Leseprobe »Die Einsamkeit von Sonia and Sunny« von Kiran Desai

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»Die Einsamkeit von Sonia and Sunny« von Kiran Desai

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Ein Gespräch mit Kiran Desai über »Die Einsamkeit von Sonia und Sunny«


Als Ihnen 2006 den Booker Preis für Ihren letzten Roman »Erbin des verlorenen Landes« (Inheritance of Loss) verliehen wurde, arbeiteten Sie bereits an einem neuen Projekt, das damals schon den Titel »Die Einsamkeit von Sonia und Sunny« trug. Auf der Frankfurter Buchmesse wurde 2006 Indien als Gastland gefeiert, die »Erbin des verlorenen Landes« stand ganz im Focus, und es war im Herbst eines der Lieblingsbücher der Buchhändler*innen. Viele bedrängten Sie nach einen neuen Buch. Hätten Sie damals geglaubt, dass Sie zwanzig Jahre daran arbeiten würden?

Kiran Desai: Nein. Und ich habe auch nicht gemerkt, wie die Jahre vergehen. Ich habe einfach genau so gearbeitet wie die Künstlerfiguren in meinem Buch – wie eine Ameise, wie ein Regenwurm: Ich habe kleine Bröckchen aus dem wirklichen Leben in die Welt meines Romans übertragen. Der Titel war mein Leitstern. Er hat mir dabei geholfen, die vielen Tausend Seiten, die ich geschrieben hatte, zu einer Geschichte über zwei Menschen zu machen, deren Liebe unter einem schlechten Stern steht.

Ihre Liebe ist wie eine Saite zwischen die Widersprüche unserer Zeit gespannt, hochsensibel und hochkompliziert. Wenn Sie nun nach der ganzen Arbeit aus der Welt Ihres Buches heraustreten, das an so vielen Orten spielt und dem Leser die Gesellschaft so vieler Charaktere bietet: Haben Sie da das Gefühl, dass Sie das Buch verlassen oder verlässt Sie das Buch?

Kiran Desai: Ich glaube, irgendwann mussten wir einfach getrennte Wege gehen. Aber ich frage mich, wie es als Autorin wohl wäre, einfach weiter zu machen, immer weiter, nach der Art von Proust. 

Sie sind eine der entschiedensten Autorinnen, die ich kenne: Als sie merkten, dass das Manuskript auf über 5000 Seiten angewachsen war, planten Sie keine Romanserie, sondern griffen zur Schere.

Kiran Desai: Viele von den 5000 Seiten enthielten Varianten von Szenen oder ähnliche Episoden und Reisen, die alle auf eine bestimmte Gefühlslandschaft hinaus wollten. Ich habe aber auch ein paar Kapitel gestrichen, die mir lieb waren. Zum Beispiel eine tiefergehende Erkundung von Satyas und Pujas Landleben in den USA. Und die Geschichte von Sonias deutschem Großvater.

Während die meisten Verlage geduldig auf Sie warteten, hatte Sie die Unterstützung einer leidenschaftliche Leserin.

Kiran Desai: All die Jahre hatte ich meine geliebte und erfahrene Mutter Anita Desai an meiner Seite. Sie kennt die Landschaft und die Menschen, über die ich schreiben wollte, und hat manchmal schon geahnt, was ich sagen wollte, bevor es für mir klar geworden war. Für mich war lange alles ganz wolkig. Da waren aber auch meine Lektoren, die frühe Fassungen gelesen haben, Robin Desser und David Ebershoff. Und Sie, Hans, sind der erste fremdsprachige Lektor, dem ich mein Buch geschickt habe.

Ihre Sprache ist so melodiös und rhythmisch – haben Sie während dem Schreiben Musik gehört? Oder war die Musik immer in Ihrem Kopf?

Kiran Desai: In den ersten Jahren habe ich Musik gehört. Dann habe ich in der Stille gearbeitet. Vielleicht habe ich die Klugheit der Musik genutzt – Räume, wie Musik sie öffnet, oder ihre Art zu denken. Und diese Musik und die mystische Poesie der Texte – von Nusrat Fateh Ali Khan, Abida Parveen, Iqbal Bano oder Kabir – ist schon eingebettet in das Thema des Romans. Für uns in Indien, in Südasien, bedeutet diese Musik so viel als Flucht aus den starren Strukturen von Religion und Kastenwesen, vor den blutigen Grenzen, die uns trennen. Auch die Suiten für Violoncello von Bach habe ich gehört, Chopin, gespielt von Claudio Arrau. Eine der Figuren meines Romans hört Arvo Pärt. Diese musikalischen Elemente verdanke ich meinem Vater, der auf seinem Dach in Delhi in der Abenddämmerung Musik hörte.
Und dann habe ich irgendwann meinen Roman gelesen, immer wieder, um den Rhythmus des Ganzen zu erfassen. Um das Motiv des Raums, der Verwandlung, der Flüchtigkeit ganz sicher zu fassen zu bekommen.

Der sinnliche Reichtum und die dicht gewebte Textur der Geschichte mit ihren zahlreichen Nebenhandlungen deutet auf die Kunst des Romans des 19. Jahrhunderts. Aber der Text hat nichts Nostalgisches, sondern etwas unerhört Gegenwärtiges. Ihr Schreib-Kokon musste einige Fenster auf den sich beschleunigenden Lauf der Welt gehabt haben.

Kiran Desai: Haha, ich habe während des Schreibprozesses »Middlemarch« von George Eliot und Thomas Manns »Buddenbrooks« gelesen. Aber natürlich sickert die Politik unserer Zeit in den Roman ein, und es wäre ein Wahnsinn, wenn nicht auch die Politik tief im Sediment allen Lebens, aller Geschichten verankert wäre. Die Großeltern in meinem Buch sind im britischen Indien geboren, haben die Teilung erlebt, die entschlossene Säkularisierung, ihr Leben den neuen Idealen angepasst, und mussten dann sehen, wie diese Vorstellungen vom weltweiten Aufschwung des Nationalismus wieder geschwächt wurden. Das sind Figuren, die sich im Lauf ihres Lebens erst an Großbritannien und Europa orientiert haben, dann an der Sowjetunion, später an den USA. Aber die Politik wird immer aus der privaten Perspektive betrachtet, es ist Politik um der Kunst Willen, nicht anders herum.

Das Buch ist zugleich indisch wie kosmopolitisch, seine Landkarte ist weitgespannt: von Allahabad nach Vermont, von Delhi nach New York, und es gibt eine Verbindung, die nach Berlin führt. Im Roman ist diese Geschichte fiktiv, aber sie deutet auf eine überraschend enge Beziehung Ihrer Familie zu Berlin.

Kiran Desai: Ja, da gibt es diese Beziehung. Ich hatte schon viele Seiten darüber geschrieben, aber musste sie herausnehmen. Die Geschichte ist zu außergewöhnlich, um im Roman nur eine Nebenhandlung abzugeben.
Meine Großmutter mütterlicherseits, meine »Oma«, stammte aus Deutschland. In den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts haben indische Familien, die gegen die Briten waren, als Freiheitskämpfer, ihre Kinder manchmal zum Studium nach Deutschland geschickt und nicht, wie üblich, nach England. Mein Großvater stammte aus einer Familie von Landbesitzern im heutigen Bangladesch – einer Gegend wie der von Rabindranath Tagore, Landgüter in der weiten Flusslandschaft Bengalens. Er ist in den Zwanzigerjahren nach Berlin gegangen, hat in Charlottenburg an der Technischen Hochschule studiert und die Tochter eines deutschen Zeitungsredakteurs geheiratet. Sie hat sich mit ihrem Goethe und Schiller und ihrem Meissner Porzellan nach Indien eingeschifft. Dann brach in Europa der Krieg aus. Indische Soldaten kämpften mit den Briten gegen Deutschland, und gleichzeitig kämpfte man in Indien gegen die Briten um die Unabhängigkeit. Indien erlebte die Gewalt der Teilung und das Ende der Herrschaft der Briten. Eine Welt aus Widersprüchen, und mittendrin eine Liebesgeschichte wie die meiner Großeltern. 
Nach vielen Jahren hat meine Mutter das Kolbe Museum in Berlin besucht; dort stehen eine Büste und ein Torso meines Großvaters von Georg Kolbe. Er hatte meine Großeltern einander vorgestellt: Er hatte meinen Großvater auf der Straße gesehen und gefragt, ob er ihm Modell stehen würde. Das Kolbe Museum hat meiner Familie einen Abguss der Büste geschickt. Sie steht bei meiner Tante in ihrem Haus im Vorgebirge des Himalaya, All diese Geschichten sind tief in die Gedanken eingegangen, die hinter der »Einsamkeit von Sonia und Sunny« stehen. Und die Bronze-Büste hat einen kurzen Auftritt.

Das Interview führte Hans Jürgen Balmes