Interviews

»Wir leben nicht in apokalyptischen Sackgassen...«

Stephan Rammler ist einer der bekanntesten Mobilitätsforscher des Landes. Im Gespräch mit ihm geht es um die Macht der Anfänge über die Zukunft und wie wir es schaffen können, schon heute die richtigen Entscheidungen für morgen zu treffen.

Sie sind Mobilitäts- und Zukunftsforscher. Wie kommt man zu so einem Beruf?
Neigung und Zufall, würde ich sagen. Das eine ist, dass ich mich als Politikwissenschaftler und Ökonom schon von Studienzeiten an für das Thema Mobilität interessiert habe – ganz einfach, weil es ein analytisch wie politisch ausgesprochen komplexes und spannendes Thema ist. Ich habe Wissenschaft nie nur l’ art pour l' art betrieben. Wissenschaft war für mich immer auch der Versuch, Gesellschaft besser zu verstehen, um diese dann letztendlich auch zukunftsfester und ökologischer gestalten zu können. Das Thema Mobilität war in den Neunziger Jahren, als ich studiert habe, ein zentrales Thema in der ökologischen Debatte. Das war sicherlich der eine Grund.
Der andere, der übrigens auch dazu geführt hat, dass ich über das Thema Mobilität und Moderne promoviert habe, ist folgender: Es gehört einfach zum soziologischen und philosophischen Verständnis moderner Kultur- und Gesellschaftsentwicklung dazu, das Phänomen der Mobilität zu begreifen. Weil es im tiefsten Inneren etwas mit Mobilisierung zu tun hat. Und wenn man diese Perspektive nicht einnimmt, dann springt man auch soziologisch zu kurz im Verständnis moderner Kultur. Und andererseits: Wenn man nicht begreift, dass Mobilität eine der zentralen Triebkräfte moderner Kulturen ist, wird man auch nicht begreifen, wo die Grenzen einer nachhaltigen Gestaltung dieses Bereichs sind – und wo die Anhaltspunkte dafür zu suchen sind. Das ist in vielfältiger Hinsicht einfach unheimlich spannend.
Zwischen 1992 und 1993 ging ich dann fürs Studium in die USA und war sehr beeindruckt von der amerikanischen Mobilitätskultur, über die ich dann auch gleich meine Diplomarbeit geschrieben habe. Und so rutscht man dann eben rein. Das Thema bewegt die Menschen unglaublich, im wahrsten Sinne des Wortes, weil jeder Experte in eigener Sache ist und mitreden kann. Mobilität ist ja letztendlich auch ganz stark mit dem Thema Auto verbunden. Und das ist eines der facettenreichsten und schillerndsten Geräte, das wir jemals erfunden haben. Allein über die Soziologie des Automobils könnten wir stundenlang reden. Eines der zentralen, paradigmatischen Gestaltungsfelder einer Nachhaltigkeitspolitik oder der Frage der ökologischen Transformation unserer modernen Kultur ist der Bereich der Mobilität. Das ist der Dreh- und Angelpunkt. Wenn wir es hier schaffen, schaffen wir es in allen anderen Bedürfnisfeldern. Wenn wir es hier nicht schaffen, dann können wir es gleich lassen.

Sie haben eben Nachhaltigkeit und ökologische Transformation erwähnt, das sind Begriffe, unter denen sich viele nur schwer etwas Konkretes vorstellen können oder die so allgegenwärtig geworden sind, dass sie ihre ursprüngliche Bedeutung verloren haben. Können Sie uns erklären, woran Sie genau arbeiten?
Naja, mir geht es bei der Frage der Mobilität immer um die Frage einer zukunftsfähigen, nachhaltigen Ausgestaltung der Mobilität, will heißen: Wir leben in einer Kultur, die sich auf der Basis eines kulturellen und sozialen Einverständnisses darüber entwickelt hat, dass wir die Umwelt ausbeuten und verschmutzen. Wir leben in einer expansiven Gesellschaft, einer expansiven Moderne, wie Harald Welzer sagen würde; also in einer Kultur, die ihren Wohlstand und auch ihre soziale Sicherheit in weiten Teilen zumindest der westlichen und nördlichen Industriegesellschaften auf der Basis einer massiven, systematischen Ausbeutung von natürlichen Ressourcen zu verdanken hat. Das war viele Jahrzehnte lang plausibel, rational und vernünftig, weil es einfach genügend dieser Ressourcen gab. Die Emmissionsproblematik war damals nicht so groß, ob nun beim Thema Klima, lokalen Emissionen, oder eben dem Müll.
Wenn nun ein oder zwei Milliarden Menschen auf der Erde leben und Schmutz machen, dann ist das schon schlimm genug. Aber wenn zehn Milliarden Menschen auf der Welt leben und einen ähnlichen Ansatz der Bedürfnisbefriedigung haben wie unsere westlichen Mittelschichtskulturen, dann ist relativ schnell erklärt, dass das auf Dauer so nicht gut geht, weil die Ressourcen zu knapp werden, weil es Knappheitskonflikte geben wird und weil die Emissionslage in allen Bereichen so schlecht werden wird, dass die Menschen keine lebenswerte Umwelt mehr haben. Das, was wir technologisch über Jahrzehnte und Jahrhunderte im Zuge der industriellen Revolution aufgebaut haben an gut gelingenden Dingen und auch an Problemen, wird man nicht ohne die Zuhilfenahme von Technologie lösen können. Aber Technologie alleine führt zu gar nichts, also Effizienzsteigerungsstrategien in der Mobilität oder überhaupt im Bereich der Ökonomie führen nur kurzfristig zu Entlastung. Das heißt, es muss Technologie immer diskutiert werden im Kontext von kulturellen Innovationsstrategien mit der Frage: Wie viel ist genug? und wo sind Lebenszielveränderungen möglich?

In Ihrem Buch ›Schubumkehr – Die Zukunft der Mobilität‹ beschäftigen Sie sich mit der Art und Weise, wie wir uns fortbewegen. Sie haben dafür eine Reihe von ganz erstaunlich konkreten Zukunftsvisionen entworfen, die einen beim Lesen richtig beeindrucken, weil sie tatsächlich als mach- und als umsetzbar erscheinen. Viele dieser Szenarien im Buch sind allerdings für eine Welt in dreißig Jahren entworfen worden. Gibt es denn etwas, was man schon heute konkret ändern oder durchsetzen kann?
Ganz viel. Diese Szenarien sind ja dazu da, um zu zeigen, dass wir das, was in dreißig Jahren sein soll, schon heute anfangen müssen. Diese Transformationsprozesse dauern sehr lange. Außerdem braucht man ein Leitbild, eine Vision oder das Gefühl von Machbarkeit. Was ich mit dem Buch machen will, ist, einen Möglichkeitsraum zu öffnen, der Menschen optimistisch stimmt und einen Anreiz liefert, um zu sagen: Ja, wir fangen heute schon an.
Ich unterscheide immer drei verschiedene Praktiken, zu der eine Person greifen kann. Es gibt eine private Praxis, eine politische Praxis und eine professionelle oder berufliche Praxis. Fangen wir mal bei dem letzten Punkt an. Da habe ich nun das große Glück, dass ich mit meiner Arbeit, mit meiner Ausbildung, meiner beruflichen Praxis ganz viel zu dem Thema einer Nachhaltigkeitstransformation im Bereich der Mobilität beitragen kann, indem ich Studenten ausbilde, indem ich mir neue Konzepte ausdenken kann, indem ich politisch aktiv bin und so weiter und so fort.
Der zweite Punkt ist die private Praxis. Wir können heute schon über eine Veränderung unseres Nachfrageverhaltens ganz viel erreichen: Indem man beispielsweise auf das Auto verzichtet und auf Carsharing oder das Leihradsystem zurückgreift, indem man mehr Rad fährt, indem man öffentliche Verkehrsmittel nutzt, indem man die neuen Angebote der digitalen Technologien nutzt. Die neuen Mobilitäts-Apps erschließen einem sehr einfach und günstig diese Welt der intermodalen, verkehrsträgerübergreifenden Mobilität. Gerade in urbanen Kontexten, ob es nun das Rhein-Main-Gebiet ist, das Ruhrgebiet, Berlin, Hamburg oder eben München und Stuttgart – also überall, wo wir urbane Ballungsräume haben – sehen wir in den letzten Jahren eine steigende Angebotsqualität. Durch die Digitalisierung und durch neue Ansätze im Zuge von Shared Economy. Aber auch durch die Tatsache, dass professionelle Unternehmen in diesen Bereich hineingehen und selbst Carsharing anbieten. Das alles macht es heute viel einfacher, als noch vor zehn oder fünfzehn Jahren, den Schritt zu einer individuellen, veränderten Mobilitätspraxis zu gehen. Das ist in ländlichen Kontexten zwar ein bisschen schwieriger, aber in urbanen Kontexten durchaus möglich. Dazu kommt das Thema Fliegen. Eines meiner Lieblingsthemen. Ich habe ein richtiges Problem mit dem sogenannten grün-bürgerlichen Milieu – dem Bionadebiedermeier im Prenzlauer Berg oder sonst wo. Dieses Milieu glaubt, dass es schon damit getan sei, dass es grün wählt und dem Gedanken der Nachhaltigkeit anhängt, Biofutter kauft und das eine oder andere Lebensmittel aus der Region bezieht, Carsharing macht und Fahrrad fährt. Und dafür könne man dann im Ausgleich drei- oder viermal im Jahr durch die Welt jetten. Das ist totaler Unsinn. Das nennt man einen psychologischen Reboundeffekt: ich mache an der einen Stelle etwas besser und gewinne dadurch an vermeintlichem moralischem Spielraum, den ich dafür nutze, mir drei- oder viermal im Jahr die Welt anzuschauen. Dabei belastet nichts den ökologischen Rucksack stärker, als das Fliegen. Ich kann mit einer nicht angetretenen Flugreise an die Ostküste der USA den quantitativen Spielraum erzeugen, um ein- bis eineinhalb Jahre mit durchschnittlichen Reichweiten Auto zu fahren. Was ich damit sagen will, ist: Es geht ja gar nicht mal darum, überhaupt nicht mehr zu fliegen, aber ist schon enorm, was ich allein durch ein oder zwei Flugreisen, die ich im Jahr einspare, an Verbesserung für meinen ökologischen Output erzeugen kann. Nur wird das eben nicht getan. Interessanterweise passiert das gerade in den Milieus, die die größten kulturellen, intellektuellen und ökonomischen Möglichkeitsräume haben. Von denen würde ich es doch aber gerade erwarten. Es ist völlig absurd, dass die günstigen Urlaubsangebote in der Ferne liegen. Das hat etwas mit den grotesken Preismechanismen im Bereich des Luftverkehrs und im Bereich des modernen Tourismus zu tun. Im Inland Urlaub zu machen ist deutlich teurer, als sich ins Flugzeug zu setzen und weit weg zu fliegen.
Ein weiteres Beispiel aus der privaten Praxis ist das Thema: Wie ernähre ich mich? Ernährung hat neben dem Thema der Ökologie nämlich auch ganz viel mit Mobilität zu tun. Wenn ich Fleisch esse, dann steht das Schnitzel mehr oder weniger auf dem Gipfel einer ganz massiven Energieanreicherungspyramide im Bereich der Mobilität. Lassen Sie mich das erklären: Ich habe Soja oder Weizen aus Südamerika, der mit viel Mobilitätsaufwand produziert und mit schmutzigem Schiffsdiesel nach Europa transportiert, und dann in gigantischen Mastbatterien an die Tiere verfüttert wird. Dann werden diese Tiere zu großen, zentralisierten Schlachthöfen gefahren. Zur Veredelung bringt man es dann womöglich von Niedersachsen nach Norditalien, damit es dort zum Parmaschinken werden kann. Dann wird es wieder zurückgefahren... Überall steckt die Mobilität drin. Fossile Mobilität. Und am Ende habe ich ein Schnitzel oder ein Stück Rinderbraten, in dem, weil es eben nicht aus der Region kommt  und die Erzeugung dieses Schnitzels so extrem mobilitätsintensiv ist, unglaublich viel virtuelle Energie drinsteckt. Und wenn ich jetzt sage, ich esse erstens weniger Fleisch und zweitens besonders gütevolles Fleisch, das in der Region erzeugt worden ist, dann habe ich natürlich einen Ansatzpunkt, um zu sagen: Ich tue mir, aber auch der generellen Frage der Nahrungsmittelkultur etwas Gutes und schaffe zusätzlich auch noch im Bereich der Mobilität etwas Gutes. Wenn Menschen von sich behaupten, sie seien für Ökologie, Nachhaltigkeit und Klimaschutz, dann sollten sie in ihrer privaten Praxis auch tatsächlich etwas dafür tun. Verstehen Sie mich nicht falsch. Mich stört es nicht, wenn jemand fliegt oder Fleisch ist – mich stört die Verlogenheit dabei.
Zum dritten Punkt, der politischen Praxis. Eine neue Studie des Umweltbundesamtes besagt, dass 80 Prozent der Deutschen bessere urbane Lebensqualität, weniger Autoverkehr und auch selbst weniger Autofahren wollen. Das ist eine schöne Aussage, nur glaube ich ihr nicht wirklich. Ich vermute, dass genau die Leute, die da eine wohlfeile Meinungsäußerung von sich gegeben haben, in dem Augenblick den Aufstand proben – und das ist ja das paradoxe daran –, in welchem ein kommunalpolitischer Entscheider hingeht und etwas politisch ändern will. Da ist ebenfalls eine gewisse Verlogenheit im Raum. Wenn man etwas anders haben will, dann muss man auch selbst etwas anders machen, oder aber diejenigen, die den Primat der Politik ernst nehmen und etwas verändern wollen, darin auch unterstützen. Denn viele Probleme, um die es geht, kann man eben nicht allein über die private Praxis ändern, sondern braucht dazu auch eine Rahmenregulierung durch die Politik. Es macht keinen Sinn, Leute abzuwählen, weil sie durch ihre Politik Parkraum verknappen oder Citymautkonzepte entwickeln oder weil Menschen, die Elektroautos kaufen wollen, steuerlich unterstützt, die anderen aber ein Stück weit bestraft werden. Die Politik kann das, von dem sie sagt, dass sie es politisch will, unterstützen und fördern und muss dann aber im selben Augenblick das, was sie nicht mehr haben will, weniger attraktiv machen. Der Wahlbürger wäre in dem Augenblick aufgefordert, das mitzutragen und nicht die Politik, die so etwas tut, zu bestrafen. Die Politik weiß heute genau: In dem Augenblick, in dem sie etwas tun will, wird sie bestraft.
Im Hinblick schließlich auf die berufliche Praxis hat nicht jeder die Möglichkeiten, die ich als Hochschullehrer habe, aber lassen Sie mich ein Beispiel bringen: Ich hatte neulich ein sehr interessantes Gespräch mit einem ganz normalen Müllfahrer, der sich dafür einsetzt, dass die Fahrzeugflotte der städtischen Müllabfuhr vom Diesel wegkommt. Man muss also nicht ein Intellektueller sein, man muss kein Professor sein, um in seiner politischen oder beruflichen Praxis etwas zu verändern. Man kann auch zusehen, dass man in seinem eigenen Wirkungsbereich, im eigenen Betrieb etwas dafür tut, um Mobilität anders zu gestalten.

Vor etwa drei Wochen hat das EU-Parlament entschieden, dass ab 2018 jeder Neuwagen mit einem elektronischen Notrufsystem ausgestattet werden muss, das bei einem Unfall automatisch den Notruf auslöst und die Koordinaten des Autos sendet. Das ist ein Beispiel aus einem weiteren Bereich, in dem Sie arbeiten – der Transformation unseres Alltags vom analogen hin zum digitalen. Die Veränderungen auf diesem Gebiet gehen immer schneller vonstatten und verursachen bei den einen enorme Euphorie und bei den anderen große Unsicherheit oder das Gefühl der Machtlosigkeit. Wer hat da Recht?
Beide. Es ist wie so oft bei modernen Technologien: Wo Licht ist, ist auch Schatten. Bei den digitalen Technologien ist zunächst einmal unheimlich viel Licht. Ihr Beispiel ist eigentlich eine geniale Geschichte. Das Auto setzt in dem Augenblick einen Notruf ab, in dem ich einen Unfall habe und womöglich selbst nicht mehr in der Lage bin, zum Telefon zu greifen. Es existieren ganz viele solcher Ansatzpunkte im Bereich der Mobilität, wo digitale Technologie vieles zum Besseren verändern könnte oder zumindest die Voraussetzungen für neue Nutzungsformen oder neue systemische Konzepte schafft. Doch da sind eben immer auch die Schattenseiten. Ich unterscheide dabei immer vier Rs: die Rechtliche Dimension, Ressourcenfragen, Resilienzfragen und so genannte Rebound-Effekte. Gerade das Thema der automatischen Verkehrsrettung ist sehr eng mit der permanenten Trackbarkeit verknüpft. Die informationelle Selbstbestimmung und die Frage der Privatheit geht hier strukturell immer mehr verloren, je mehr digitale Technologien wir einsetzen. Das könnte sogar ein Punkt sein, bei dem wir uns gar nicht mehr entscheiden können, ob wir den hohen Preis des Verlusts unserer Privatsphäre zahlen wollen oder nicht – weil wir ihn ohnehin zahlen. Über die Märkte und über die Unternehmen werden diese Technologien eingeführt. Auf unseren Straßen fahren schon heute immer mehr rollende Computer. In diesen Fahrzeugen sind jetzt schon diverse Ferndiagnosesysteme eingebaut, gerade im hochpreisigen Segment. Diese Systeme sind immer online, egal ob sie das wollen oder nicht. Diese Autos sind jetzt schon in einem hohen Maße manipulierbar und ortbar – und von wohlmeinenden oder eben auch nicht wohlmeinenden Hackern knackbar. Und das wird in Zukunft immer weiter um sich greifen. Je mehr automatisierte Systeme wir haben und je öfter wir diese Systeme aus guten Gründen in unsere Fahrzeuge einbauen, desto stärker wird das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verloren gehen. Das ist völlig unabhängig davon, ob es um das Thema Sicherheit oder das Thema ökologischen Effizienzsteigerung oder das Stichwort automatisches Fahren geht. Viele Kunden sind ja jetzt schon bereit, in hohem Maße ihre Rechte aufzugeben. Man nutzt sein Smartphone und lädt sich eine neue App runter und müsste eigentlich sechzig, siebzig Seiten AGBs lesen, bevor man die jeweilige App freischaltet. Seien wir ehrlich: Die meisten von uns machen das nicht. Weil sie diesen versprochenen Mehrwert haben wollen, diese Dienste, die das Leben einfacher machen, klicken wir einfach das Kästchen »AGBs gelesen und verstanden« an und öffnen damit aber häufig den Weg zu den akustischen und visuellen Gadgets in unseren Handys und Computern. Das heißt, ich gebe denjenigen, die diese Apps oder neuen Dienste anbieten, das Recht, permanent, wann immer sie wollen, die Kamera in meinem Computer nutzen zu dürfen, oder das aufzunehmen, was über ihre Mikros aufgefangen wird. Das wissen die meisten gar nicht. Und das ist fatal. Viele geben jetzt schon, ohne so genau zu wissen, was sie da eigentlich tun, ihre Privatheit auf. Und das wird in Zukunft, wenn wir das für den Bereich der Mobilität weiterdenken, noch weiter stattfinden. Das ist eine riesige Schattenseite. Doch es ist ein Bereich, in dem wir alles, was wir tun, freiwillig tun.  Es gibt aber auch einen Bereich, in dem wir keine Macht mehr über unser Recht zur informationellen Selbstbestimmung haben, wo wir manipuliert werden, und wo die Macht- und Kontrollinteressen von Geheimdiensten massiv mit den Datengenerierungsinteressen der großen Internet- und Datenkonzerne konvergieren. Glauben sie mal nicht, dass irgendein Staat dieser Welt großartig Interesse hat, irgendein Facebook oder Google dieser Welt wirksam in die Schranken zu weisen. Man hat ein Interesse daran, die Interessen liegen gleich. Und deswegen wird es da über eine symbolische Ebene hinaus keine Art von politischer Regulierung geben, da glaube ich nicht dran (...)


(...) Letztendlich sind die Daten, die dabei entstehen, ob das jetzt Mobilitätsapps sind, das Fitnessarmband oder irgendeine andere Form von digitaler Überwachung ja nicht nur für den Nutzer interessant, sondern vielleicht auch für Versicherungen, für größere Unternehmen, die mit diesen Daten handeln. (...)
Genau. Es geht hier um das, was wir »Aufmerksamkeitsökonomie« nennen. Google und Apple wollen ja eigentlich keine eigenen Autos bauen, um sie kostenträchtig am Markt zu verkaufen – das ist vielleicht ein günstiger Nebeneffekt. Eigentlich wollen sie mit ihren Geräten die Systemführerschaft im gesamten Bereich der Mobilität erlangen, weil das einer der wenigen Bereiche ist, in dem sie noch nicht wirklich pausenlos Daten generieren. Sie wollen im Grunde an die Daten; Wegedaten, Funktionsdaten und dergleichen. Also: Wo gehen die Leute hin? Und wo kommen sie her? Sie wollen den letzten großen Bereich erschließen, in dem die Leute mitunter nicht dauerhaft online sind, weil sie eben Auto fahren. Sie wollen im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie den modernen Kunden rund um die Uhr in ihre Informationsinfrastrukturen und -architekturen einbinden. Und da fehlt ihnen der Bereich der Mobilität noch ein Stück weit. Die Daten, die dabei entstehen, werden mit den Daten, die sie aus anderen Bereichen generieren, in Beziehung gesetzt. Ein weiterer sehr spannender Bereich, in dem diese Firmen aktiv sind, ist zum Beispiel der Gesundheitsbereich. Und wenn sie das alles miteinander verbinden, haben sie wundervolle Datenprofile von modernen Usern. Und die können sie natürlich hochpreisig verkaufen – an Versicherungen, an Staaten, an Marketingfirmen, im Prinzip an jede Art von Industrie, die ihre Produkte an den Markt bringen will.

Lassen Sie uns etwas auf eine andere Ebene springen. Otto Frank, der Vater von Anne Frank, hat einmal gesagt: »Wer eine Zukunft aufbauen will, muss die Vergangenheit kennen.« Wie viel Vergangenheit steckt in unserer Zukunft?
Wir leben in einer zukunftsverliebten Zeit, in der so viel über die Zukunft gesagt wird, wie noch nie in der Geschichte der Menschheit. Wir leben in einer modernen Kultur, in welcher allein schon über die durch sie geschaffenen Infrastrukturen, die gebaute Umwelt, festgefügte Lebensstile oder schlicht die Menge der Bevölkerung im Grunde genommen ganz viel determiniert ist. Frei nach Luhmann, der das ähnlich gesagt hat: Leben wir also in Zeiten, in denen das, was wir in der Vergangenheit entschieden haben, immer mehr das Zukünftige über lange Zeit hinweg bestimmt? Im Mobilitätsbereich kann man das sehr schön verdeutlichen. Wir stehen am Ende eines mehrere Jahrhunderte andauernden Mobilisierungsprozesses. Dieser Prozess hat natürlich auch schon vor der Industriellen Revolution in gewisser Weise stattgefunden, durch diesen Innovationsschub aber unheimlich an Fahrt gewonnen. Wir haben im Laufe der Zeit ein immer fester gefügtes System an Netzwerken und Infrastrukturen gebaut, das uns die Freiheit bietet, in einem hohen Maße global flexibel und mobil zu sein. Gleichzeitig schreibt dieses System aber auch den Pfad der Mobilität in eine bestimmte Richtung fest – in Richtung fossile Mobilität, hoher Energieaufwand und solche Dinge. Denn einmal gebaute Infrastrukturen sind eben einmal gebaut worden und werden jetzt nicht einfach wieder abgerissen und ganz neu aufgebaut, bloß weil man neue Erkenntnisse gewonnen hat. Hier zeigt sich die Macht der Anfänge über die Zukunft. Wenn man jetzt also merkt, dass die Infrastrukturen, die wir auf der Basis der Verfügbarkeit einer Unmenge an günstigem Erdöl aufgebaut haben, so niemals fortgeführt werden können – und diese Infrastrukturen geändert werden sollen, dann bekommen wir ein Problem. Denken sie nur mal daran, wie viele Raum- und Siedlungsstrukturen wir auf der Basis des Automobils gebaut haben. In Nordamerika zeigt sich das ganz stark, aber auch hier bei uns. Wir müssen davon ausgehen, dass die Nachhaltigkeitsaspekte, die im Bereich der Mobilität wirklich wirksam sind, und damit meine ich die grundlegende Veränderung von Raum- und Siedlungsstrukturen, nur sehr, sehr langfristig verändert werden können. Deswegen müssen wir schon jetzt anfangen, an diesen Schrauben zu drehen.
Nochmal: Die Macht der Anfänge über die Zukunft ist im Augenblick sehr groß und sie wird noch größer werden.

Es gibt noch ein Problem: »Heute ist morgen schon gestern«, wie ein Sprichwort sagt. Wie »haltbar« und »nachhaltig« sind heutige Zukunftsentwürfe denn dann?
Wenn wir davon ausgehen, dass keine sogenannten »Wildcards« eintreten – also Kometeneinschläge, Sonnenstürme, Atomkriege oder geopolitische Verwerfungen größerer Art, die radikal und paradigmatisch die Rahmenbedingungen für soziales und individuelles Leben auf der Welt verändern –, dann können wir mit einer gewissen mittleren Reichweite mit den Szenarien arbeiten, die wir haben. Ich mag den Begriff »Zukunftsforschung« nicht besonders und würde eher von »Zukunftsanalytik« sprechen. Wir können die Zukunft gar nicht erforschen, weil man nichts erforschen kann, was noch gar nicht da ist. Wir können allenfalls auf der Grundlage einer soliden, wissenschaftlichen Basisarbeit prognostische Szenarien entwickeln. Dabei sollten wir aber nicht so weit gehen, wie es viele der sogenannten Gurus in diesem Bereich leider tun. So zu tun, als ob wir wüssten, wie die Zukunft wird. Das wissen wir nicht! Das wussten wir vor dreitausend Jahren beim Orakel von Delphi nicht, und das wissen wir heute auch nicht. Ein Bereich, bei dem ich sehr skeptisch werde, ist die Digitalisierung. Je mehr ich darüber weiß, lese, erfahre und forsche, desto vorsichtiger werde ich mit meinen Aussagen. Ich glaube, dass wir an diesem Punkt vor einem wirklich fundamentalen Wandel durch diese Technologien und die damit verbundenen neuen Lebensstile stehen, die ich mich in ihrer Komplexität, ihrer Multidimensionalität nicht vorherzusagen traue. Ich sage dann lieber, dass ich in die eine oder andere Richtung spekuliere, bevor ich mich zu großen Würfen traue. Wenn man Zukunftsanalytik betreibt, sollte man eigentlich auch ein gewisses Maß an Bescheidenheit und Demut an den Tag legen, was aber die wenigsten meiner Kollegen tun. Das finde ich problematisch. Martin Burckhardt spricht in seinem Buch von der »digitalen Renaissance«. Die industrielle Revolution plus die Elektrifizierung plus die erste Welle der Computertechnologie zusammengenommen gibt uns vielleicht in Annäherung ein Gefühl dafür, wie groß dieser Wandlungsprozess und auch die Zerstörungswucht der Technologien, die auf uns zukommen, wirklich ist. »Morgen ist heute schon gestern« trifft da tatsächlich zu. Es gibt, glaube ich, Phasen gesellschaftlicher Wandlung, von Beschleunigung und Veränderung, bei denen sich die Zukunft schneller verändert, die Zukunft schneller auf uns zukommt. Und es gibt Phasen, in denen all das etwas langsamer vonstatten geht. Im Moment bewegen wir uns allerdings auf eine sehr, sehr schnelle Veränderungsphase zu.

Bei aller Betrachtung der Zukunft ist ja auch der eine Moment, in dem man etwas verändern kann, in dem man sich selbst ändern kann, eben das Hier und Jetzt. Ohne heute schon eine Entscheidung in eine bestimmte Richtung zu treffen, kann man in der Zukunft auch nichts verändern.
Die Szenarien, die ich in meinem Buch entwickle, sind keine wahrscheinlichen Szenarien, sondern mögliche Szenarien. Da muss man sehr fein unterscheiden. Es gibt den Möglichkeitssinn und den Wirklichkeitssinn. Letzterer würde Szenarien beschreiben, die näher bei dem bleiben, was wir heute erleben, und eher pessimistische Szenarien entwerfen. Gleichwohl ist das, was ich entwerfe möglich. Ich nehme an, dass eine Gesellschaft sehr wohl in der Lage ist, als Kollektiv eine Entscheidung zu treffen – im Sinne von »Wir möchten etwas ganz anders machen« – und dann in der Lage sein könnte, über die Bündelung kultureller, ökonomischer und intellektueller Ressourcen einen großen Transformationsprozess auch wirklich zu gestalten, im Kleinen wie im Großen. In dieser Hinsicht sind die Szenarien, die ich beschreibe, sehr wohl umsetzbar und möglich, aber leider eben nicht besonders wahrscheinlich. Mir geht es darum, einen positiven Möglichkeitsraum aufzumachen, Anreiz zu bieten und zu sagen: »Leute, wir leben nicht in apokalyptischen Sackgassen, sondern in einer Zeit, in der wir immer noch Entscheidungen treffen können. Je länger wir warten, desto weniger.« Wir haben die Spielräume, an der einen oder anderen Stelle der drei Praktiken Privates, Berufliches und Politisches etwas zu verändern – noch. Es geht darum, dass Menschen ihre Handlungen an etwas ausrichten, um gemeinsam in eine Richtung handeln zu können. Und dazu brauchen sie kollektiv wirksame, starke Leitbilder und Visionen. Ich versuche, ein Stück weit an dieser Visionsarbeit mitzuwirken. Wenn wir es schaffen, diese oder jene Entscheidung als Gesellschaft gemeinsam zu treffen, können wir uns auf der Basis des technologisch jetzt schon Machbaren auch ganz andere Zukünfte vorstellen – treffen müssen wir diese Entscheidungen aber.
 

Stephan Rammler

Stephan Rammler

Stephan Rammler, geboren 1968, ist Professor für Transportation Design & Social Sciences an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig und Gründer des Instituts für Transportation Design. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Mobilitäts- und Zukunftsforschung, Verkehrs-, Energie- und Innovationspolitik, Fragen kultureller Transformation und zukunftsfähiger Umwelt- und Gesellschaftspolitik. 2016 erhielt er den »Zeit Wissen-Preis ›Mut zur Nachhaltigkeit‹«.