Ihr letzter Roman, ›Teil der Lösung‹ (2007), war ein großer Berlin-Roman, die Stadt selbst spielte eine Hauptrolle. Es ging um das Berlin der Nullerjahre, in denen die neue Berliner Republik erste Gegenwehr und Aufstände erlebte, Überwachungskameras wurden von Steinewerfern attackiert. Nun, acht Jahre später, sagen Sie, Berlin sei für Sie auserzählt. Der neue Roman, ›Das bessere Leben‹, spielt in São Paulo, Mailand und Turin, Lugano und Zürich, Amsterdam, nach China führt der Weg. Ist Berlin nicht mehr der passende Ort für ein Bild unserer Zeit? Gibt es nicht mehr die eine Stadt, in der sich unser gegenwärtiges Leben spiegelt?
Vielleicht war ›Teil der Lösung‹ auch eine Form des Abschieds, von einer Stadt, Lebensweisen, Denkmustern, politischen Haltungen, die für mich unauflöslich miteinander verbunden gewesen sind. Als Momentaufnahme von etwas, das es schon heute nicht mehr gibt, und nicht nur biographisch.
Nun ist Berlin zwar Regierungssitz und zudem eine Touristenmetropole geworden, aber keine Global City, kein Ort, an dem immense Kapitalströme, ein bestimmtes Produktionsvolumen, Menschenmassen auf der Suche nach Lohnarbeit, Entrepreneure und Glücksritter aller Art aufeinandertreffen würden. Wo es um andere Geschichten geht, andere Risiken und Geldsummen auf dem Spiel stehen, andere Kalkulationen angestellt werden als die uns hier geläufigen. Gott sei Dank ist Berlin noch keine dieser Global Cities – wenn man an London, Schanghai oder São Paulo denkt –, in denen der Preis, den man fürs schiere Überleben zu zahlen hat, einen Tag und Nacht am Rotieren hält; aber eben auch nicht mehr typisch für die Gegenwart, eher eine, und dafür lassen sich verschiedenste historische Gründe benennen, übriggebliebene Exklave, die bis jetzt ein wenig aus der Zeit gefallen zu sein scheint. So angenehm, was die Kosten betrifft, so trügerisch, wenn man die Berliner Realität mit der einer Welt auf der gnadenlosen, absolut unausweichlichen Jagd nach Renditen verwechselt.
Wobei die Frage, welchen Preis man bereit ist zu akzeptieren, um nicht aus dem Rennen zu geraten, um nicht zu verlieren, was man für ein gutes Leben zu brauchen glaubt, zu beantworten wäre und ebenso die Frage, was das sei für einen, ein gutes oder ein besseres Leben, an einen Ort, in eine Stadt, eine Situation verschlagen, die von den Gesetzen einer globalisierten Wirtschaft und Wertschöpfung beherrscht wird und wenig Raum lässt für Spekulation und ausgedehnte Träumereien.
Können Sie noch sagen, wann und wie dieser neue Roman Gestalt angenommen hat? Was war zuerst da?
Noch vor dem letzten Roman, vor zehn Jahren, war eine Figur da, ein Sales Manager, ein Name, ein paar Episoden, aber noch keine Geschichte, keine Struktur, keine Sprache. Dazu eine Installation der großartigen amerikanischen Künstlerin Renée Green, die mich sehr beeindruckt hatte und um Ereignisse kreiste, die 1970 auf dem Campus der Kent State University bei Studentenprotesten gegen den Einmarsch amerikanischer Truppen nach Kambodscha stattfanden, Neil Young hat darüber den Song ›Ohio‹ geschrieben. Damals wurden vier Studenten erschossen, und mir kommt es so vor, als sei das eine der ersten politischen Nachrichten gewesen, die ich bewusst wahrgenommen habe, die mich, wenn man so will, mit geprägt haben. Zudem mein Interesse für neue Formen von Kreditgeschäften, Hedgefonds, Private Equity, Konkurrenzverhältnisse auf Märkten, die nicht mehr national begrenzt sind, bestimmte Grauzonen zwischen legaler Kapitalvermittlung und raffiniertem Betrug, die früher, noch in den achtziger Jahren, undenkbar waren, selbst als Möglichkeit, technische und praktische Möglichkeit, nicht existierten. Also verschiedenerlei, auf den ersten Blick einigermaßen Auseinanderliegendes, für das ich weder einen Plot noch eine ordnende Idee hatte (was vielleicht ein und dasselbe ist), also blieb das Material in einem Notizbuch, und ich habe zuerst ›Teil der Lösung‹ geschrieben, dann die Frankfurter Poetikvorlesungen, deren letzte sich genau dieses Material wieder vornahm, um über einen zukünftigen Roman nachzudenken – und plötzlich tauchten andere Figuren auf, die mit diesem Sales Manager in Verbindung standen bzw. stehen sollten, so dass nach und nach sowohl Idee als auch eine Fabel sich herausbildeten, während ich zugleich anfing, nach einer Sprache, einer Syntax zu suchen, in der die Geschichte zu erzählen wäre, als Voraussetzung wie als Konsequenz – nur so kann das, was mir vorschwebt, ausgedrückt werden.
Ihre Romane, ›Die Sünden der Faulheit‹, ›Stefan Martinez‹, ›»Alle oder keiner«‹, ›Bryant Park‹, ›Teil der Lösung‹, scheinen mir wie Schnitte durch die jeweilige Gegenwart. ›Das bessere Leben‹ schickt seine Helden durch Länder und über Kontinente, verstrickt sie in internationale Geschäfte und dubiose Deals. Wie lässt sich unsere undurchschaubare Gegenwart in einen Plot fassen?
Rolf Dieter Brinkmann hat Anfang der siebziger Jahre gefragt: »Wer ist der Direktor dieser sogenannten Wirklichkeit?« Ob es nun einen Direktor gibt oder nicht – gibt es einen?, wen?, in wessen Auftrag handelt er? –, unabhängig davon finde ich es mehr als interessant und legitim, Zusammenhänge zu suchen oder zu unterstellen für Dinge, die räumlich und zeitlich nicht unbedingt benachbart sind, dieses auf jenes zurückzuführen bei dem Versuch, sich auf die Verhältnisse einen Reim zu machen. Um sich zu erklären, was einem zustößt und warum man so und nicht anders handelt, gehandelt hat. Vielleicht ist die Gegenwart weniger undurchschaubar, als man meint, man darf und sollte den Begriff undurchschaubar nicht verwechseln mit der Unfähigkeit zum Überblick; wobei allerdings diejenigen, die ihn zu haben glauben, den Überblick, die Checker, oft paranoide Züge an den Tag legen, alles als determiniert betrachten, wo doch nur der Zufall regiert hat.
Das gilt sowohl im Privaten, Individuellen, als auch bei dem, was man gemeinhin historisch nennt – was ist notwendig geschehen, unausweichlich sozusagen, was nur eine Kette dummer oder unglücklicher Zufälle ohne jeden höheren Sinn?
Jochen Brockmann ist ein Sales Manager, der abzustürzen droht. Wie wurde er zu Ihrer Hauptfigur?
Durch Geschichten, die ich gehört, gelesen habe, die mir erzählt wurden, durch persönliche Beziehungen, einen vergleichbaren biographischen Hintergrund. Ein alter Freund auf der einen und ein Bekannter auf der anderen Seite, hier ein Head of Sales und dort einer, der sich selbst als Spekulant bezeichnet und bei seinen Engagements immer höchstes Risiko geht, bzw. gegangen ist, und die Schäfchen heute im Trockenen hat (obwohl er es nicht bleiben lassen kann, immer wieder verwickelte Deals einzufädeln, für die ich zum Beispiel überhaupt nicht die Nerven hätte, geschweige denn das Geld) – die beiden waren Quellen der Geschichte, die dann ihr Eigenleben begann und zum Roman wurde, zu einem Plot mit drei Hauptprotagonisten, Brockmann, Angelika Volkhart, Sylvester Lee Fleming.
Und wer ist dieser schillernde Sylvester Lee Fleming? Wo kommt er her?
Aus der Tiefe der Zeit vielleicht, oder aus dem Irrenhaus, oder aus der Wirklichkeit einer Welt von globalen Finanztransaktionen, Risikokapital, internationalen Sicherheitsfirmen, die unter Ordnung und Investitionsklima etwas fundamental anderes verstehen als wir. Aber ich kann jetzt natürlich nicht verraten, worin seine Rolle im Detail besteht, es sieht jedenfalls so aus, als sei er schon länger in Geschäften unterwegs, die sowohl unser Erstaunen als auch einen gar nicht so geringen Schrecken hervorrufen.
›Das bessere Leben‹ ist aber nicht nur ein Kaleidoskop unserer Zeit, sondern zugleich eine Geschichte des 20. Jahrhunderts. Splitter von Bildern, Erinnerungen, Daten, Ereignissen des letzten Jahrhunderts blitzen immer wieder auf. Inwiefern sind diese Stränge, das Vergangene und die radikale Gegenwart, miteinander verbunden?
Was tut man, was hat man getan für ein besseres Leben? Wer hat ein Anrecht darauf? Wie wäre es zu erlangen, welche Kämpfe und Auseinandersetzungen sind im letzten Jahrhundert geführt worden, um es möglich zu machen, war alles vergeblich, wer erinnert sich, wen kümmert es? »Who owns history?«, fragt Renée Green auf einem Monitor in ihrer Installation, und gleich darauf: »Who cares?« Das Bewusstsein davon, dass die Zukunft eine Sache gemeinsamer Anstrengungen ist und nicht die Folge von unausgesetzter Selbstoptimierung, individuellem Geschick, permanenten Assessment-Tricks aus dem Netz, scheint im Augenblick ein wenig in den Hintergrund gerückt, und ebenso, welche Opfer es gekostet hat, dahin zu kommen, wo wir sind. Welchen Verirrungen und welchen Irrtümern man aufgesessen ist, quer durch das, was man Gesellschaft nennt, und welche Optionen der Einzelne heute, in unseren postideologischen Zeiten, überhaupt noch hat, sich anders zu orientieren, als einen besser bezahlten Job zu finden, kurzum, was das sein könnte, ein besseres Leben, jenseits persönlicher Ambitionen, die einen völlig an den Augenblick gefesselt halten. Das alles schwingt mit in der Erzählung, ist mit den Protagonisten und ihren Bekanntschaften auf jeweils eigene, so zufällige wie notwendige Weise verknüpft, Ohio 1970, Moskau 1936, Frankfurt bzw. Berlin Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre. Wenn man will, eine Art von kosmischem Rauschen, das man hören kann, wenn man ein Sensorium dafür besitzt. Während die Handlung ganz in der unmittelbar vergangenen Gegenwart verbleibt, Mai, Juni 2006 – Brockmann, der für eine italienische Maschinenbaufirma als Head of Sales Southeast Asia arbeitet, steht unter Druck, einen Großauftrag in Indonesien an Land zu ziehen, Fleming ist in dubiose Aktivitäten in Brasilien verstrickt, Angelika Volkhart fertigt als Leiterin einer Reedereifiliale in Amsterdam Eisenerztransporte rund um die Welt ab. So entfernt die Figuren nicht nur räumlich voneinander zu sein scheinen, sind sie dennoch durch sich kreuzende Geschichten miteinander verbunden und werden sich im Laufe des Romans begegnen, als mögliche Geschäftspartner, Liebende, Verschwörer, deren Motive, so unterschiedlich sie sein mögen, eines gemeinsam haben, die unausgesprochene Frage nämlich, warum man so lebt, wie man lebt. Und was man bereit ist zu tun, um weiter dabei zu sein, im Kampf um einen Platz an der Sonne.
Das Leben ist ein Spiel, dessen Regeln wir nicht immer durchschauen. Ist das der Grund dafür, dass der Roman nicht an jeder Stelle alles erklärt? Der Leser weiß nicht immer genau, wer wie in welche dubiosen Geschäfte verwickelt ist.
Das glaube ich zwar nicht, aber in den Grauzonen, von denen ich oben sprach, verwischen sich manchmal die Konturen der Urheber und die Verantwortlichkeiten, versuch doch mal, die Geldströme zu verfolgen und zuzuordnen, die tagtäglich in rasender Geschwindigkeit um den Globus kreisen. Selbst die Profis in den Backoffices von großen Banken haben damit gelegentlich Schwierigkeiten, wie sie mir bei Recherchen berichtet haben: Von wem stammt das Geld, wo geht es hin, zu welcher Transaktion gehört es eigentlich? Was für uns phantastisch klingt, ist für andere die Normalität, mein Spekulant, der ein Pendant im Buch hat, das eine Fischfabrik in Eritrea aufziehen will, hat mir Geschichten von solch einem Aberwitz erzählt, dass man glaubt, es handele sich um eine Farce und nicht um eine Operation, bei der buchstäblich Millionen an investiertem Kapital auf dem Spiel stehen.
Wie sehr ist dieser Roman an Ihre eigenen biographischen Erfahrungen gebunden? Wie sehr erwächst er aus Ihrer eigenen Sozialisation?
Das Buch hat bzw. hatte natürlich viel, oder alles, mit meinen Interessen zu tun, dem, was ich in den letzten Jahren gelesen habe, wem ich begegnet bin, mit Vorlieben und Neugier auf einen bestimmten Stoff, Storys, und dann der Frage, wie die sich erzählen lassen. Dass Brockmann aus Krefeld kommt, hat den simplen Grund, mir Erkundigungen ersparen zu können, aber vielleicht, wer weiß ... ist er auch ein Alter Ego, das ich mir nach dem Modell meines Freundes anverwandelt habe, was wäre gewesen, wenn ... ich als Jurist oder Kaufmann …
Alle Figuren Ihres Romans, der Sales Manager Brockmann wie die leitende Angestellte einer Reederei Angelika Volkhart, die alte Russischlehrerin Frau Gerlach wie Flemings Kompagnon Ángel, fragen sich, was diese Welt eigentlich zusammenhält: Träume, Utopien, Geld, der Teufel? Gibt es einen Fortschritt? Wie viel Spielraum hat der Einzelne? Oder ist doch alles Zufall? Das sind Grundfragen Ihres Romans. Sind Sie im Laufe der Arbeit zu Antworten oder neuen Perspektiven gekommen?
Das sind Fragen, die der Leser, die Leserin beantworten müsste, ich bin eher derjenige, der sie in einer, wie ich hoffe, spannenden Geschichte zur Disposition stellt.
»Gott lacht über Pläne.« So heißt es an einer Stelle. Das klingt unheimlich. Was heißt es?
Wir haben die Freiheit zu wählen, zumindest denken wir das, sollten aber nicht glauben, wir wären absolut frei in unseren Entscheidungen, selbst nicht im Idealfall, oder? Vor wem haben wir uns zu verantworten bei unserem Tun, das bewegt mich, vor unseren Nächsten, vor der Geschichte oder etwa doch vor einer Instanz, die unserer Erkenntnis entzogen ist?
Was macht der Autor Ulrich Peltzer, nachdem die jahrelange Arbeit an diesem Roman abgeschlossen ist?
Geld verdienen, verdammt, Entschuldigung. In Cornell unterrichten jetzt im Frühjahrssemester. Aber, zugestanden, es gibt weitaus Schlimmeres. Das ist schon fast, na ja, nicht ganz, aber fast, wie Urlaub, verglichen mit der Arbeit der letzten Monate. Zumal ich das sehr gerne mache, unterrichten, und dann noch an so einem idyllischen Ort wie Ithaka.
Interviews
Ulrich Peltzer im Gespräch
Für Ulrich Peltzers neuen Roman ›Das bessere Leben‹ spielte eine Installation der Künstlerin Renée Green eine wichtige Rolle. Warum das so ist und warum sein Buch in der ganzen Welt spielen muss, erklärt er im Interview mit seiner Lektorin Petra Gropp.