Interviews

Quer durch die ganze Stadt

Seit 2010 findet jedes Jahr im Frühling ein besonderes Literaturfest statt. Bei »Frankfurt liest ein Buch« steht immer ein Buch im Fokus eines zweiwöchigen Veranstaltungsmarathons, der die ganze Stadt erfasst, wie uns Klaus Schöffling verrät. Wir haben uns mit ihm über die Arbeit an diesem Projekt unterhalten.

Dass eine ganze Stadt ein Buch liest, ist ja schon etwas Besonderes. Wie kam es zu dem Projekt? Was war die Ursprungsidee hinter »Frankfurt liest ein Buch«?

Das Ganze ging, wie so viele Sachen, von einem Buch aus: Valentin Sengers ›Kaiserhofstraße 12‹. Irgendwann fiel mir auf, dass das Buch nicht mehr lieferbar war. Ich hab dann Irmgard Senger, die Gattin von Valentin Senger, angerufen und sie gefragt »Was ist denn mit dem Buch?«. Das ist ja ein Buch, das einen weltweiten, großen Erfolg hatte, das hier x Auflagen hatte, das verfilmt worden ist, und und und... Und da sagt sie »Weiß ich nicht. Kümmer' dich«, wie sie halt ist. Ich hab mich dann gekümmert und festgestellt, dass es bei Luchterhand, dem Originalverlag, vergriffen war. Dort hatten sie kein Interesse mehr daran, das Buch nochmal zu machen. Ich hab mit offenen Karten gespielt, und dann hat Irmgard Senger die Rechte zurückgeholt und wir haben uns entschlossen: Okay, wir machen's neu – weil es eben ein wunderbares Buch ist. Aber: Man braucht für so etwas einen Anlass, einfach ein Buch neu zu machen, im Hardcover und zu sagen »Hier, ist toll, sofort kaufen!«, das wissen Sie selbst, das reicht nicht.

Und dann kam diese wunderbare Idee, eines Samstags in der Badewanne: Man müsste etwas erfinden, so wie in Chicago, wo die Idee herkommt – eine ganze Stadt liest ein Buch – und dass es ideal wäre, in Frankfurt mit ›Kaiserhofstraße 12‹ von Valentin Senger zu beginnen. Ich habe das mit meinen Kollegen hier im Verlag diskutiert. Alle waren ganz begeistert. Und dann bin ich brav zu Professor Semmelroth (Stadtrat Dr. Felix Semmelroth, Dezernent für Kultur und Wissenschaft) gegangen und habe gesagt: »Hören Sie, wie finden Sie das?«. Er fand das eine tolle Idee. Sag ich: »Kostet aber Geld«. Dann haben wir 'ne Weile lang herumgeruckelt und seitdem ist die Stadt Frankfurt bei einem Teil der Kosten mit dabei. Und es hat sich dann mit der Erfahrung dieses ersten Mals entwickelt, dass wir gesagt haben, dass wir das jetzt jedes Jahr machen wollen.

Das Ziel war eigentlich immer, dass man ein Buch, das ein bisschen aus dem Gedächtnis gefallen ist, wieder neu präsentieren kann. Das haben wir mit Genazinos ›Abschaffel‹-Trilogie gemacht, mit ›Ginster‹ von Siegfried Kracauer und mit Silvia Tennenbaum und dem wunderbaren Frankfurter Roman ›Straßen von gestern‹. Und auf einmal waren die Bücher wieder präsent, die zum Teil jahre- oder jahrzehntelang vor sich hingeschlummert haben oder gar nicht mehr lieferbar waren. Viele Leute haben sich erinnert und gesagt: »Toll, die gibt es wieder«. Und am allertollsten war es natürlich mit Silvia Tennenbaum, da man sagen konnte: es gibt nicht nur das Buch, es gibt auch noch die Autorin. Sie lebt ja mittlerweile in Amerika, aber wir haben sie hergeholt für drei Wochen und das war dann natürlich ein unglaubliches Wiedersehen.

Wenn man sich anschaut, wie Literarturfestivals normalerweise gemacht werden: Viele Autoren, viele Spielorte, unterschiedlichste Bücher, für jeden ist was dabei – dann ist das bei »Frankfurt liest ein Buch« ganz anders. Gibt es denn Nachahmer?

Das gibt es und das ist von uns auch sehr gewollt, wenn andere Städte das nachmachen. Es gibt es eigentlich nicht so sehr in dieser Fixierung auf eine Stadt, so wie wir das machen. Wir haben gesagt, wir wollen jetzt nicht noch ein Festival machen – eine Stadt liest ein Buch – und suchen uns dafür irgendeinen tollen Roman aus, sondern es muss einen Bezug zur Stadt geben, zur Geschichte der Stadt, zur jüdischen Bevölkerung der Stadt oder, oder, oder – das muss dabei sein. Und das haben wir bislang sechsmal ganz gut hinbekommen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass wir das auch noch ein paar weitere Male hinbekommen werden. Stuttgart hat zum Beispiel vor zwei Jahren Margriet de Moor gelesen. Tolles Buch, ja, aber mit Stuttgart hat das nun überhaupt nichts zu tun. Aber man kann es ja auch so machen. Warum nicht? Wenn man damit eine Stadt zum Tanzen bringt, auf die Art, warum nicht?

Und wie läuft die Vorbereitung? Wie viel Arbeit bedeutet das alles?

Das ist relativ viel Arbeit. Damals war der Rat der Stadt: »Gründet einen Verein, damit ihr gemeinnützig seid. Dann habt ihr keinen Ärger mit dem Finanzamt, mit Steuer und dergleichen.« Es gibt also einen Verein, der heißt Frankfurt liest ein Buch e.V. – und der organisiert alles. Es gibt die wundervolle Sonja Gülk, die intern alles abwickelt, und es gibt mit Lothar Ruske jemanden, der das Programm in Zusammenarbeit mit dem Verein entwickelt. Der Einstand ist ein großes Fest in der Deutschen Nationalbibliothek, das ist immer innerhalb von zwei Tagen ausverkauft. Und es gibt ein großes Abschlussfest. Dazwischen finden dann zahlreiche Veranstaltungen statt, dieses Jahr sind es an die hundert; manchmal waren es um die siebzig, das ist der Rahmen. Das geht häufig quer durch die ganze Stadt: von allen Buchhandlungen, die sich beteiligen, bis hin in zu 13 Schulen, die in diesem Jahr wegen Anne Frank und der Familie Frank mit dabei sind. Alle Theater, Museen, die Oper, die Universität, die Museen, allein drei Ausstellungen in diesem Jahr – es ist wirklich die ganze Stadt! Deswegen stimmt das, was Alexander Cammann in der ZEIT gesagt hat, und was wir jetzt überall stolz zitieren: »Deutschlands wunderbarstes und sinnvollstes Lesefest!«. Dieser Satz war der Ritterschlag. Aber bei all der Arbeit macht es einen Heidenspaß, die Sache zu organisieren. Und es lohnt sich auch, wir haben Tausende Besucher. Wir können Bücher ganz anders präsentieren, Inhalte ganz anders präsentieren – so wie wir es in diesem Jahr mit Mirjam Pressler machen, die ja wie eine Verrückte unterwegs sein wird und bald jeden Tag drei Termine hat. Ich bewundere sie.

Das ganze Projekt ist jetzt im sechsten Jahr – hat sich in dieser Zeit etwas verändert?

Nicht sehr viel, genau betrachtet. Eigentlich ist die Struktur immer gleich geblieben; ungefähr so, wie ich es eben skizziert habe. Ich hatte gedacht, es gäbe mehr Vorschläge aus der Stadt heraus – von Lesern, von Verlagen –, die uns mit Büchern auf den Keks gehen und sagen »Wie wärs denn damit?«. Es ist so, dass die Vorschläge alle vom Verein entwickelt worden sind. Und damit sind wir aber ganz gut gefahren, weil wir feine Entdeckungen gemacht haben wie ›Ginster‹ von Kracauer oder ›Die Straßen von gestern‹ von Tennenbaum. Bücher, die kaum jemand mehr gekannt hat. Man kann auch an den Orten ganz andere Sachen zeigen. Zum Beispiel die Wohnung, in der Kracauer viele Jahre gelebt hat, die gibt es noch. Wir haben die Eigentümer der Wohnung dann gefragt, ob man mal rein kann, ob wir bei ihnen in ihrem Wohnzimmer eine Veranstaltung machen dürfen. Und die waren begeistert, sagten »natürlich« und »selbstverständlich« und haben sogar Getränke bereitgestellt und dann saßen wir mit vierzig Leute im Wohnzimmer und die Inhaber zeigten uns Details der Wohnung, die Kracauer noch gesehen haben muss, weil sie seit dieser Zeit unverändert geblieben sind. Das sind natürlich tolle Erlebnisse und so etwas kann man mit Anne Frank in diesem Jahr auch machen, da es die beiden Wohnungen von ihr im Marbachweg und in der Ganghoferstraße ja noch gibt.

Sie haben in den letzten sechs Jahren drei Bücher von Schöffling & Co. und je eines von Hanser und Suhrkamp im Programm gehabt; in diesem Jahr dann auch eines von S. Fischer. Ursprünglich ging die Initiative zu »Frankfurt liest ein Buch« vom Verlag Schöffling & Co. aus. Gibt es denn einen Unterschied in der Arbeit mit den Büchern?

Nein. Der Verein ist ja als solcher unabhängig und sitzt nur deshalb hier an derselben Adresse wie Schöffling & Co., weil wir dem Verein kostenfrei ein Büro zur Verfügung gestellt haben, damit die auch einen Ort haben, an dem sie unterkommen können. Es ist eigentlich auch egal, welcher Verlag das ist. Dass es nun dreimal Schöffling & Co. war, liegt daran, dass sowohl bei Senger, als auch bei Tennenbaum die ursprünglichen Verlage die Bücher eben nicht mehr auflegen wollten. Die sagten zu uns: »Nö, bei uns sind die durch. Die Sache ist erledigt« und dann haben wir wiederum gesagt: »Okay, wenn ihr uns die Rechte gebt, dann machen wir das halt und dann sind die Bücher wieder da.« Bei Eckhard Henscheid und den ›Vollidioten‹ war es so, dass es das Buch im Buchhandel nie gegeben hatte, das war immer bei Zweitausendeins. Wir hatten es dann einzeln, als eine sehr kurze Lizenz für den Sortimentsbuchhandel, die auch vor kurzem im Februar abgelaufen ist. Wir hatten das Buch nur für ein Dreivierteljahr, aber das hat ja bestens ausgereicht.

Wie sieht es mit der Resonanz aus? Gibt es Rückmeldungen aus der Stadt, von den Frankfurtern? Welchen Einfluss hat so ein Projekt auf die Stadt und ihre Einwohner?

Es gibt wirklich ganz tolles Feedback; wir kriegen sehr viel Post und es gibt sehr viele, die uns direkt ansprechen. Viele Leute sind sehr dankbar und sagen uns, wie toll es sei, dass sie Frau Tennenbaum nochmal sehen konnten oder wie wunderbar es ist, dass die ›Vollidioten‹ überhaupt mal im regulären Buchhandel zu haben waren. Die Stadt liebt dieses Festival, das ist mein Eindruck – und nicht ohne Grund steht die Stadt voll hinter uns. Und das gibt uns, mit dem, was wir tun, natürlich ein richtig gutes Gefühl.

Gibt es schon Pläne für nächstes Jahr?

Gibt's, darf ich aber noch nicht sagen! Es werden natürlich langfristige Pläne gemacht. Es wäre schön, bestimmte Autoren einfach anzusprechen; Autoren, die auch in Frankfurt leben. Das muss man aber sehr genau über Jahre hinweg vorbereiten und steuern, damit es dann hinterher auch passt. Vielleicht gibt es ja auch mal ein neues Buch, das dazu auch noch in Frankfurt spielt. Das wäre die Idealvorstellung.

 

Frankfurt liest ein Buch
Alle Veranstaltungen und weitere Informationen zu »Frankfurt liest ein Buch«:
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