Interviews

»Russland besteht nicht nur aus seinen Anführern«

Catherine Merridale hat ein großes Buch über die lange Geschichte der russischen Machtzentrale geschrieben. Im Interview erzählt sie, wie uns diese beim Verständnis der aktuellen Krise helfen kann und welche Schwierigkeiten sie bei der Recherche im Kreml hatte.

Wie entstand Ihr Interesse an Russland?

Es lag an der Sprache. Als Teenager riss ich nach Frankreich aus und beherrschte die Sprache bei meiner Rückkehr fließend. Auf meiner Schule sagte man mir dann, ich solle noch eine weitere Sprache lernen. Meine Lehrerin, eine Philologin, schlug Russisch vor, weil es sie als europäische, doch von nichteuropäischen Faktoren beeinflusste Sprache interessierte. Meine Leidenschaft begann mit der erstaunlichen Flexibilität des Russischen, der Beweglichkeit, der unerwarteten Brillanz und dann der Literatur. Ich bin vielleicht nicht imstande, selbst die Funken sprühen zu lassen, doch ich bin gut genug, um das Wunder des Russischen, geprochen von einer gebildeten Person, zu schätzen zu wissen.

Wie erklärt sich der Fokus, den Sie in Ihren früheren Büchern auf die Menschen und die »Oral History« legen?

Ich studierte Geschichte und promovierte am Centre for Russian Studies in Birmingham bei RW Davies. Es war ein extrem empirisches, auf Zahlen ausgerichtetes Institut, sehr rigoros. Ich hatte mich mit recht schnörkelloser Politikgeschichte beschäftigt, aber ich erinnere mich an eine hitzige Diskussion darüber, wie viele Menschen wohl im Lauf der Säuberungen umgekommen waren: 1,3 oder 1,7 Millionen? Ich kümmerte mich zu der Zeit um eine Freundin, die im Sterben lag, und machte mir in erster Linie Gedanken darum, wie sich die Menschen fühlten. Ich wollte mit Menschen sprechen. Warum dann dieses Buch, das sich stattdessen einem Ort widmet? Die Antwort, durch die ich das Stipendium erhielt, lautete, dass ich die Basis untersucht hätte und nun einen Blick auf die Täter werfen wolle. Doch nach jahrelangen Forschungen über die Opfer war die Vorstellung, mich mit den Lageraufsehern oder den Henkern zu befassen, körperlich so abstoßend, dass ich mich nicht dazu überwinden konnte. Seit meinem ersten Besuch in Russland hatte ich mir immer gewünscht, etwas über die »Langstrecke« zu tun.

Was den Kreml angeht, handelt es sich um eine Art Hassliebe, etwas Abstoßendes und Zwanghaftes zugleich. Wie schwierig war es, über den Kreml im Verlauf seiner Geschichte zu schreiben?

Es war unglaublich anstrengend, ein Albtraum. Ich hatte verschiedene historische Ortsbeschreibungen gelesen. Zuerst dachte ich, dass ich eine produktive, möglicherweise sogar schöne Methode gefunden hätte, um Geschichte zu betrachten und tiefschürfende Fragen zu stellen. Es schien mir ein guter Kniff zu sein, doch das Projekt erwies sich als veritables Monster. Sich durch tausend Jahre Geschichte durchzubeißen überfordert jeden, und ich wusste, dass ich für Kritik von Seiten all der Experten für die verschiedenen Epochen angreifbar sein würde. Das Schwierige daran ist es, den Ort als Helden des Buchs beizubehalten, gerade wenn dieser sich so stark wandelt und - vor allem - wenn seine Bewohner so unglaublich schillernd sind. Außerdem sollten die Leser in Schwung gehalten werden. Es war ganz in Ordnung, dass der Kreml über einen langen Zeitraum hinweg nicht als Sitz der russischen Macht diente. Ich habe verlassene Orte und Ruinen recht gern. Das gab mir Gelegenheit, über andere Dinge nachzudenken, die der Kreml versinnbildlichte, so konnte ich auch auf Kunst und den russischen Nationalismus eingehen.

Was ist die These des Buches?

Manche verstehen es nicht oder finden keinen Gefallen daran, doch meine Message lautet: Wir müssen jede Generation russischer Führer so nehmen, wie sie ist. Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass Russland vom Schicksal ein besonderer Weg beschieden sei und es niemals von diesem abweicht; dass es eine russische Vorsehung gibt. Das ist eine Theaterinszenierung. Schauen Sie sich die heutige Krim an: Auf der einen Seite spielen geopolitische und strategische Erwägungen eine Rolle, auf der anderen gibt es die Geschichte. Aber das sind Wladimir Putin und seine Berater, die Entscheidungen in einem ganz neuen Kontext treffen. Jegliches Gefühl von Kontinuität ist eine Illusion. Nehmen wir mein Lieblingsbild im Kreml: Das Bild am Kopf der Treppe im Großen Kremlpalast ist ein enormes Gemälde einer Schlachtszene. Doch es hängt nicht dort, weil es schon immer am selben Platz gewesen wäre. Man brachte es aus der Tretjakow-Galerie herbei, um ein exakt gleich großes Gemälde von Lenin zu ersetzen, das dort bis 1991 gehangen und seinerseits ein vor der Revolution angebrachtes Porträt von Alexander III. abgelöst hatte. Man hatte etwas finden müssen, um die Lücke zu füllen.

War es schwierig, Zugang zu den Kreml-Archiven zu erhalten?

Zu Anfang schien es ein unüberwindbares Problem zu sein. Ich dachte: »Worauf habe ich mich da bloß eingelassen?« Ich erkundigte mich bei russischen Historikern und Museumsdirektoren, und alle waren sehr skeptisch, was meine Chance auf einen Zugang betraf. Man kämpft darum, reingelassen zu werden, und glaubt, dann die Einzige zu sein – doch wenn man den Raum betritt, stellt sich heraus, dass noch dreißig andere dort arbeiten. Alles hängt davon ab, seriös zu sein und nicht zu lügen. Schließlich gab man mir einen Leseausweis für eine Woche, und am Mittwochnachmittag wurde ich sehr nervös, denn meine Frist lief ab (donnerstags war das Archiv immer geschlossen, weil das Politbüro dann zusammenzutreten pflegte). Doch dann wurde mir mitgeteilt, ich dürfe so lange bleiben, wie ich wolle. Das ist typisch russisch: Wer sich durchgekämpft hat und als Forscher ernst genommen wird, für den funktioniert es irgendwie. Das Fenster des Glockenturms »Iwan der Große« blickt auf den Senatspalast, den Amtssitz des Präsidenten, hinaus, doch die Sicht wird durch eine große Schusterpalme versperrt.

Was hat Sie bei Ihren Recherchen am meisten überrascht?

Mein Gang durch die verlassene, im 14. Jahrhundert errichtete Kirche des heiligen Lazarus. Ich dachte, dass ich innerhalb des Kremls keine verschlossenen Gebäude zu Gesicht bekommen würde. Aber dann fragte mich jemand an einem jener zutiefst russischen Tage, ob ich denn an einem Rundgang interessiert sei. Man weist Angebote von wohlmeinenden Russen auf keinen Fall zurück. Mehrere prächtige Schlüssel und eine Kneifzange kamen zum Vorschein, und wir machten uns auf den Weg. Am Ende der Besichtigung betraten wir die Kirche des heiligen Lazarus. Ich hatte erwartet, dass alles sauber und ordentlich sein würde. Es war verblüffend, eine  Zange benutzen zu müssen, um die Tür zu einer vergessenen, wiederentdeckten und dann erneut verloren gegangenen Kirche zu öffnen – beinahe so, als befänden wir uns in einem informellen Museum der Vergangenheit Russlands. Ärgerlich war nur, dass ich keine Kamera mitnehmen durfte.

Empfanden Sie es als beängstigend, im Kreml zu arbeiten?

Es gibt ein beängstigendes Element, das vielleicht vom Kreml selbst gefördert wird: durch seine Lage, seine Geographie und die Tatsache, dass er auf einem Hügel liegt und man durch Tore schreiten muss. Dabei bieten sich allerlei Gelegenheiten, um die Leute zu schikanieren. Manches leuchtet ein, weil es dem Schutz vor Terrorismus dient, aber auch kleine Gemeinheiten sind unverkennbar. Das ist meiner Meinung nach durchaus beabsichtigt. Der Kreml soll bewirken, dass man sich klein vorkommt. Ich befragte alle möglichen Leute, die dort wohnten und arbeiteten, und sie erklärten mir, dass jeder der ins Innere der Mauern gelangt, sich anders fühle, wegen der Geschichte und dem Schicksal des Ortes. Ein wirklich wichtiges Detail ist, dass der Kreml einem als Versteck dient; man kann mit manchen Dingen ungeschoren davonkommen. Sobald man die einen ein- und die anderen aussperrt, ist es, als ob die im Inneren gefangen sitzen. Mein Traum wäre es, wenn der Kreml geöffnet würde, als wunderbares Weltmuseum der Tyrannei.

Wurden Ihren Recherchen irgendwelche Hindernisse in den Weg gestellt?

Die Hauptgefahr für meine Arbeit waren eigentlich die Katzen im RGADA, dem Russischen Staatsarchiv für alte Urkunden. Dort hält man eine Schar von »Arbeitskatzen« zur Bekämpfung der Mäuse. Die sind so draufgängerisch, dass man sie von den Dokumenten hinunterfegen muss. Eine pinkelte mich sogar voll, mein Regenmantel war ruiniert.

Welche Relevanz haben Geschichtswerke wie dieses für das Verständnis der heutigen Krise?

Heute ist es wichtiger denn je, die russische Geschichte und Kultur zu verstehen. Zum einen müssen wir die Hintergründe der gegenwärtigen Krise kennen – das liegt auf der Hand. Doch ich kann nicht stark genug unterstreichen, dass Geschichte sich nicht einfach wiederholt. Was wir zur Zeit erleben, ist keine irgendwie geartete Neuauflage früherer Ereignisse. Das Ganze muss an seinen eigenen Maßstäben gemessen und aus sich selbst heraus begriffen werden. Die Geschichte ist dann wirklich von Belang, wenn ein tieferes Verständnis erzeugt werden soll, und genau das werden wir in Zukunft benötigen, sobald wir unsere Beziehungen zu Russland neu knüpfen. Doch wir benötigen sie auch heute, und zwar wirklich dringend. Russland besteht schließlich nicht nur aus seinen Anführern.

Was ist Ihr nächstes Projekt?

Ich arbeite an einem neuen Buch, aber wenn ich Ihnen sagen würde, worum es geht, müsste ich Sie umbringen...  

Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
Teile dieses Interviews erschienen zuerst im Blog von www.waterstones.com

Catherine Merridale

Catherine Merridale

Die renommierte Russlandhistorikerin Catherine Merridale arbeitete bereits für ihre Dissertation über die KP unter Stalin an der Universität Moskau. Sie promovierte 1987 in Cambridge und war anschließend Dozentin am King’s College/Cambridge.
Ab 1993 war sie Professorin für Geschichte an der Universität Bristol, seit 2004 lehrt sie an der Queen Mary University/London. 2007 erschien bei S. Fischer ihr Buch ›Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939–1945‹.