»Du bist das Problem, das ich mir wünsche« Gavric / Renger

Teil 1: Ich hab ein Problem mit dir

1. Der Aufbruch: Ein Satz, der alles verändert

Je wichtiger Harmonie für dich ist, desto mehr zuckst du wahrscheinlich zusammen, wenn du den Satz »Ich hab ein Problem mit dir« hörst. Weil du genau weißt: Jetzt wird’s ungemütlich.Gerade noch war alles in bester Ordnung, und plötzlich sollst du die Hauptrolle in einem Konflikt übernehmen. Eine Zumutung!

Ist aber überhaupt ein Leben denkbar, in dem niemand jemals ein Problem mit dir hat? Oder du mit anderen? Vielleicht gibt es wirklich Menschen, die das von sich behaupten würden. Falls du dazugehörst, stellen sich zwei Fragen: Wie sicher bist du, dass es sich nicht um Verdrängung handelt? Und wie kam es dazu, dass du gerade dieses Buch in der Hand hältst? Wer tatsächlich die unausweichliche Zumutung zwischenmenschlicher Probleme konsequent ausblenden und jeden Konflikt radikal totschweigenwill, kann dieses Buch eigentlich nach dem nächsten Satz zuklappen, aber den wollen wir dir unbedingt noch mitgeben: Wir haben ein Problem mit dir. Ha!

Wenn du weiterliest, herzlich willkommen an der Grenze zwischen Komfort- und Problemzone. Wir erkunden jetzt zusammen, welche Chancen für uns und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen in Konflikten stecken, und starten mit diesem Satz – »Ich hab ein Problem mit dir«. Auf den zweiten Blick ist er nämlich gar nicht so eine immense Zumutung, sondern vor allem ein Anfang. Er ist offen, direkt und eine Einladung zur gemeinsamen Lösung. Eine ehrliche Variante von »Wir müssen reden«. Ja? Müssen wir das? Da fängt’s ja schon mit einem Machtgefälle an: Einer verkündet die Pflicht zum Gespräch, der andere muss folgen, und der Ton hat, bitte schön, ernst zu sein. Wer »Wir müssen reden« sagt, hat in der Regel bereits allein alle Entscheidungen getroffen und stellt das Gegenüber nun vor vollendete Tatsachen. Trennung. Kündigung. Enterbung.

Nein, wir müssen nicht reden, wir haben nur ein Problem miteinander. Vielleicht wollen wir also reden. Vorausgesetzt, wir halten das Dilemma aus, das jedem unangenehmen Gespräch zugrunde liegt. Einerseits zwar ehrlich ansprechen und ändern zu wollen, was uns stört, andererseits aber weiterhin gemocht zu werden. Das ist doch das Grundbedürfnis, das unserer Ehrlichkeit oft im Weg steht und uns Angst machen kann, wenn wir es bedroht sehen. Deshalb wollen wir lieber niemandem auf den Schlips treten, keine Ablehnung riskieren, das Problem mit uns selbst ausmachen und es in schlimmen Fällen sogar runterschlucken. Wodurch es garantiert noch schlimmer wird.

Wenn du zwischenmenschliche Probleme lieber runterschluckst, um Konfrontationen zu meiden, ist das, als würdest du rohen Hefeteig essen, weil du so ungern nach der Backform fragst. Die geschluckten Probleme fangen an, in dir zu gären und dich aufzublähen, bis sie irgendwann unkontrolliert aus dir herausplatzen. Oft in völlig unpassenden Momenten und auf eine Weise, die dir spätestens hinterher selbst unangenehm ist. Aber du kannst gar nichts dagegen tun, weil der Druck langfristig zu groß wird.

Nein, wir haben für diesen Vergleich nicht mit dem Verzehr von rohem Hefeteig experimentiert, aber das Bild passt einfach auf mehreren Ebenen. Wenn du dich öffnest und deine Pro­bleme mit der betreffenden Person ansprichst, kann die gemeinsame Rechnung aufgehen wie der metaphorische Teig. Er darf sich dort entfalten, wo er keine Bauchschmerzen verursacht, sondern die nötige Luft bekommt, um sich in etwas zu verwandeln, wovon alle Beteiligten profitieren: Dann backst du zusam-men mit deinem Gegenüber frisches Brot. Und wenn du es lieber sein lässt, ist der Ofen irgendwann aus.

 

Notausgänge im Tunnel

Wir haben lange und gründlich darüber nachgedacht, wie wir mit diesem Buch realistisch anwendbare Tipps anbieten können, um Probleme auf eine bereichernde Weise anzugehen. Erprobte Tipps, die auch für andere Menschen funktionieren, nicht nur für uns selbst. Falls du übrigens daran zweifelst, ob bei uns wirklich nie die Fetzen fliegen und ob wir wirklich all unsere Konflikte immer humorvoll lösen, hast du leider recht. Wir hatten erst kürzlich einen Streit, bei dem Iris’ Bruder Zeuge wurde und sich irgendwann mit den Worten einschaltete: »Ey, habt ihr nicht einen Bestseller über Shitmoves geschrieben, wie man den anderen Menschen für sich gewinnen soll oder so?« Natürlich scheitern wir auch manchmal an diesem Anspruch. Das ist aber auch unbedingt notwendig für unsere Arbeit. Um davon zu erzählen, wie man’s macht, muss man auch mal erlebt haben, wie man’s besser nicht macht. Wie sollten wir sonst wissen, wovon wir reden? Das war dann übrigens auch unsere Antwort an Iris’ Bruder.

Bei allem Humor meinen wir es allerdings sehr ernst mit dem Ziel, das wir uns mit diesem Buch setzen. Es geht nicht um eine Anleitung für den idealen Streit, der jedes Mal gelingen muss. Sondern um die innere Haltung zu Konflikten, mit der wir spielerisch zueinanderfinden. Perspektivwechsel statt Perfektion. Wenn wir dafür nun alle denkbaren Probleme kategorisieren würden, die man in der Partnerschaft, im Job, in Freundschaften, in der Familie oder mit Fremden haben kann, würden wir nie fertig. Das Ergebnis wäre eine Problem-Enzyklopädie von zigtausend Seiten, die immer unvollständig und durch ihren Umfang unbrauchbar bliebe. Auch von der Idee, alle problematischen Eigenschaften zu kategorisieren, die Menschen haben können, haben wir uns nach einigen Anläufen verabschiedet. Denn die Ein-teilung in bestimmte Typen verführt häufig dazu, horoskopischüber sich und andere zu denken: »Tja, mein Chef ist der Typ Wütender Bulle, aber das passt gut, ich bin ja der Typ Sensibler Tintenfisch. Ich mach mich dann immer rechtzeitig unsichtbar, bevor er ausrastet. Das findet nur meine Frau nicht gut, die braucht immer Reibung mit mir. Sie ist nämlich der Typ Konfliktgeiles Känguru

Typen-­Modelle können unterhaltsam sein und das Gefühl vermitteln, dass man sich selbst und andere Menschen genau darin wiedererkennt. Aber wir wollen etwas anbieten, das tiefer geht und mehr praktischen Nutzen verspricht. Wir wollen dich an den Schlüsselmomenten teilhaben lassen, die unseren Umgang mit Konflikten grundlegend verändert haben. Denn neben all den individuell verschiedenen Temperamenten und den zigtausend möglichen Anlässen für Probleme ist so ein eskalierender Streitdoch eine ziemlich universelle Erfahrung. Wir kennen alle dieses Tunnelgefühl, wenn jedes Wort, jede Geste nur noch mehr Missverständnisse und noch heftigere Emotionen auslöst. Wenn es scheinbar kein Anhalten und Umkehren mehr gibt, keinen Blick mehr nach links und rechts. Nur noch diese Beschleunigung nach vorne, immer weiter rein in den endlosen Tunnel. Bis entweder der Treibstoff alle ist und wir erschöpft abbrechen müssen oder Unfälle passieren, die bleibende Schäden und Narben an der Beziehung hinterlassen können.

Was wir entdeckt haben und weitergeben wollen, kannst du dir wie Notausgänge aus diesem Tunnel vorstellen. Kreative Streithacks, die uns aus einer vermeintlich ausweglosen Dynamik befreien können. Falls du gerade akut so etwas brauchst, spring zu Teil 4, da findest du die Techniken und kannst sie direkt im nächsten Streit ausprobieren. Vermutlich wirst du damit aber noch mehr anfangen können, wenn du weißt, wie und warum wir sie überhaupt entdeckt und mit der Zeit verfeinert haben.

Am Anfang dieser Geschichte steht eben dieser Satz, der alles verändert hat. »Ich hab ein Problem mit dir.« So wurden wir mal in einer Berliner Shopping Mall zur gleichen Zeit auf verschiedenen Etagen angesprochen. Wir waren in der Vorweihnachtszeit getrennt unterwegs auf Geschenkesuche. Matthias ging gerade in einem Geschäft zwischen zwei Regalen in die Hocke, um ein Brotmesser auszusuchen, da flüsterte ihm ein Mann, der sich unbemerkt von hinten genähert hatte, diesen Satz in den Nacken. In Sekundenbruchteilen schossen Matthias irrationale Erklärungen durch den Kopf. »Der Ladendetektiv! Der denkt, ich will klauen. Nein, mich will jemand beklauen. Ausrauben! In der Küchenabteilung. Oder ist das ein alter Feind, der mich verprügeln will? Hab ich denn alte Feinde? Vielleicht ist es ja auch eine Verwechslung?« Währenddessen stand Iris eine Etage drüber in der Schlange beim Foodcourt. Sie freute sich auf Pommes und beobachtete gedankenverloren die Leute um sich herum, als auch sie mit dem Satz »Ich hab ein Problem mit dir!« überrascht wurde – gerufen von zwei jungen Frauen, die an der Schlange vorbeigingen und sie mit diesem Frontalangriff aus ihren Tagträumen rissen.

Falls du jetzt denkst: »Na klar, dit is’ Berlin! Da pöbeln sich dieMenschen halt so an«, dann ist das im Allgemeinen vielleicht gar nicht so abwegig, aber bei unseren Begegnungen steckte etwas anderes dahinter. Es waren tatsächlich alte Feinde, die uns verprügeln wollten. Scherz! Es waren Menschen, die unseren Content auf Instagram oder TikTok gesehen hatten, insbesondere ein Format, das wir ASMR-Streit nennen. Denn das beginnt immer mit dem Satz »Ich hab ein Problem mit dir«, den Iris zu Matthias sagt oder andersrum.

 

Probleme sind Material 

Die ASMR-Streit-Videos haben stark dazu beigetragen, dass wir unser Themenfeld und unsere Tonalität als Creator finden und zu einer Art Marke machen konnten. Die eher ungewohnte Kombination aus tiefen Inhalten und Comedy entstand während der Corona­-Lockdowns. Plötzlich waren viele Paare gezwungen, sich auf engem Raum neu kennenzulernen. Eine Zerreißprobe für Beziehungen und sicher auch für die Nerven so mancher Nachbarn, die sich gewünscht hätten, dass flüsterndes Streiten allgemeine Pflicht wäre. Denn das ist schon die Idee des ASMR-Streits:

Tock-tock. Iris tippt mit ihrer Fingerspitze testend auf den Metallkopf eines absurd winzigen Mikrophons. Soundcheck. Dann flüstert sie »Ich hab ein Problem mit dir« und wirft Matthias vor, er lasse unerhört oft das große Küchenmesser so liegen, dass die Klinge über die Tischkante ragt und jeden Gang zur Todesfalle werden lässt. Oder dass er im Bad die Wände mit Zahnpasta bespritzt hat beim Versuch, den letzten Rest aus der Tube zu schüt-teln. Matthias kontert, dass Iris die Deckel von Wasserflaschen, Marmeladengläsern und eben auch Zahnpastatuben erstaunlich selten ordentlich zuschraubt. Es ist uns bisher noch nie gelungen, einen solchen Streit zu führen, ohne irgendwann loszulachen. Unsere Gesichter sind sich viel zu nah, der Flüsterton ist viel zu sanft für die Empörung, die wir ausdrücken wollen. Da können wir nicht ernst bleiben. Und die Menschen, die uns online zu-schauen, offenbar auch nicht. Das Lachen steckt an, und die ursprünglichen Probleme verwandeln sich in Comedy-Material.

Falls du selten Videos im Internet anschaust: ASMR steht für Autonomous Sensory Meridian Response. Manche Menschen bekommen durch leise, eindringliche Geräusche Gänsehaut oder spüren ein angenehmes Kribbeln auf der Kopfhaut. Zum Beispiel eben durch Flüstern. Dieses Phänomen ermöglicht ASMR-Influencern ganze Online-­Karrieren. Selbst Tiere können zu ASMR-Stars werden – allein ein Video einer Obst schmatzenden Schildkröte wurde über 300 Millionen Mal auf YouTube angeschaut. Übrigens: Diesen Clip und alle weiteren, die dir noch in diesem Buch begegnen werden, findest du mit Link und QR-Code im Quellenverzeichnis. Nicht jeder Mensch ist empfänglich für ASMR, aber auf viele wirkt diese Art von Content augenblicklich seltsam entspannend und stimulierend. Auf Iris zum Beispiel. Dadurch kam sie auf den ASMR­-Streit, ihr gefiel dieser komische Widerspruch zwischen Tiefenentspannung und Vorwurf. Zwischen Flüstern und Streiten. Anfangs war uns gar nicht klar, was aus dem Experiment alles entstehen würde.

Und wenn wir unsere leisen Auseinandersetzungen nicht gefilmt und hochgeladen, sondern als gelegentlichen Beziehungs-Insider für uns behalten hätten, wären wir bestimmt nicht zu den Erkenntnissen gelangt, die wir heute festhalten und weitergeben – vielleicht ja doch, nur auf anderen Wegen oder deutlich langsamer, wer weiß das schon? Wir haben aber einen Indizienbeweis für die Überzeugung, dass die Videos den Prozess zumindest beschleunigt haben. Nämlich den Austausch mit den Menschen, die sie sich anschauen und uns Feedback geben. Einige haben eigene ASMR-Streit-Videos erstellt, andere ließen uns in Kommentaren oder Privatnachrichten an ihren Erfahrungen und Gedanken teilhaben. Zum Beispiel kamen diese Rückmeldungen:

»Seit wir eure Reels sehen, ist unsere Streitkultur eine ganz andere, eigentlich gar nicht mehr vorhanden. Wenn wir jetzt ein Problem haben, sagt einer von beiden: ›Ich hab ein Problem mit dir‹ – beide müssen lachen, und alles ist direkt halb so wild.«

»›Ich hab ein Problem mit dir‹ ist bei uns ein Running Gag geworden. Danke dafür!«

»Wir haben uns das flüsternde Streiten tatsächlich angewöhnt. Seitdem eskaliert es viel weniger.«

Erst durch den Blick von außen wurde uns so richtig klar, warum dieser Satz alles verändern kann. Weil er eine humorvolle Perspektive auf das Problem eröffnet und dabei nicht sofort nach einer Lösung verlangt. Und weil er in seiner Unvollständigkeit ehrlich ist: Er fordert heraus, ohne schon Vorwürfe zu machen. Damit bleibt er zugänglich für verschiedene Typen von Konfliktbewältigung. In unserem Fall bedeutet das zum Beispiel: Iris neigt in ihrer Sprache zu einer entwaffnenden Direktheit, während Matthias viel Wert auf sprachliche Genauigkeit legt. Dieser Satz kann beides! Die größte Veränderung, die er bei uns bewirkt hat, ist, dass wir durch die Inszenierungen unserer Probleme nicht mehr gegeneinander kämpfen, sondern miteinander kreieren. Mittlerweile freuen wir uns sogar, wenn wir wieder mal Stoff für ein neues Video finden.

 

Wir zusammen gegen das Problem!

Kleine Macken können in Beziehungen eine verdammt tragische Entwicklung durchmachen: Anfangs ist dieses zarte Schlürfen beim Kaffeetrinken noch eine liebenswerte Eigenheit, dann fängt es ganz langsam an, doch manchmal ein bisschen zu nerven, und irgendwann musst du dich aktiv dagegenstemmen, dass du das Frühstück schon als erste Provokation des Tages empfindest. Die Eigentümlichkeiten anderer sind oft wie ein kratzendes Etikett im Pullover, das du irgendwann nicht mehr ignorieren kannst. In manchen Fällen kratzt auch einfach der ganze Pulli, dann solltest du ihn vielleicht besser früher als später ausziehen. Auch das kann natürlich eine Konsequenz daraus sein, Probleme als Material zu begreifen.

Wenn der Pulli aber eigentlich aus dem richtigen Stoff ist, kannst du diese Tragödie der kleinen Macken tatsächlich aufhalten und sogar in den ersten Akt zurücksetzen. Denn mit der Haltung einer ständigen Materialsuche bleibst du verspielt und immer bereit zum humorvollen Umgang mit dem Problem. Das mag nach einem großen Versprechen durch eine kleine Veränderung klingen, aber der Effekt ist tatsächlich kaum zu überschätzen. Humor verändert alles.

 

Erscheint am 24.09.2025

© 2025 Iris Gavric und Matthias Renger

© 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

Über das Autoren-Duo

Autorenbild Iris Gavric und Matthias Renger
© www.arouse.de

Iris Gavric und Matthias Renger betreiben zusammen den Erfolgs-Podcast »Couple Of« und haben eine gemeinsame Kreativagentur. Wenn sie nicht gerade entspannt streiten, nehmen sie TikToks auf – manchmal machen sie auch beides. Wöchentlich bringen sie Hunderttausende zum Lachen und Nachdenken. Auf TikTok sind sie unter @matthiasrenger und @irisgavric zu finden. Die beiden leben zusammen in Berlin.

 

 

Bestseller von Iris Gavric und Matthias Renger