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Zum 100. Geburtstag von Sophie Scholl

Am 9. Mai 1921 hätte Sophie Scholl ihren 100. Geburtstag gefeiert. Doch viel zu früh – im Alter von 21 Jahren – wurde sie aufgrund ihres Engagements in der Widerstandsgruppe »Die Weiße Rose« zum Tode verurteilt und hingerichtet. Wir gedenken ihrer mit einem Brief, den sie im Mai 1940 an Fritz Hartnagel schrieb.

Ulm, den 16. 5. 1940.

Mein lieber Fritz!

Heute vor einer Woche wurde ich neunzehn. Weißt Du es noch, wie wir diesen Tag beschlossen haben? Was hat sich inzwischen bei Dir ereignet? Es ging alles so sehr schnell. Auch Dein Abschied auf dem Bahnhof.

Ich warte nun sehr auf eine Nachricht von Dir. Gelt, Du schreibst mir, sobald Du die Zeit und Erlaubnis dazu hast. Denn nun, da alles so ungewiß ist, ist eine Nachricht noch vielmehr vonnöten. Hans und Hanspeter sind auch versetzt worden und wir wissen noch nichts von ihnen. Auch hier spüren wir etwas vom Krieg, denn kaum eine Minute bleibt das Ohr verschont von dem Geräusch der Flugzeuge.

An Pfingsten jedoch war es ganz herrlich, und es ist wunderbar, daß nichts die Natur aus ihrem Gange bringt. Wie wir so im Grase lagen, über uns die so lichtgrünen Buchenzweige vor dem mit weißen Spinnweben überzogenen Himmel, da konnte Krieg und Sorge kaum mehr Platz finden neben dieser Schönheit. Am Bach war die Wiese ganz rot durchdrungen von Lichtnelken, und es gab herrlich große u. saftige Dotterblumen. Aber auch sonst noch hunderterlei Blüten u. Kräuter wuchsen in Wiese und Wald. Auf dem Baum über uns pfiff ein Vogel, und ein andrer antwortete aus dem Wald mit derselben goldigen Melodie. Ich hatte ja eine Mundharmonika zum Geburtstage gekriegt, und beim Wandern konnten wir spielen und singen.

Noch was Nettes muß ich Dir erzählen: In der Brombeerhecke im Garten (sie ist leider erfroren und hat kein einziges Blatt) hat ein Vögelchen genistet und brütet über 4 gelbweißen Eilein. Ich bin froh, daß die Hecke recht stachlig ist, denn sonst würden’s die Lehrbuben vom Schreiner  daneben doch nicht in Ruhe lassen.

Klaus und Peter gingen in den freien Tagen oft mit mir fort. Klaus ist arg anhänglich geworden und heult herzzerbrechend, wenn er mit dem Kindermädchen statt mit mir ada muß. Gestern abend kam er wieder weinend im Schlafanzügle rauf u. sagte: »Mutti net da is.« Und wie ich ihn wieder ins Bettle gelegt hatte, sagte er ganz zufrieden: »Gell, Du viel dableibe.«

Deine Narzissen sind jetzt verblüht. Ich hatte sie so gerne und mochte sie gar nicht wegwerfen. Eine habe ich gepreßt. Hast Du in Holland schon schöne Blumen gesehen. Denn es ist doch das Gartenland. Hoffentlich sind die Unschuldigen nicht alle zerstört worden. Wie geht es Dir, sitzt Du an der Grenze? Nicht wahr, Du schreibst mir bald.

Es ist schade, daß wir Dein Geburtstagsgeschenk nicht zusammen  ansehen können. Es ist sehr schön und viel zu viel für mich. Überhaupt hätte ich Dir zu erzählen und zu sagen gehabt, was ich Dir alles nicht schreiben kann. Denn unsre Gedanken sind so verschieden, daß ich mich manchmal frage, ob dies denn so nebensächlich ist, was doch eigentlich eine Grundlage für Gemeinschaft sein sollte. Aber dies alles soll nun weggeschoben sein. Denn nun, da Du und ich nicht der Freundschaft und der Kameradschaft bedürfen, sondern der Liebe, nun ist es wirklich Nebensache. Wir wollen uns so halten, bis wieder Zeiten kommen, wo wir wieder allein stehen können.

Denk auch manchmal an etwas anderes als nur an Deine Arbeit. Kommst Du manchmal noch zum Lesen? Ich wünsche Dir sehr, daß Du diesen Krieg und diese Zeit überstehst, ohne ihr Geschöpf zu werden. Wir haben alle unsre Maßstäbe in uns selbst, nur werden sie zu wenig gesucht. Vielleicht auch, weil es die härtesten Maßstäbe sind.

Denke manchmal an mich, aber träume nicht von mir. Ich bin in Gedanken viel bei Dir mit guten Wünschen und mit Liebe

Deine Sofie.

 

Fritz Hartnagel war es kurz vor Beginn des Frankreichfeldzuges gelungen, noch einmal für einen einzigen Tag Urlaub zu bekommen. So konnte er Sophie Scholls 19. Geburtstag am 9. Mai mit ihr in Ulm feiern. Hans Scholl hatte sein Studium unterbrechen müssen und war im März 1940 zur Wehrmacht einberufen worden. Auch sein Freund Hanspeter Nägele musste Kriegsdienst leisten.

Sophie Scholl, 1921 in Frochtenberg/Württemberg geboren, Studentin der Biologie und Philosophie in München, Mitglied der Widerstandsgruppe »Die Weisse Rose«. Sie wurde im Februar 1943 von den Nationalsozialisten verhaftet, zum Tode verurteilt und hingerichtet.

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