
Supernova
Ein Text von Selma Wels

Für A.
Eine Supernova ist eine spektakuläre Explosion eines Sterns, der am Ende seiner Lebenszeit auftritt. Dabei wird eine enorme Menge an Energie freigesetzt, die den Stern vorübergehend heller leuchten lässt als eine ganze Galaxie.
***
Frankfurt, im November 2022
A. liebt den Himmel. Alles an ihm fasziniert ihn – und alles darüber hinaus. Seine Liebe für mich reicht auch nicht nur »bis zum Mond und wieder zurück«, sondern bis ans Ende des Universums und wieder zurück. Jeden Abend, bevor er einschläft, hält er das fest, fast wie ein Ritual. A. ist fünf Jahre alt. Er liebt Wissenschaft. Für fiktive Geschichten will er keinen Speicherplatz verwenden. Deshalb nehmen wir bei jedem Besuch in der Stadtteilbibliothek ein neues Sachbuch mit – immer über etwas, das er unbedingt wissen will. Kindgerecht natürlich.
Es ist ein kalter, verregneter Novembernachmittag, als wir uns ein Buch mit dem Titel 1000 Dinge, die du wissen musst (oder so ähnlich) ausleihen. Zu Hause angekommen, lese ich ihm daraus vor. Wir beginnen mit dem Klimawandel. A. wird still und nachdenklich – der Zustand unseres Planeten geht ihm nahe. Als Nächstes blättern wir zum Kapitel über das Weltall. »Das Sonnenlicht braucht acht Minuten bis zur Erde«, lesen wir und speichern es gemeinsam ab. »Wir bestehen alle aus Sternenstaub« – das finden wir beide ziemlich großartig.
Doch dann, eines Abends, kommen wir zur Supernova. Schon beim Vorlesen merke ich, dass in ihm etwas arbeitet. Die Worte im Buch, deren genauen Wortlaut ich nicht mehr weiß, lösen etwas aus. Unser Gespräch verläuft ungefähr so:
Ich: »Wenn ein Stern stirbt, explodiert er und leuchtet so hell wie eine ganze Galaxie ...«
A.: »Mama, unsere Sonne ist auch ein Stern.«
Ich weiß, dass er das weiß. Doch ich hoffe, dass er seine Gedanken nicht weiterführt. Dass er keine Schlussfolgerung zieht. Aber er tut es.
Ich: »Ja, aber unsere Sonne wird keine Supernova. Dafür hat sie zu wenig Masse.«
A.: »Aber sterben kann sie trotzdem. Und dann ist es acht Minuten später dunkel auf der Erde ... und für immer kalt.«
Stille. Ich will etwas sagen. Etwas Tröstliches. Vielleicht, dass die Menschheit wahrscheinlich längst für ihr eigenes Ende gesorgt haben wird, bevor die Sonne stirbt. Doch dieser nüchterne Realitätscheck würde ihn nur noch mehr erschüttern.
A.: »Dann sterben wir alle. Du bist dann auch nicht mehr da, Mama.«
Seine Augen füllen sich mit Tränen. Ich bin verzweifelt. Ich versuche, ruhig zu bleiben.
Ich: »Unsere Sonne wird sich noch viele Milliarden Jahre weiterdrehen.
Aber »Milliarden Jahre« oder die Zeit im Allgemeinen – das ist ein Konzept, das für ihn genauso abstrakt ist wie »Endlichkeit«. Während ich rede, begreift er nicht nur den Gedanken, sondern fühlt ihn: Alles hat ein Ende.
Dieser Abend lässt mich bis heute nicht los.
***
Die fünf Phasen der Supernova
Phase #1: Die Hauptreihenphase // 2010–2015
Ein Stern ist stabil und in seiner Hauptlebensphase, bevor der Kernbrennstoff zur Neige geht.
Ich habe meine erste Fahrt mit dem Metrobüs überlebt. Jede Woche transportieren diese Busse mehrere Millionen Menschen durch Istanbul – und das merkt man. Der Metrobüs ist immer voll. Dicht an dicht teilen sich die Istanbuler für bis zu 50 Kilometer die schlechte Luft. Die Busse fahren auf einer eigens vom undurchdringlichen Straßenverkehr abgetrennten Sonderspur. Ungewöhnlich dabei: Auf dieser Spur gilt Linksverkehr. Beim ersten Mitfahren wird mir mulmig. Die linke Fahrspur irritiert mich. Ich habe das Gefühl, in einem Geisterfahrerbus zu sitzen. Ich warte regelrecht auf einen Unfall, der nicht passiert, und frage mich: Liegt es daran, dass es auf dieser Spur einfach so wenig Platz gibt, dass diese Regelung das Ein- und Aussteigen erleichtert? Oder hat das türkische Metrobüs-Projektmanagement schlichtweg vergessen, dem Hersteller zu sagen, dass in der Türkei eigentlich Rechtsverkehr gilt?
Die zweite Erklärung finde ich viel witziger. »Kein Problem für die Türkei«, denke ich. »Dann fahren wir halt einfach partiell links. Pragmatismus pur.« My turkish heart schmunzelt kurz darüber. My german mind hingegen insistiert: »Nein, so unprofessionell können die doch gar nicht sein.« Dieser innere Widerspruch – diese Heart/Mind-Sache, diese Turkish/German-Dynamik – begleitet mich ständig. Als ich schließlich aussteige, lasse ich den Metrobüs hinter mir und betrete die heiligen Hallen der Istanbuler Buchmesse im November 2010. Die Dichte im Bus war beeindruckend – aber die Dichte in den Messehallen kommt ihr durchaus nahe. Am meisten staune ich darüber, wie viele junge Menschen hier unterwegs sind.
Ich bin als ganz normale Besucherin da, einfach nur neugierig. Ich schlendere durch die Gänge, nehme ein Buch in die Hand und denke: »Ich lese das, wenn es auf Deutsch erscheint.« Ich gehe weiter, nehme das nächste Buch und denke dasselbe. »Ich lese das, wenn es auf Deutsch erscheint.« Und dann fällt es mir auf: Ich denke das schon fast mein ganzes Leben. Und mir wird klar, dass es niemals geschehen wird, wenn es nicht endlich jemand in die Hand nimmt. In diesem Moment entsteht die Idee, einen Verlag zu gründen. Einen Verlag für zeitgenössische türkische Literatur auf Deutsch. Die Deutsche in mir protestiert sofort: »Du bist doch überhaupt nicht qualifiziert, so etwas zu machen.« Die Türkin in mir kontert: »Nichts qualifiziert den Metrobüs dazu, im Rechtsverkehr links zu fahren. Aber er fährt trotzdem.«
Einen Verlag formell zu gründen, ist erstaunlich einfach. Im Juni 2011 sitze ich im Flur des Gewerbeamts in Berlin-Kreuzberg, warte, bis meine Nummer aufgerufen wird. Dann gehe ich ins Zimmer, gebe das ausgefüllte Formular ab – und zack, der binooki Verlag ist geboren. Im Hinterhof der Köpenicker Straße 154 beginnt also die Geschichte, die noch geschrieben werden muss. Ganz wichtig: Geld muss her. Aber woher? Banken haben ja welches. Der Businessplan steht, der Banker wird überzeugt, die Bürgschaftsbank auch. Mein Glaube daran, dass das alles funktionieren kann, ist unerschütterlich.
Doch als die Bank schließlich das viele Geld auf das Geschäftskonto überweist, fühlt sich das so ähnlich an wie damals im Metrobüs: Ich warte darauf, dass ein Unfall passiert. Aber zuerst passieren andere Dinge. Lizenzen werden gekauft. Ich bin so oft in Istanbul, dass ich mich dort mittlerweile fast besser auskenne als in Berlin. Übersetzer:innen werden gefunden, erste Aufträge vergeben. Alles schreitet voran, und ich merke, wie detailverliebt ich bin. Wenn, dann will ich in Schönheit sterben. Eine Graphikerin macht genau das möglich. Ich will einen Blog und einen Onlineshop. Der Blog entsteht schnell, die Entstehungsgeschichte des Verlags wird dokumentiert. Der Shop? Zieht sich. 2011 gibt es noch keine Out-of-the-Box-Lösungen, also muss programmiert werden.
Die Leipziger Buchmesse 2012 wird der erste öffentliche Verlagsauftritt sein. Aber wie macht man eigentlich Messe? Irgendwie geht es. Und es sieht toll aus. Ich nehme ein Newbie-Package. Die Graphikerin gestaltet die Rückwand unseres Standes.
»ACHTUNG! KLISCHEEFREIE ZONE« prangt in großen Lettern darauf. Darunter teilen sich Zitate aus den ersten vier Büchern des binooki- Programms den Platz.
»Ich traue keinen Leuten mit Schirm.«
»Ich bin hier, mein lieber Leser, wo bist du?«
»Das menschliche Herz ist wie ein Pendel. Sobald es den gewünschten
Punkt erreicht, bewegt es sich mit Höchstgeschwindigkeit in die entgegengesetzte Richtung.«
In diesem Moment harmonieren meine innere Kompassnadel und mein Pendel perfekt. Aber eine Frage bleibt: Wie erfährt die Welt, dass es diesen Verlag gibt? Social Media? Vielleicht. Pressearbeit? Definitiv. Der erste Termin mit einer PR-Agentur findet statt. Ehe ich mich’s versehe, stehe ich in einem Fotostudio, lächle verlegen in die Kamera und übe die Geschichte, die ich erzähle, wenn ich gefragt werde.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand wirklich mit mir sprechen will. Aber der ganze Zirkus macht trotzdem irgendwie Spaß – also übe ich weiter.
Das erste Buch ist da. Draußen ist es kalt an diesem Januarmorgen im Jahr 2012. Warten auf die Angst von Oğuz Atay leuchtet mit seinem gelben Cover wie die Sonne. Mir wird bei dem Anblick ganz warm. Auflagenhöhe: 1500. Damals war ich noch erstaunlich optimistisch, wie ich heute feststelle. Der Moment, in dem ich das Paket öffne und das erste Exemplar in die Hand nehme, ist unvergesslich. Ich bin allein im Büro, reiße den Karton auf, nehme das Buch heraus – und springe wie ein Flummi durch den Raum. Pure Freude, ein kindliches Hochgefühl.
Als ich mich schließlich ausgeflummt habe, überkommt mich eine Welle der Rührung, und ich fange an zu weinen. All die Zweifel, all das ständige Überreden meiner selbst: Du kannst das. Du schaffst das. Jetzt halte ich den Beweis in den Händen. Es ist real. Alles, was in meinem Kopf war, hat sich materialisiert und liegt nun physisch vor mir. Nur der Titel, denke ich dann, Warten auf die Angst, ist für ein erstes Buch vielleicht nicht gerade das optimistischste Statement.
Im Februar dann geht die Pressemeldung über die Gründung des Verlags raus – und es dauert nicht lange, bis die ersten Interviewanfragen eintreffen. Der Tagesspiegel, die FAS, die taz, die NZZ, die SZ – um nur einige zu nennen. Alle wollen sie vorbeikommen.
Ich habe keine Ahnung, wie man solche Gespräche führt. Während ich mich noch daran gewöhne, Antworten auf Fragen zu geben, die später irgendwo abgedruckt werden, trudeln auch die ersten Anfragen für Radiointerviews ein.
Und schon sitze ich in einem Studio, ein Mikrophon vor mir. Radio? Kann ich überraschenderweise erstaunlich gut.
Am ersten Messetag in Leipzig sehe ich in Halle 5 die Fragezeichen in den Gesichtern meiner Standnachbar:innen. Das Newbie-Messe-Package bietet mir eine großzügige Rückwand, hochwertige Möbel und die doppelte Standfläche im Vergleich zu den anderen. Ich wirke dadurch wie ein Pro – dabei habe ich noch nicht einmal eine Verlagsauslieferung.
Innerlich schlägt mein Imposter-Syndrom voll zu. Ich fühle mich, als würde ich hier nicht hingehören. So groß ist meine Unsicherheit, dass ich mich kaum traue, auf mein Umfeld zuzugehen.
Doch aus diesem Umfeld kommt jemand auf mich zu: Blanka Stolz vom mairisch Verlag. Sie ist die Erste – und bis heute bin ich ihr dafür dankbar. Blanka macht mir den Einstieg leichter, nimmt mir einen Teil meines Unbehagens. Ich bin mir sicher, dass kaum jemand anderes mir diesen Zugang so angenehm und herzlich hätte gestalten können.
Am zweiten Messetag nimmt die Lawine Fahrt auf. Die Interviews, die ich im Vorfeld geführt habe, erscheinen nun nach und nach – und hören bis zum Ende der Messe nicht mehr auf. Im Laufe der nächsten sechs Monate wird die Zahl der Berichte und Interviews auf über 300 anwachsen, aber das ahne ich im März noch nicht. Die Fragezeichen in den Gesichtern meiner Standnachbarn stehen nun in bold, und langsam entwickelt sich eine Annäherung: eine Art Schicksalsgemeinschaft, die ich wohl von nun an teilen werde.
Im Oktober folgt dann der erste Messeauftritt in Frankfurt. An Journalist:innen habe ich mich mittlerweile gewöhnt, an Politiker:innen allerdings noch nicht – und doch tauchen sie jetzt auch auf. Acht Bücher umfasst das Programm inzwischen. Die Kosten für Übersetzungen explodieren, der Kontostand schmilzt dahin. Der Buchhandel bleibt vorsichtig, die Bestellungen im Onlineshop haben jede Menge Luft nach oben. Aber meine mentale Einstellung? Stabil. Optimistisch.
binooki hat es mit der Social-Media-Aktion #berlinliestbinooki, einem literarischen Fotocontest, auf die Shortlist des Virenschleuderpreises geschafft. Wochen zuvor bin ich an einem kalten Septembermorgen um fünf Uhr durch Berlin gelaufen, um Leseproben und QR-Codes in der ganzen Stadt aufzuhängen. Mein Fokus: die Friedrichstraße – vor allem Dussmann. Sie ignorieren binooki, und das nervt mich. Im Säulengang installiere ich eine »Wäscheleine« aus Paketschnur und hänge Leseproben wie frisch gewaschene Kleidungsstücke daran.
Die Aktion wird ein Erfolg: Zwei Wochen lang posten Menschen Fotos von sich und ihren Lieblingsbüchern, von Hunden mit Büchern – alles mit dem Hashtag #berlinliestbinooki. Eine unabhängige Jury (bestehend aus meinem allerersten Praktikanten) wählt die zehn besten Bilder aus. Die drei mit den meisten Insta-Herzen bekommen Preise: ein Wochenende im Mini, einen E-Reader und ein binooki-Buchpaket. Flux FM wird Medienpartner. Die Aktion endet mit einer Lesung im Fluxbau aus der Neuerscheinung Unsere große Verzweiflung – ein großartiges Buch, aber wieder so ein Titel – und einer Ausstellung der besten Fotos. Heute frage ich mich, wie ich Mini und Flux FM überhaupt überreden konnte. Damals aber war die Energie einfach da. Eine Energie, die mich morgens um fünf Uhr aus dem Bett trieb.
Am zweiten Messetag in Frankfurt verstehe ich, warum ich das alles mache. Zumindest ein Warum offenbart sich mir: #berlinliestbinooki gewinnt den Virenschleuderpreis 2012 für die beste Social-Media-Kampagne. Hanser wird für die beste Social-Media-Strategie ausgezeichnet. Meine Hände zittern, in meinem Magen eine pulsierende Leere. Das Miggi-Kid in mir, das nie gut genug sein konnte, egal, was es tat, steht auf diese Anerkennung. Sie ist wie ein Kernbrennstoff – ein Strudel aus ungewohnter, wunderschöner Aufmerksamkeit.
Messetag drei: Dussmann kommt vorbei. Dussmann will binooki lesen. Ich lächle. Ab diesem Moment gibt es binooki-Bücher bei Dussmann. Bevor die Messe endet, gehe ich noch zum Stand der Kurt-Wolff-Stiftung. »Ich will in den Katalog«, sage ich. Doch ich darf nicht. Noch nicht. Ich müsse erst mehr leisten, länger durchhalten. Vielleicht war es vermes- sen, einfach aufzutauchen und zu sagen: »Hallo, ich bin Selma. Ich habe einen Indie-Verlag. Darf ich rein?«
Vielleicht macht man so etwas nicht. Ich kenne die Codes dieser Welt nicht. Wie auch? Ich bin neu hier. Ich bin wie der Metrobüs. Ich fahre vielleicht auf der falschen Spur – und ich fahre schnell. Doch das Wichtigste oder vielleicht Verhängnisvollste: Ich warte nicht mehr darauf, dass ein Unfall passiert.
Es ist der 5. November 2012, als gegen elf Uhr das Telefon klingelt. Am anderen Ende meldet sich ein äußerst freundlicher Mann: Stefan Weidle. Er stellt sich kurz vor und erwähnt, dass er von der Kurt-Wolff-Stiftung anruft.
Bevor er weitersprechen kann, platze ich bereits heraus:
»Ah, Sie rufen wegen des Katalogs an!«
Einen Moment herrscht Stille, dann fragt er leicht irritiert:
»Welcher Katalog?«
»Na, der Kurt-Wolff-Katalog. Ich wollte rein, aber man hat mir gesagt, ich soll erst mal ein paar Jahre überleben.«
Er lacht. Warum lacht er jetzt?
»Sagen wir es mal so«, erklärt er schließlich, »als Preisträgerin stehen Sie sowieso im Katalog.«
Es dauert eine Sekunde, bis ich begreife, was er da gerade gesagt hat. Im ersten Moment höre ich nur das Wort Katalog. Erst im nächsten realisiere ich die eigentliche Nachricht: Ich habe einen Preis gewonnen.
»Wovon sprechen Sie genau?«, frage ich ungläubig.
Er gratuliert mir zum Kurt-Wolff-Förderpreis. Und erwähnt nebenbei, dass dieser auch dotiert ist. Mein Herz macht einen Sprung – oder vielleicht auch eine ganze Serie an Sprüngen. Dotiert! In meinem Kopf rattern direkt die Zahlen. Der Kontostand wird immer dünner, die Rückzahlungen des Gründungskredits starten jetzt – dieser Preis ist nicht nur eine Anerkennung, sondern auch ein Segen.
Kaum lege ich auf, greife ich sofort wieder zum Hörer und rufe jede Person an, die auch nur im Entferntesten Interesse an dieser Neuigkeit haben könnte. Sie verbreitet sich wie ein Lauffeuer: binooki wird auf der Leipziger Buchmesse 2013 mit dem Kurt-Wolff-Förderpreis ausgezeichnet.
Nach dem Telefonat mit Stefan Weidle setze ich mich an meinen Laptop und starte eine umfassende Recherche nach weiteren Literatur- und Verlagspreisen. Doch schnell merke ich, dass binooki für viele Preise gar nicht in Frage kommt – binooki veröffentlicht ausschließlich Übersetzungen.
Ich stoße auf den KAIROS-Preis, der der höchstdotierte Preis ist. Leider kann man sich dafür weder bewerben, noch hat ihn jemals ein Verleger oder eine Verlegerin erhalten. Aber die Vibes zwischen griechischen Göttern und mir waren schon in der 5. Klasse phantastisch, seit ich ihre Geschichten übersetzen musste. Immerhin sind die Sagen des klassischen Altertums von Gustav Schwab das erste Buch, das ich mir in der einzigen Buchhandlung meines Geburtsortes im Jahr 1990 von meinem Taschengeld selbst gekauft habe.
Ich atme tief durch und sage mir: Loslassen. Manche Dinge dürfen mich einfach finden. Und vielleicht, denke ich, tut genau das irgendwann ein göttlicher KAIROS-Moment.
Im Frühsommer 2013 verändert der Gezi Park alles. Die Bilder, die Geschichten, die Wut und der Mut auf den Straßen von Istanbul – das alles trifft mich ins Herz. »Nur schöne Bücher machen, reicht nicht«, denke ich. Es fühlt sich plötzlich an, als würde ich nicht mehr nur Bücher veröffentlichen, sondern auch Verantwortung tragen. Verantwortung für Stimmen, die gehört werden müssen, für Geschichten, die erzählt werden wollen. Darauf war ich nicht vorbereitet, aber wie bei so vielem denke ich: Mach es einfach! Genau ein Jahr später erscheint Gezi – Eine literarische Anthologie. Ein Buch, das mich stolz macht und gleichzeitig den Preis für Haltung offenlegt. Die Übersetzungsförderungen aus der Türkei werden gestrichen, weil die Autor:innen und Themen des Verlagsprogramms nicht ins Bild der Entscheider passen. Das macht es schwerer. Aber lieber mache ich ein Buch weniger oder später, als mir vorschreiben zu lassen, was ich tun oder lassen soll. Meine Kompassnadel gibt mir sehr genau meine Laufrichtung an.
Die Jahre danach werden nicht einfacher. Die Bücher werden besprochen, in den Feuilletons, in den Blogs, überall. Manchmal denke ich, es müsste doch jetzt laufen, aber dann kommen die Zahlen und sagen mir das Gegenteil. Lesungen funktionieren, der Buchhandel nicht. Autor:innen aus der Türkei einzuladen, ist fast unmöglich – finanziell und bürokratisch. Um für 48 Stunden in Deutschland einreisen zu dürfen, müssen sie im Deutschen Konsulat ihr ganzes Leben offenlegen. Das ist entwürdigend, und irgendwann sage ich: »Ich mache die Lesungen selbst.« Ich lese aus den Büchern, erzähle ihre Geschichten, verkaufe ein paar Exemplare, aber es reicht nie. Die Rechnungen stapeln sich.
Ich kann mir kein Gehalt auszahlen. Die Miete wird ein Problem. Die Krankenversicherung auch. Pause ist keine Option. Pause ist ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann. Also nehme ich einen Job bei Dussmann an, freiberuflich im Marketing, und arbeite durch. Ohne Wochenende, ohne Urlaub. Ich weiß nicht, wie lange ich das aushalten kann, aber ich weiß, dass ich es aushalten muss. Irgendwas muss sich drehen, irgendwas wird sich drehen. Meine Schicksalsgemeinschaft vergesse ich nicht. Dussmann macht jetzt auch #indiebookday. Räume öffnen war schon immer mein Ding.
Phase #2: Der Kernkollaps oder das Ende der Kernfusion // 2016 – 2019
Der Stern kann keine Fusion mehr aufrechterhalten, und der Kern kollabiert unter seiner eigenen Schwerkraft.
Wir schreiben das Jahr 2016. Die Last und die Verantwortung auf meinen Schultern sind erdrückend. Und dann sind da noch die Sorgen. Gleichzeitig ist in der Veröffentlichungspipeline: Die Haltlosen von Oğuz Atay. Dieses Buch gilt über 40 Jahre als unübersetzbar. Und so etwas wie unmöglich – das würde ich gerne als eine meiner positiven Eigenschaften bezeichnen – existiert in meiner Sprache nicht.
Doch dieses Projekt zieht sich. Wenn man bedenkt, dass das die erste Lizenz ist, die eingekauft wurde, kann man behaupten, das ist das binooki- Projekt überhaupt. Aber eine ganze Reihe von Übersetzenden geben auf oder trauen sich gar nicht erst an die Übersetzung heran. 800 Seiten Atay sind nicht ohne. Warum? Atay stellt in diesem Werk nicht nur die großen Fragen nach Leben, Liebe und Tod und spielt auf ambitionierte Weise mit ihnen. Er verwendet auch eine Vielzahl von Textformaten, wie Erzählung, Protokoll, Brief, Tagebuch, Gesang, Enzyklopädie-Eintrag, Szene und Fußnote. Es gibt lange Passagen eines Bewusstseinsstroms ohne Punkt und Komma sowie Verse, die mit vielen Osmanismen durchzogen sind, aber auch Textstellen im modernen türkischen Slang. Der Roman verweist zudem auf eine breite Palette kultureller und literarischer Traditionen, sowohl europäischer als auch popkultureller Art – von Kafka über Nietzsche, Oscar Wilde, Dostojewski, Tschechow und viele andere bis hin zu Referenzen zu King Kong und Cowboyfilmen. In der Türkei gilt Die Haltlosen als ein Klassiker der Avantgarde – andernorts kann das niemand feststellen, weil es noch nie übersetzt wurde.
Nur einer schafft es, diese Dichte und die Vielzahl von Tonlagen einzufangen – Johannes Neuner. Dafür werde ich ihn ein Leben lang bewundern.
Die Bücher kommen aus der Druckerei. Ich erinnere mich an das erste binooki-Buch, den Erzählband Warten auf die Angst, ebenfalls von Oğuz Atay. Auch damals hatte ich dieses Gefühl, als ich das Buch in den Händen hielt. Jetzt, mit den Haltlosen in der Hand, kommt es mir wieder. Ich bin stolz, ich bin glücklich, aber anders als damals bin ich auch müde und erschöpft. Ich bin am Ende. Als hätte ich mit Erscheinen dieses Buches meine Aufgabe hier erfüllt. Ich weiß nicht, was jetzt noch kommen soll.
Auf der Leipziger Buchmesse 2016 dreht sich für uns alles um Atay. Die Haltlosen wird in die fünfte Auflage gehen, doch das weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Sonst dreht sich nicht so viel.
Im Januar 2017 kommt der Wendepunkt: An diesem Tag, dem 6. Januar, klopfen die Heiligen Drei Könige an die Tür – der binooki Verlag wird mit dem KAIROS-Preis geehrt. Unser fast vier Wochen alter Sohn A. liegt in K.s Armen, und er fragt: »Wie kann das sein? Du sagst, du willst das, und dann bekommst du es. Wie geht das?« Ich weiß es nicht. Der KAIROS- Preis, der vor fünf Jahren einmal kurz auf meinem Bildschirm aufflackerte, kommt genau zur richtigen Zeit und hilft mir, die Zeit bis zum Sommer zu überbrücken. Als selbständige Mutter in Deutschland sind Privilegien rar, und die Bank interessiert sich nicht für Lebensumstände. Doch der Preis verschafft uns für den Moment einen Atemzug.
Als ich am 7. Mai 2017 den Saal des Deutschen Schauspielhauses betrete, ahne ich noch nicht, dass es mit 1200 Plätzen das größte Sprechtheater Deutschlands ist. Ich komme da also mit einem fünf Monate alten Baby auf dem Arm rein. Der Saal ist voll, mein Herz beginnt zu rasen, doch das Baby schläft. Irgendwann muss ich dort hoch und vor all diesen Menschen sprechen. Die Rede, die ich vorbereitet habe, entstand beim Kinderwagen-durch-den-Park-Schieben, damit das Kind vielleicht hoffentlich irgendwann mal einschläft. Mit der einen Hand schob ich, mit der anderen tippte ich Buchstaben auf mein Smartphone. Beim Anblick der vielen im Saal fühlt sich meine Rede so wenig an. Ich fühle mich wenig. Aber es hilft nichts, ich muss da hoch.
Ich betrete die Bühne, gehe zum Rednerpult, meine Hände zittern, meine Stimme zittert. Ich kenne das nicht, dieses Gefühl ist neu, überwältigend. Das Zittern ist so stark, dass ich kaum kontrollieren kann, was mit mir passiert. Aber ich beginne zu sprechen:
Meine Mutter hat sich für ihre Kinder immer gewünscht, dass »gute Menschen« ihren Weg kreuzen. Als Kind habe ich sie nicht verstanden. Was meinte sie damit? »Gute Menschen« hörte sich in meinen Ohren wenig glamourös an. Und wer in Pforzheim auf die Welt kommt und in Niefern-Öschelbronn aufwächst, der – man stehe es ihm zu – träumt manchmal von ein bisschen Glamour. Kann sie sich nicht etwas anderes für mich wünschen, dachte ich immer. Etwas mit mehr Hand und Fuß, etwas, womit ich etwas anfangen kann. Aber nein, sie blieb unbeirrt dabei. Jahre später, als sie längst nicht mehr lebte, habe ich meine Mutter endlich verstanden. Ebenso die Tatsache, wie wichtig diese »guten Menschen« sind, die unseren Weg kreuzen. Und da sie sich das mit so reinem Herzen gewünscht hat, ist die Liste dieser Menschen in meinem Leben recht lang ...
Ich komme sieben Minuten später zum Ende, und plötzlich steht der ganze Saal auf. Ich weiß nicht, wie lange sie da stehen und applaudieren. Ich weiß ehrlich gesagt nicht einmal, warum sie das tun. Ich bin unendlich dankbar für diesen Moment, aber ich fühle auch, wie ein Gefühl des Aufbruchs zart an meiner Wange streicht. In diesem Moment wird mir bewusst, dass ich an einem Punkt angekommen bin, an dem ich in dieser Rolle nicht mehr wachsen kann. Vielleicht ist es auch nur das menschliche Herz, das jetzt wie ein Pendel in die andere Richtung schlägt. Was auch immer es ist – ich weiß, dass ich mich selbst umschreiben, anders schreiben muss. Aber ich bin so verstrickt in dieses ganze Konstrukt, dass ich nicht weiß, wie ich mich davon befreien kann.
Im August 2018 kommt es in Chemnitz zu Ausschreitungen. Rechte und Neonazis machen auf offener Straße Jagd auf Menschen, die sie für Migrant*innen halten. Spontan rufe ich zu #vielfaltdurchlesen auf. So viele Menschen, auch außerhalb des Literaturbetriebs, machen mit. Sie teilen ihre Bücher und die Gründe, warum genau jetzt, genau dieses Buch gelesen werden sollte. Der Hashtag macht zunächst im Netz und dann auf der Buchmesse die Runde. Als ich am Messesonntag den Stand zusammenpacke, denke ich: »Wenn das meine letzte Messe war, dann war es ein schöner Abschluss.«
2018 war nicht meine letzte Messe, aber dieses Jahr markiert den letzten Messeauftritt des binooki Verlags. Es steht immer schlechter um den Verlag, und privat wird der Struggle ein anderer: Mehr als 100 Kitaplätze werden gekündigt, ein neuer ist nicht in Aussicht. Seit September 2017 arbeite ich bei den Neuen deutschen Organisationen, einer NGO, die aus einem Projekt der Neuen deutschen MedienmachX hervorgegangen ist. Dort leite ich die Öffentlichkeitsabteilung, aber jetzt muss ich meine Stunden weiter reduzieren. Der Job-Job, der binooki-Job, die binooki-Verantwortung zusätzlich zur Fulltime-Kinderbetreuung lassen mich nachts noch weniger und noch schlechter schlafen, als ich es ohnehin schon tue.
Irgendwann werde ich auf die Ausschreibung des 1.Deutschen Verlagspreises aufmerksam. Selbst der kleine Preis würde schon helfen. Dann ist der Antrag online und: Ich kann ihn nicht ausfüllen. Es müssen im Jahr mindestens vier Bücher erschienen sein. Ich komme nicht auf die Summe. Als Die Haltlosen erschienen sind, konnte nichts anderes mehr erscheinen. Allein die Übersetzung dieser 800 Seiten kostet so viel, dass man für das Geld mindestens vier nicht übersetzte Bücher hätte machen können. Ich nehme mein Kind an die Hand und mache mich auf den Weg nach Charlottenburg zum Börsenverein. Ich sitze in diesem Raum und glaube, dass alle in dem Moment denken: »Okay, jetzt ist sie völlig durchgedreht.« Ich bin verzweifelt. Die Statuten können nicht mehr geändert werden. Ich brauche aber dieses Geld, um das Gehalt meiner Volontärin zu bezahlen, um Kredite und Rechnungen zu begleichen. Ich kann nicht mehr, und ich weiß nicht mehr weiter. Ja, das mit den Übersetzungen ist ein Sonderfall. Mag sein, aber seit Jahren reden alle über mich, nur keiner mit mir. Die Aussage, dass es keine Garantie gibt, dass ich gewinne, wenn ich mich bewerbe, macht mich rasend.
»Natürlich gibt es die nicht. Darum geht es auch nicht. Mir geht es darum, dass ich die Chance bekomme, die alle anderen auch bekommen.« In dem Moment verstehe ich auch, worum es mir unter der Oberfläche eigentlich schon immer ging. Am Ende würde immer diese Essenz dabei herauskommen. Ich weiß nicht, ob das an den Erfahrungen liegt, die ich seit meiner Kindheit mit meiner Herkunftsgeschichte gemacht habe. Ich weiß nur, dass ich, wenn überhaupt, nur eine Chance im Leben bekomme. Schlimmer noch, mir diese eine Chance erkämpfen muss. Und wenn ich mit diesem One Shot nicht treffe, dann bekomme ich keinen zweiten. Das ist ermüdend und kräftezehrend. Vielleicht ist diese Angst, sind diese Erfahrungen auch der Grund, warum ich ständig durch mein Leben renne. Ich kann und will nicht mehr.
Ich verlasse das Büro und habe keine Hoffnung. So gar keine. Nichts hat funktioniert – kein Marketing, keine Presse, kein Durch-das-Land-reisen und Lesen, nichts. Vielleicht gibt es noch eine Chance, alles, was mit so viel Leidenschaft, Verzicht und ja, auch mit so viel Liebe aufgebaut wurde, zu erhalten. Eine Unternehmensberatung wird beauftragt. Alle Optionen werden durchgespielt. Am Ende bleibt nur noch eine: Es jemandem zu übergeben, der die Mittel hat, es zu retten.
Einige Wochen nach meinem Auftritt in Charlottenburg bekomme ich einen Anruf aus Bonn. Das BKM ist dran. Die Statuten werden nicht geändert. Allerdings wird das Online-Formular dahingehend geändert, dass Verlage, die die Zahl der veröffentlichten Bücher nicht erfüllen, nun die Möglichkeit haben, dies zu begründen. Das gilt übrigens bis heute noch.
Im August 2019 ziehe ich mit meiner kleinen Familie nach Frankfurt. Ich lasse alles hinter mir. Je mehr ich mich von Berlin entferne, desto besser bekomme ich wieder Luft. Wir lassen uns auch keine Hintertür mehr, es uns noch einmal zu überlegen. Wir kündigen unsere Berliner Wohnung, packen alles und gehen.
Im Oktober 2019 bin ich noch einmal auf der Buchmesse. Ohne Stand. Nur zu einem Termin: Ich nehme den Deutschen Verlagspreis entgegen. Es bedeutet nichts. Gar nichts. Keine Aufregung, kein Kribbeln, kein Zittern. Ich hole ab und bezahle Rechnungen. Ganz pragmatisch.
Anfang November fahre ich nach Berlin und lerne den vermeintlich zukünftigen Besitzer des binooki Verlags kennen. Im Dezember fahre ich noch einmal nach Berlin, sitze bei einem Notar am Wittenbergplatz, und alle Beteiligten unterzeichnen den Vertrag. Ein notariell unterzeichneter Vertrag gibt einem das Gefühl von Sicherheit. Es fühlt sich nicht an, wie im Rechtsverkehr links zu fahren. Aber als sich die Runde auflöst und ich noch ein paar Schritte an diesem Dezemberabend durch Berlin laufe, habe ich nach sehr vielen Jahren das allererste Mal wieder das Gefühl, dass gleich ein Unfall passiert. Ich schaue hoch. Wenn man die Weihnachtsbeleuchtung subtrahieren würde, würde mich Berlin mit absoluter Dunkelheit umarmen.
Phase #3: Die Supernova-Explosion // 2020
Ein katastrophaler Ausbruch. Der Kollaps löst eine massive Explosion aus, die den Stern zerreißt und Energie ins Universum freisetzt.
Fristen verstreichen. Das neue Jahr hat begonnen, und der Januar hat seine Tage schon fast heruntergezählt. Die vereinbarte Kaufsumme wird nicht überwiesen, und ich kann den Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen. Der Käufer verschwindet spurlos. Alle Profile von ihm sind von einem Tag auf den anderen gelöscht. Dieser Mensch existiert plötzlich nicht mehr. Ich suche nach einer Erklärung, finde aber keine, die mich zufriedenstellt. Verzweifelt nehme ich das Betrugsdezernat in Frankfurt am Main in Anspruch. Als der Beamte am Telefon sagt: »Alle Systeme leuchten rot. Haben Sie irgendetwas, das er angefasst hat?«, fühlt es sich an, als würde jemand einen Eimer kochend heißes Wasser über mich kippen. Für mehrere Sekunden halte ich den Atem an.
Im nächsten Moment finde ich mich wieder, wie ich Einweghandschuhe anziehe und sämtliche Dokumente in eine Tüte packe. Kurz darauf sitze ich zum ersten Mal in meinem Leben in einer Polizeiwache. Während ich mich frage, wie ich hier gelandet bin, übergebe ich die Tüte und muss ein Foto identifizieren. Ich bestätige, dass es sich um die betreffende Person handelt. Der Polizist scheint irritiert. Plötzlich überkommt mich echte Angst. Der Mann weiß, wo ich wohne. Alle Beteiligten haben sich beim Notar ausgewiesen, auch er. Doch nun ist er unter der angegebenen Adresse nicht mehr auffindbar. Die Verwirrung des Polizisten und sein »Das kann doch gar nicht sein«-Murmeln führen zu meiner Besorgnis. Es stellt sich heraus, dass dieser Mann zu diesem Zeitpunkt noch eine Haftstrafe wegen Betrugs hätte absitzen müssen. Aber er war da – bei den Treffen, beim Notar. Wie konnte das niemandem auffallen? Warum wurde er nicht überprüft? Und wenn er überprüft wurde, wie ist er dann durchgekommen?
Meine Fragen bleiben unbeantwortet. Ich breche zusammen. Nicht metaphorisch – wirklich. Körperlich. Mehrmals am Tag übergebe ich mich, kann nicht mehr aufstehen. Mein Verstand versucht verzweifelt, die Ereignisse zu begreifen. Ich kann nicht aufhören, jeden Schritt immer wieder zu analysieren und zu identifizieren, welcher Schritt zu viel und welcher zu wenig war. Die sechs Wochen von Ende Januar bis Mitte März 2020 sind die intensivsten meines Lebens. Kein Tag vergeht ohne eine neue Wendung, die mir den Boden unter den Füßen wegzieht. Die Realität ist: Ich kann das nicht mehr retten. Aber ich muss jetzt handeln. Ich suche einen Insolvenzanwalt, der Antrag wird vorbereitet. Ich sehe in den Spiegel und erinnere mich an die Worte, die mir immer gesagt wurden: »Diese Energie, die du ausstrahlst, diese unerschöpfliche Energie ...« Sie ist erschöpft. Im Spiegel sehe ich nur noch ein schwarzes Loch.
Mitte Februar habe ich schließlich alle Unterlagen zusammen und bereite ein öffentliches Statement vor. Die Frage, wie die anderen reagieren werden, belastet mich. Ich schäme mich. Doch bevor ich weiter darüber nachdenken kann, bricht die Welt in einer anderen Weise auseinander: Eine Pandemie beginnt. Am ersten Tag des Lockdowns stelle ich fest: Ich bin schwanger. Ich sitze weinend bei einer völlig fremden Ärztin in einer fremden Stadt und sage: »Ich habe mir einen Termin gesetzt. In einem Jahr werde ich daran erinnert, dass ich vor einem Jahr nicht mehr weiterwusste. In einem Jahr wird die Welt anders aussehen, aber ich weiß nicht, wie ich dorthin komme.«
Einige Monate später stehe ich wieder vor dem Spiegel. Ein kleines Leuchten in meinen Augen. Ich denke: »Egal, was dir genommen wurde, niemand kann dir dich nehmen. Du hast das alles alleine geschafft und wenn du es noch einmal tun musst, dann machst du es einfach noch einmal.«
Phase #4: Die Expansion // 2020–2021
Überreste des Sterns werden ins Weltall geschleudert und formen einen Nebel aus Sternenstaub.
Ich verstehe nun den Wunsch meiner Mutter nach »guten Menschen« viel umfassender. Ich verstehe auch, dass es nicht einmal wichtig ist, ob ein weniger guter Mensch Teil deines Lebens ist. Manchmal reicht ein flüchtiger Augenblick, ein kurzes Streifen an einer Weggabelung, um alles zu verändern, das gesamte Gefüge durcheinanderzuwirbeln.
Trotz all des Schmerzes und der Zerstörung, die dieses Jahr 2020 gebracht hat, gibt es etwas, das ich niemals missen möchte: T. kommt im November zur Welt. Ein zarter Neuanfang, der inmitten all des Chaos wie ein heller Stern leuchtet. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich das Gröbste hinter mir. Alles, was ich zu übergeben hatte, habe ich der Insolvenzverwalterin überlassen, der Druck ist zwar nicht weg, aber er hat sich wenigstens kanalisiert. Die Trümmer sind aufgeräumt – doch das bedeutet nicht, dass die Geschichte vorbei ist. Es gibt immer noch Verpflichtungen, die mich binden, die mich noch lange begleiten werden. Aber trotz allem – und vielleicht genau deswegen – fühle ich mich zum ersten Mal richtig frei. Frei, als hätte sich ein dichter Nebel gelichtet und die Luft um mich herum wird endlich wieder klar. Ich atme tiefer und freier als je zuvor, als hätte ich einen Raum betreten, den ich mir selbst neu erobert habe.
Ich versuche nicht mehr, die Beweggründe des einen Menschen zu verstehen, der so viel zerstört hat. Vielleicht ergab es einen Vorteil für ihn, der bis heute nicht sichtbar für mich ist. Aber ehrlich gesagt, es ist mir mittlerweile völlig egal. Was mich heute erfüllt, ist der Blick nach vorn und das Wissen, dass ich durch diese Explosion, die mein Leben zerstörte, tatsächlich in der Lage war, mich neu zu finden und mich zu befreien. Ich hätte nicht die Kraft gehabt, mich aus diesen Verstrickungen zu lösen, ohne dass mir der Boden unter den Füßen weggezogen worden wäre. Manchmal braucht es diesen finalen Bruch.
Und so merke ich jetzt: Nichts, was ich erlebt habe, war umsonst. Jede Erfahrung, jeder Schmerz, jede Herausforderung, so unendlich schwer sie auch schien, hat mir etwas beigebracht. Puzzleteil um Puzzleteil fügt sich langsam ein neues Bild zusammen.
Phase #5: Der Neuanfang // 2022 bis in die Gegenwart
Neutronenstern oder Schwarzes Loch
Ich glaube, beim Scheitern geht es immer nur um eins: Steh ich auf oder bleibe ich liegen? Was passiert nun mit dem Staub der Explosion? Ein neuer Planet vielleicht oder lieber ein Schwarzes Loch? Ich hatte noch nie das Privileg, einfach liegen zu bleiben. Ich hatte nie die Chance zu wählen. Also, Aufstehen. Geht das einfach? Nein. Aber in dem Moment, in dem ich mein Scheitern annehmen und einen Schritt zurücktreten konnte, konnte ich alles aus einer anderen Perspektive betrachten. Es war, als ob sich der Horizont erweiterte, als ob ich plötzlich einen Raum erblickte, den ich zuvor nicht gesehen hatte. Ich habe plötzlich nicht mehr das gesehen, was ich verloren hatte, sondern was hinzugewonnen wurde. Ich hatte plötzlich Vertrauen in den Prozess, in das Leben, und meine Strategie, mit den zukünftigen Terminen im Kalender, hat super funktioniert. »Vor einer Woche warst du zum ersten Mal auf einer Polizeiwache, und es war schlimm. Aber schau, heute geht es dir schon viel besser.« Es war diese Art von Reflexion, die es mir ermöglichte, die Brüche als Schritte auf meinem Weg zu begreifen. Zu sehen, wie sie mich von einer Version von mir selbst in eine andere verwandelt haben.
Ich bin so oft gestolpert und so oft gefallen. Ohne es wirklich zur Kenntnis zu nehmen, bin ich jedes Mal stärker aus solchen Situationen herausgegangen. Manchmal war es einfacher, der Welt da draußen die Schuld zu geben oder den Umständen. Aber dieses Mal habe ich verstanden, dass die Welt nicht daran schuld war, sondern dass die Welt, die ich vor Jahren für mich ausgewählt hatte, nicht mehr zu mir passte und jede meiner Entscheidungen zu genau diesem Punkt führten, dass alles darauf hinauslaufen musste. Okay, es hätte sich auch ein wenig anders zutragen können, damit ich mir eine neue Realität schaffen kann. Wie diese neue Realität aussehen würde – keine Ahnung zu dem Zeitpunkt. Dass sie nicht statisch, sondern jederzeit wieder wandelbar ist – sicherlich. Ich bin ja auch kein Standbild meiner Selbst, ich verändere mich doch auch mit der Zeit, mit den Erfahrungen, mit dem Leben.
Ich habe trotz Pandemie, trotz Schwangerschaft und trotz meiner Angst, mich unter Menschen zu wagen, insbesondere unter Menschen im Literaturbetrieb, ein Festival auf die Beine gestellt. Es war ein Festival, das mich viel gelehrt hat. Das, so war es zumindest mein Anliegen, sensibilisiert und ja, auch neue Räume geöffnet hat. Ich fing wieder an zu vertrauen, auf mich, auf meinen Weg, meinen inneren Kompass. Und dann kam das Jahr 2022, als ich in die Jury des Deutschen Buchpreises berufen wurde. Es war wie eine Art Versöhnung mit mir selbst, ein Moment der Anerkennung, den ich mir nie zugetraut hätte. Der Anruf kam aus heiterem Himmel, und zu diesem Zeitpunkt war ich längst das gefallene Kind, in meinen Augen die größte Versagerin auf der Welt. Buchpreis – seriously? Puzzleteil: Der Anruf konnte nur jetzt kommen und nicht vorher, weil ich jetzt unabhängig war, keinem Verlag mehr angehörte. Der Raum um mich definierte sich jetzt neu. Das hat mich wirklich dazu gebracht, zum allerersten Mal über Fremd- und Selbstwahrnehmung nachzudenken. Ich habe festgestellt, dass ich mir selbst nie etwas verziehen habe. Ich habe angefangen, liebevoller mit mir umzugehen, mit all meinen Facetten, mit meinen Schwächen und meinen Stärken. Ich habe gelernt, die Brüche als das zu sehen, was sie sind: Funkensprünge für neues Wachstum.
2023 habe ich ein Buch herausgegeben. Als ich die Idee hatte, dachte ich darüber nach, ob überhaupt jemand mit mir das machen wollen würde. Gefallenes Kind und so. Rowohlt wollte. Als der Vertrag vorlag und da plötzlich rororo stand, schrie ich auf: »Salinger! Der Fänger im Roggen!« K. schaute mich völlig irritiert an, als ich nach Jahren wieder einmal wie ein Flummi durchs Wohnzimmer sprang. Ich erzählte ihm, dass, als ich noch auf der Grundschule und meine Schwester bereits auf dem Gymnasium war, eines Tages Der Fänger im Roggen auf ihrem Schreibtisch lag. Mich interessierten weder Titel noch Autor. Mich interessierten sechs Buchstaben auf dem Cover: rororo. Ich fand dieses »Wort« als Kind irgendwie lustig und blieb daran hängen. An diesem Tag wurde mir zum ersten Mal erklärt, was ein Verlag ist. Und jetzt war das mein Verlag. Ich konnte es gar nicht glauben. Vielleicht hat jede und jeder einen inneren Dr. Strange, der alle Möglichkeiten ausrechnet, die wie bei Avengers Endgame zu einem guten Ende führen. Ein Happy End war und ist das alles nicht. Vor allem ist es kein Ende.
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Frankfurt, im November 2022
An dem Abend, als für A. die Supernova explodierte, und ihm die acht Lichtminuten von der Sonne zur Erde einfielen, erinnerte ich mich wieder an den Sternenstaub. Es war ein Moment der Erkenntnis, ein winziger Augenblick, in dem mir klar wurde, wie alles miteinander verbunden ist. Jedes Fallen, jedes Aufstehen – alles ist Teil des gleichen kosmischen Prozesses, das stetige Werden und Vergehen. Und wer kann schon wissen, wie sich diese Materie neu formt?
Er schluchzte noch ein wenig, aber hatte sich in meinem Arm schon etwas beruhigt und war am Einschlafen, als ich ihm leise ins Ohr flüsterte: »Was von der Supernova übrig bleibt, ist Sternenstaub. Und wir sind alle Sternenstaub.«
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Dieser Text entstand exklusiv für die NEUE RUNDSCHAU 2025/2

Selma Wels
Selma Wels ist Kulturvermittlerin, Kuratorin und Herausgeberin. Von 2011 bis 2020 leitete sie den binooki Verlag, der türkische Literatur ins Deutsche übersetzte. Für ihre verlegerische Arbeit wurde sie u. a. mit dem KAIROS- Preis ausgezeichnet. Nach Stationen bei Dussmann das KulturKaufhaus und den Ullstein Buchverlagen leitet sie seit 2024 die Veranstaltungsabteilung der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Sie ist Mitinitiatorin und Kuratorin von »WIR SIND HIER – Festival für kulturelle Diversität« sowie der Gesprächsreihe RIOT NOW! und war 2022 Mitglied der Jury des Deutschen Buchpreises.