Interviews

»Orte erzählen eine Geschichte«

Im Gespräch mit ihrer Lektorin Petra Gropp erzählt Verena Carl, warum Taormina der richtige Handlungsort für ihren Roman ist und wie ein Telefonat ihr die Arbeit an dem Roman ermöglicht hat.

»Am siebten Morgen fing es an. Das Abrutschen, Absacken, die fast unmerkliche Schieflage. Zunächst dachte Anna sich nichts dabei.« So beginnt der Roman. Anna verliert den Boden unter den Füßen, zuerst unmerklich, dann ziemlich dramatisch. Ist dieses Gefühl des Schwindels der Ausgangpunkt für den Roman gewesen?
Ich bin selbst immer verblüfft, wenn sich eine unspektakuläre Momentaufnahme plötzlich als ein Saatkorn entpuppt, das sich zu einer komplexen Geschichte auswachsen kann. Romanideen entstehen mal aus Beobachtungen, mal aus einer Zeitungsnotiz, mal aus einem Gespräch – in dem Fall war es so, dass ich selbst auf einer Urlaubsreise so ein körperliches Gefühl von Vergänglichkeit, von Brüchigkeit und Abwärtsbewegung empfand. Nicht dauerhaft, aber unangenehm. Und was macht man als Autorin mit solchen Gefühlen? Man verwandelt sie in Sprache. Und schafft vielleicht in einem zweiten Schritt Figuren, denen man sie zuordnet.

Anna ist pragmatisch, manchmal übermütig, manchmal lebenssüchtig und stolpert in eine tiefe Verunsicherung. Sie fragt sich, ob die anderen glücklicher sind und wer eigentlich darüber entscheidet, ob wir ein Leben als gelungen betrachten oder als gescheitert. Woher kommen diese Zweifel?
Das Thema Verunsicherung liegt in vieler Hinsicht in der Luft – von der weltpolitischen Situation bis zu den Verschiebungen in der Arbeitswelt und der Unberechenbarkeit persönlicher Biographien. Viele Menschen erleben ihre Existenz als latent bedroht, das Glück als brüchig. Zugleich ist die individuelle Frage nach unerfüllten Träumen und Sinn sehr typisch für das Alter meiner Hauptfiguren, so etwa zwischen 40 und 50: »Was geht da noch in meinem Leben? Und lässt der Tod sich austricksen?« Dabei lassen sich Erfüllung und Glück nie anhand einer Checkliste mit objektiven Standards bemessen. Die Bewertung liegt ausschließlich bei uns selbst. Wir merken es nur manchmal nicht.

Anna kehrt nach vielen Jahren nach Taormina auf Sizilien zurück. Wieso dorthin?
Orte erzählen eine Geschichte, und Taormina erzählt für mich eine von bedrohter Schönheit. Das Abschüssige der Topographie, das Schwindelgefühl so hoch über dem Meer, die ständige Präsenz eines nur halb schlafenden Vulkans, das alles trägt zu diesem Gefühl bei. Auf der anderen Seite ist so ein idyllischer und zugleich komplett touristischer Ort auch ein Symbol der Sehnsucht nach dem besseren Leben, nach Romantik, Liebe, Inspiration. Dieses Schmachten nach Italien ist ja etwas sehr deutsches, von Goethe bis Bodo Kirchhoff. Und, klar: Wo Sehnsucht und hochfliegende Erwartungen gedeihen, sind Absturz und Enttäuschung nicht fern.

Anna und auch die anderen schlagen sich nicht allein mit dem Leben herum. Sie sind in ein feines, kompliziertes Gespinst verstrickt, in ihre Familien. Welche Rolle spielen diese Menschen füreinander?
Allen ist eines gemeinsam, sie erwarten auf die ein oder andere Weise Rettung voneinander, vor den eigenen Ängsten, dem existentiellen Alleinsein, dem Älterwerden. Ich möchte gar nicht abstreiten, dass das möglich ist, zumindest immer wieder für Momente – aber sie überfrachten sich gegenseitig auch mit ihren unausgesprochenen Erwartungen und Projektionen. Als Schreiberin und Leser – oder Leserin – ist man da immer ein Stückchen schlauer als die Figuren, was nicht heißt, dass ich mich über sie erhebe.

Es geht in diesem Roman immer wieder auch um Begegnungen. Warum ist das Zusammentreffen mit Alexander für Anna so entscheidend?
Das Interessante ist ja, dass es eigentlich gar nicht um Alexander geht, sondern um seinen Blick auf sie. Oder genauer: Um das, was sie in seinen Blick hineinliest. In einem kleinen Moment hat sie den Eindruck, er könnte sie auf eine Weise wahrnehmen, auf die sie schon lange niemand mehr wahrgenommen hat. Als begehrenswerte Frau, als geheimnisvolles Gegenüber. Alexander ist für Anna pure Projektionsfläche, viel mehr noch als die Familienmitglieder füreinander, von denen wir vorhin sprachen. Das führt unweigerlich zu der Frage: Was ist eigentlich Liebe – eher das, was sich in einer tragfähigen Alltagsgemeinschaft bewährt, oder eher das reine, von den Niederungen der Realität ungetrübte Gefühl? Anders gefragt: Warum bezeichnen wir eigentlich zwei derart gegensätzliche Empfindungen mit einem einzigen Wort, woher dieser Geiz in der Sprache?

Du hast mal gesagt, die ersten vierzig Seiten seien früh entstanden. Und dann war erstmal nicht klar, wie es weitergeht. Wie hat sich die Geschichte entwickelt?
Im Kopf hat sie immer wieder neue Blüten getrieben, aber irgendwann war klar: Ich brauche einen starken Kontrast, aus dem die innere Spannung entsteht. In einer ganz frühen Fassung des Romananfangs war Anna diejenige, die aus dem Italienurlaub zurückkehrt und dann mit einem unklaren Befund ins Krankenhaus muss – aber da entwickelte sich keine Dynamik, das plätscherte so vor sich hin. Irgendwann hatte ich die Idee, ich sollte diesen Teil der Handlung, diese Angst vor Krankheit, bei einer männlichen Figur andocken. Einem Mann, für den es kaum eine größere Kränkung gibt, als dass sein Körper ihm die Treue versagt. Damit hatte ich meinen Gegenpart – und Stück für Stück hat sich auch diese andere erdachte Familie dann mit Leben gefüllt. Es kam einfach ein Punkt, an dem fühlte sich das sehr organisch an, und das ist immer der Moment, in dem ich als Autorin merke: Jetzt fangen deine Figuren von selbst an zu agieren und zu sprechen, und du kannst dich bis zu einem gewissen Grad zurücklehnen und von ihnen überraschen lassen. Ein bisschen wie Kino.

Es gibt eine schöne Geschichte zur Entstehung des Buches. Erzählst Du sie uns?
Ja, sie handelt von Großzügigkeit. Es ist ja Fakt, dass die wenigsten Schriftsteller und Schrifstellerinnen allein von ihrer Literatur leben können, und wenn man wie ich sowohl als Journalistin die Hälfte des Familieneinkommens verdient als auch sich um Kinder kümmert, dann bleibt kaum einmal zusammenhängende Zeit, um sich in ein solches neues Projekt zu vertiefen. Nebenbei bemerkt, ich wundere mich da manchmal über die Chuzpe mancher männlicher Kollegen, die sich das offenbar viel selbstverständlicher herausnehmen. Nun, jedenfalls habe ich eines Tages mit einer Frau telefoniert, die ich bis dato nur aus einem Social-Media-Kontext kannte, und habe eher zufällig einen Stoßseufzer losgelassen: »Seit drei Jahren habe ich diesen Romananfang in der Schublade, wenn ich doch nur mal zwei Wochen ohne familiäre und sonstige Verpflichtungen hätte, um mich ganz aufs Weiterkommen zu konzentrieren, damit wäre für mich unendlich viel gewonnen!« Nach einem winzigen Zögern kam die Antwort: Also, ich habe ein Gästezimmer, ich habe sogar einen zweiten Computer, ich trage mich selbst mit dem Gedanken, ein Buch zu schreiben – wenn du möchtest, lade ich dich ein! Und dann haben mein Mann, meine Mutter und meine Kinder mir das ermöglicht. Natürlich musste ich das Material danach noch überarbeiten, aber im Wesentlichen hatte ich nach meiner Rückkehr die Hälfte des Manuskriptes fertig und konnte es anbieten. Dass mein literarisches Blind Date auch noch in Barcelona stattfand, war natürlich das Tüpfelchen auf dem i – aber ich glaube dieses Eintauchen wäre genauso in, sagen wir mal, Bielefeld oder Eisenhüttenstadt möglich gewesen.

Zum Schluss eine Frage zu Dir. Wer ist eigentlich Verena Carl?
Mit diesem Namen wurde ich geboren, und er ist und bleibt Teil meiner Identität. Bei meiner Heirat vor mehr als zehn Jahren habe ich den Nachnamen meines Mannes angenommen und trotzdem Verena Carl als Autorennamen behalten – aus pragmatischen Gründen, aber auch, weil ich ihn nicht ganz loslassen wollte. Ursprünglich habe ich eher literarische Texte veröffentlicht, später einen Schlenker ins Genre »Frauenunterhaltung« unternommen, und wollte die eine Schiene gerne von der anderen trennen. Janna Hagedorn ist also eine Kopfgeburt aus meinem zweiten Vornamen und meinem Ehe-Nachnamen – nicht ganz ich, aber auch nicht allzu weit von mir entfernt. Dass ich nun nach fünf Jahren wieder als Verena Carl einen Roman veröffentliche, fühlt sich sehr stimmig an. Denn nach mehreren federleichten Geschichten bin ich zurückgekehrt zu einer Art des Schreibens, die mir deutlich mehr entspricht. Man könnte auch sagen: zu mir selbst.

Das Interview führte Petra Gropp

Verena Carl

Verena Carl

Verena Carl wurde 1969 geboren und lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Sie lernte ihr Handwerk an der Deutschen Journalistenschule und schreibt unter anderem für »Brigitte« und »Merian«. Sie veröffentlichte zahlreiche Kinderbücher und -hörspiele und eine Reihe von Romanen. Für ihr literarisches Werk wurde sie unter anderem zweimal mit dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet. Im Frühjahr 2018 erschien ihr neuer Roman »Die Lichter unter uns«.

  • Die Lichter unter uns
    Verena Carl

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