtischen, Dörflichen kann man die bis ins Detail versponnenen Strukturen und Machtgefüge von außen nicht verstehen. Sich nach Königs Wusterhausen in ein Café zu setzen, wäre dummer Tourismus, der auf der Chimäre beruht, man würde verstehen, was dort passiert. Deshalb gibt es in »Die Schmerzmacherin.« erneut eine österreichische, eine Wiener Figur als Zentrum der Wahrnehmung. Wenn ich eine Figur wie Cindy als Bewusstsein etablieren würde, durch das die Welt wahrgenommen wird, dann wäre das eine Art Kolonialismus. Die Erfahrungswelt einer Cindy, die ja im Osten groß geworden ist und bei der Stasi eine Ausbildung bekommen hat, kann ich nicht bis in die Feinheiten ausloten, deshalb brauche ich Amy. In ihrer Wahrnehmung ist dann ja der Kosmos unter anderem einer Cindy enthalten.
Wäre nicht aber jede akribische Romanlektüre zugleich eine Form des Tourismus, wie Sie ihn gerade als Chimäre kritisiert haben? Man begibt sich doch lesend in eine fremde Welt, und zwar im Bewusstsein zu verstehen?
Einen Roman zu erzählen, ist keine Führung durch die Welt – im Duktus »schauen Sie mal links, schauen Sie mal rechts«. Der Roman ist die Welt. Der Roman ist ein sekundär modellbildendes System mit einer inneren Gesetzmäßigkeit, die gewährleistet, dass Sie dort an einen besonderen Ort mit einer besonderen Zeit geraten. Dort sind Sie. Das ist kein Besuch oder eine Reise, sondern Existenz.
Interviews
Marlene Streeruwitz im Gespräch mit Christian Metz
Der Roman spielt in der heutigen Literatur eine privilegierte Rolle. Völlig zu Recht, findet Marlene Streeruwitz, und führt in einem Gespräch mit Christian Metz an Beispielen des eigenen Schreibens aus, inwiefern der Roman ein politisches Medium ist.