Neue Rundschau

Zwei Zeiten, zwei Rechnungen

Ein Text von Angelika Klammer

Neue Rundschau

Erfolg und Misserfolg, Gelingen und Scheitern – lässt sich in der Kunst so davon sprechen wie bei Werbekampagnen oder im Hoch- und Tiefbau? Nein. Auch. Es kommt auf den Rahmen an.
      Im Kunsthistorischen Museum in Wien lief gerade eine Rembrandt-Ausstellung mit Schwerpunkt auf der Kunstfertigkeit, dem illusionistischen Effekt, den Versuchen, die Natur täuschend echt darzustellen. Das Mädchen mit den geröteten Wangen, das sich aus dem Fenster lehnt, macht es gerade eine Pause? Oder ist es am Ende doch nur gemalt? Rembrandt soll das Bild so geschickt platziert haben, dass es Verwirrung stiftete. Seine Virtuosität ließ das Publikum staunen, jubeln, verehren – und kaufen. Rembrandt war ein gefeierter Künstler, und er feierte das Leben, mit Saskia von Uylenburgh, die er in den verschiedensten Rollen und Roben malte, immer Fest und Überschwang. Doch nach und nach verlor er alles: Saskia starb plötzlich, von den vier Kindern überlebte sie nur das letzte, Titus. Er und Hendrickje Stoffels, die Magd, waren ihm geblieben, im Haushalt und als Modelle. Selbstporträts nahmen zu. Das erste der Schau zeigt ihn in schwarzem Pelz mit zwei Goldketten. Das letzte im Arbeitskittel, Palette und Malstock in der Hand. An der Wand kein Bild, nur zwei rätselhafte Kreise: Erd- und Himmelsglobus? Die sichtbare und unsichtbare Welt? Nach den Berichten von Zeitgenossen hämmerten Gläubiger an die Tür. Doch Rembrandt steht aufrecht vor dem Betrachter, der Blick ohne Trotz, ohne Bitterkeit. Daneben noch einmal Saskia als Flora: Frühling, blühende Natur, Verheißung. Was zeigen diese beiden Bilder? Es hängt von der Perspektive ab: entweder rise and fall oder das Unzerstörbare. Zu hoch gegriffen? Nicht unbedingt.
      Was treibt Menschen zur Kunst, was treibt sie an? Sich mehrmals die Seele gebrochen zu haben, so – auch etwas hoch gegriffen – Robert Musil.

Die bescheidene Formulierung wäre: das Bedürfnis, einen Ausdruck zu finden. Wie stark es ist, sehen wir vom Paläolithikum an. Die Menschen hatten gerade ein Dach über dem Kopf und ihren Hunger gestillt, schon entstanden die ersten Malereien: Bisons, Stiere, Pferde, Auerochsen, Hände, Punkte. War es Religion, Magie, Jagdzauber, Dank? Wir wissen es nicht, doch die Lines of Beauty and Grace wirken bis heute, auf uns Betrachtende und in der Kunst.
      Einen Ausdruck zu finden für – Themen, Stoffe, Impulse ändern sich, doch abgerissen ist dieses Bemühen nie. Lassen wir die großen Begriffe – Krieg, Frieden, Unrecht, Schicksal, Liebe, Intrige, Verrat, Glück und was noch immer – einmal beiseite (sie lösen sich im Schreiben ohnehin auf), auch an der kurzen und der langen Angst lässt sich eine Welt zeigen, an einem Fest, auf das man sich zubewegt, an bitteren Abschieden oder einem Anfang, sanft und offen. Sogar am Winterlicht über den Steineichen in der Drôme oder – noch einmal Musil – am Fliegenpapier Tangle-foot.
      Hat man sie einmal gefunden, die Frage, die zum Kern und Motor des Schreibens wird, beginnt der Kampf. Virginia Woolf schreibt am 8. September 1928 Vita Sackville-West, dass der Roman, den man im Kopf hat, »auf der anderen Seite eines Abgrunds existiert«, eines Abgrunds, den Worte nicht überqueren können, der nur »in atemloser Angst herübergezogen werden kann«. Und schließt mit einem Satz, der mehr ist als eine Pointe: »Ich versichere Dir, all meine Romane waren erstklassig, bevor sie geschrieben wurden.«
      Schreiben, das bedeutet: den ersten Satz finden, den Ton, Dur oder Moll, den Ausschnitt festlegen – ein Tag, ein Jahr, ein Jahrhundert? –, entwerfen, umschreiben, verwerfen, Pläne machen, sich von allen verabschieden, nachdenken, innehalten, darauf setzen, dass, lässt man Satz auf Satz folgen, schon was herauskommen wird. Wenn nicht: Perspektive ändern, Format ändern, das Opus magnum auf später verschieben, einstweilen von einer Kugel erzählen, die im Verlauf von 80 Seiten ihr Ziel findet, das reicht fürs Erste. Andererseits, wenn man alles Bisherige übertreffen, Schallmauern durchbrechen, die Zeit (großer Faktor!) weiter raffen, dehnen oder schichten könnte, neue Formen finden, Grenzen erweitern oder fließen lassen?
      Kann man – konkret: Lektor/Lektorin/Lektor:in – Autor/Autorin/ Autor:in dabei zur Seite stehen? Hoffentlich. In diesem Prozess liegt kein Geheimnis, auch wenn er schwer zu fassen ist. Als subtil und tief, diffus und radikal beschreibt ihn Joan Didion in Nach Henry, einem der schönsten Texte, die je einem Lektor gewidmet wurden. Und Karl Ove Knausgård spitzt es im Essay Dorthin, wohin die Erzählung nicht kommt noch zu: »Wie würden die Bücher ohne Lektoren aussehen? In meinem Fall ist es einfach: Es gäbe keine Bücher. Ich wäre nicht Schriftsteller. Das bedeutet nicht, dass mein Lektor meine Bücher schreibt, aber seine Gedanken, sein Verständnis und seine Vorschläge sind unbedingt nötig, um sie schreiben zu können.« Beide sprechen vom enormen Vorschuss an Vertrauen, das ihnen entgegengebracht wurde.


Es ist die Basis der Zusammenarbeit und entsteht lange vor dem Schritt, in dem es um Satzbau, Verschlankungen, Ergänzungen geht. Sogar vor der Frage von Horizont und Erfahrung. Es gibt viele Erzählungen aus der schreibenden Zunft, die belegen, dass man oft Jahre, Jahrzehnte warten muss, bis man sich seinen eigenen Vorstellungen gewachsen fühlt. (Für Übersetzungen gilt Vergleichbares.) »Was haben Sie in dieser Zeit getan?«, ist die naheliegende Frage. »Gelesen!«, die naheliegende Antwort, am besten Werke aus verschiedenen Epochen, Ländern, Sprachen, Gattungen. Wie unterschiedlich Menschen in Büchern miteinander reden, allein das füllt Abende (»Dialoge« ist ein recht schmaler Begriff). So hilfreich es sein kann, ein Manuskript zu durchdenken, Vorschläge zur Gewichtung, Schärfung zu machen, das Entscheidende für Didion bleibt, »dem Autor jene Vorstellung von sich selbst« zu geben, »die ihn befähigt, sich alleine hinzusetzen und es zu schaffen«.
      Bloße Euphorie reicht nicht, es ist ernsthafter. Grundlage ist der große, auch durch Rückschläge (Misserfolge?) nicht zu erschütternde Respekt vor Autor:innen, ohne den man seine Arbeit nicht machen kann. Er drückt sich in Großzügigkeit aus, Genauigkeit und Aufrichtigkeit. Wird die Kraft reichen, der Wille, das Durchhaltevermögen? Dies ist, meiner Erfahrung nach, unabhängig von der Anzahl der Vorschläge, die auf dem Tisch liegen, auch unabhängig davon, ob großräumig umgeschrieben werden sollte oder nur an einzelnen Passagen gefeilt. Glaubt man noch an sein Vorhaben? Das ist entscheidend. Spürt man den Funken noch? Wenn nicht, hört man besser auf, mit diesem Manuskript, im Extremfall auch mit dem ganzen Schreiben. Ein Scheitern ist es nur eingeschränkt. Im großen Feld der Kunst ist das Gelingen – im Sinn einer Zufriedenheit mit sich oder dem Erreichten – die Ausnahme. Gerade bei den Größten.
      Es mag einschüchternd sein, wenn man einen Riesen hinter sich marschieren hört (so Brahms über Beethoven), aber auch tröstlich. In Briefen und Tagebüchern lässt sich nachlesen, wie sehr diejenigen kämpfen mussten – um Worte, Form, Anerkennung –, die heute aus der Literaturgeschichte und den Spielplänen der Theater nicht wegzudenken sind. »Die Hölle gab mir meine halben Talente«, schrieb Kleist am 5. Oktober 1803 an Ulrike, »der Himmel schenkt dem Menschen ein ganzes, oder gar keins.« Was ihm vorschwebte, was seine Kräfte überstieg, wusste nur er. Wir aber wissen, was er zu Ende brachte und wie viel heute noch von seinen Werken ausgeht.

Vor kurzem sagte mir ein Autor, dessen Name rund um die Verleihung des Nobelpreises verlässlich auftaucht, dieses Mal sei sein Roman so geworden, wie er ihn sich vorgestellt habe. Und die anderen? Bei allen noch ein Rest offen? Gut, könnte man sagen, nicht alles erreicht, aber doch beim Siegertreppchen, schon zu Lebzeiten. Was aber könnte man Autoren entgegenhalten, die sich als gescheitert empfanden, weil sie den Druck ihrer Werke nicht mehr erlebten? Heute fragen wir kopfschüttelnd: Wie konnte man, um nur zwei Beispiele zu nennen, den Rang von Lampedusas Der Leopard und Wassili Grossmans Leben und Schicksal nicht erkennen?
      Die Zeit? Die Zeit. Das Publikum ist mal aufgeschlossen, mal unwillig, folgt dem Autor ins unwegsame Gelände oder geht achtlos an Bahnbrechendem vorbei. Und mit ihm die Verantwortlichen in den Verlagen. Oder umgekehrt? Über die lange Strecke pendelt sich das ein. Schon über die längere. Mancher Jubel verklingt schnell. »Kein Debüt, ein Ereignis« – haben sich die Erwartungen des so angekündigten Titels erfüllt? Und würden wir alles als »meisterhaft« Bezeichnete der letzten Jahrzehnte noch immer so nennen?
      Vermutlich nicht, aber was sagt das schon. Der Markt hat sich verändert (mehr Geld, Tempo, Unruhe), reagiert auf neue Vorlieben und bringt Personen, die vieles können, darunter auch schreiben, auf die Idee, Autor:innen zu werden. Es klappt oft genug, aber nicht immer (oder lange). Kommt der Antrieb zum Schreiben (Verlegen) nicht primär von innen, setzt man ebenso auf äußere Faktoren wie Ruhm und Reichtum, stoßen wir ans Reich der Spekulation, da kann man schon mal von Flop sprechen, wenn sich Erwartungen nicht erfüllen. Es macht einen Unterschied, ob man auf ein Buch setzt oder nur damit rechnet. Entsprechend handelt man. Wo keine Überzeugung im Spiel ist, schreibt man leichter ab.
      Aber man muss doch auch leben können! Klar, und wie. Den »armen Poeten«, der, einen Regenschirm in der Hand, unter dem Dach liegt, durch das es leise tropft, zu romantisieren, wäre herzlos, fahrlässig, grausam, dumm. Da kommt das Spiel von »zwei Zeiten, zwei Rechnungen« an sein Ende, da tröstet kein ferner, heller Glanz, und sei es der des Olymps.

Olymp? Ernsthaft? Immer noch? Man sollte heimliche Träume nicht ausschließen, auch wenn wir gerade jede Menge umwerten: Zentrale Werke des Kanons verschwinden aus Programmen oder fallen in Ungnade, von Unterscheidungen wie E und U haben uns Autor:innen längst befreit, nun soll auch das Sprechen über Literatur ohne Hierarchien und Gatekeeper auskommen. Immer mehr Grenzen werden durchlässig, neue Ordnungen entstehen. Alles gut, das hält den Kopf lebendig und wetzt den Verstand. Doch wenn viel durcheinandergewirbelt wird, tut man sich leichter, wenn man weiß, wohin man gehören möchte. Auch wilde, freie Köpfe haben sich Vorbilder gesucht, von denen sie sich etwas abschauten (der Autor als Dieb), Haltung inklusive: Épater le bourgeois oder die ruhigere Gangart? Das grelle Licht der Scheinwerfer oder eher die Hinterbühne? Davon nicht ganz unabhängig ist, wie man seinen Erfolg bemisst, welchen Zeitraum man ihm zugesteht und ob die Strahlkraft eines Werks dazu zählt (sie korreliert nicht unbedingt mit Verkaufszahlen). Eines vielleicht noch: Ist der Erfolg groß, so richtig groß, muss er nicht leichter zu verkraften sein als das Gefühl, übersehen zu werden. Doch das wäre schon ein nächstes Kapitel.
      Zum Schluss noch ein Beispiel, über das sich nachzudenken lohnt. 1964 begann Henri-Georges Clouzot mit den Dreharbeiten zu seinem Film Die Hölle. Die Handlung ist schnell erzählt: Ein Mann lebt mit seiner Frau in einem kleinen Hotel, erst wird er eifersüchtig, dann besessen, schließlich sieht er nur einen Ausweg: sie zu töten. Doch nicht um die Geschichte sollte es gehen, sondern um die Bilder und Töne des aufsteigenden Wahns, um die Verzerrung der Welt. Clouzot orientierte sich an Stockhausen und Pierre Boulez, an Victor Vasarely und der Kinetischen Kunst, und er verfügte über unbegrenzte Mittel, die allein für seine künstlerische Freiheit gedacht waren. Drei Crews waren am Set, die besten, und die Darsteller Stars. Alle wussten, dass sie auf der Titanic waren, sagt Serge Bromberg, der das Projekt rekonstruierte, und wussten, sie würden untergehen. Nach zweieinhalb Wochen war es so weit: Clouzot erlitt einen Herzinfarkt, er überlebte, drehte weiterhin, aber mit der Hölle war es vorbei. Wo die Filmbüchsen (185!) lagen, blieb für Jahrzehnte ein Geheimnis. Gescheitert? Eindeutig. Was war zu gewaltig: die Idee, die Mittel, die Möglichkeiten? Und doch – jetzt sind die Aufnahmen wieder da, man sieht das kühne Denken, die überwältigenden, magischen Bilder, ahnt, was daraus hätte werden können, gibt allen recht, die von Mythos sprechen, und kann nicht anders, als zu sagen: Am Ende hat er es doch geschafft.

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Dieser Text entstand exklusiv für die NEUE RUNDSCHAU 2025/2

 

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Angelika Klammer
© Aleksandra Pawloff

Angelika Klammer

Angelika Klammer, geboren 1960 in Villach, studierte Philosophie, Germanistik sowie Hispanistik und promovierte mit einer Arbeit über Baltasar Gracián. Sie war verantwortliche Lektorin des Jung und Jung Verlags (bis 2010), seitdem arbeitet sie als selbstständige Lektorin in Wien. Zuletzt erschienen: Herta Müller: »Mein Vaterland war ein Apfelkern. Ein Gespräch.« Herausgegeben von Angelika Klammer. Hanser 2014; Clemens J. Setz: »BOT. Gespräch ohne Autor.« Herausgegeben von Angelika Klammer. Suhrkamp 2018.